Primo Levi war von Beruf Chemiker, und bis zur Pensionierung im Jahr 1977 hat er seine Tätigkeit als Schriftsteller neben seiner Arbeit in einer Chemiefabrik ausgeübt.

Primo Levi: Wie ich nur die Energie gefunden habe, um all diese Dinge zu tun, frage ich mich, es ist mir ein Rätsel.
Giovanni Tesio: Mir auch.
Primo Levi: Und doch habe ich den gesamten Roman Die Atempause zwischen 1961 und 1962 geschrieben.
Giovanni Tesio: Schriebst du auch in der Fabrik, in den Pausen?
Primo Levi: Ich schrieb immer zu Hause, ich schrieb nach dem Abendessen, ich fand die Lust und die Kraft dafür.

Die Gespräche mit seinem Freund Giovanni Tesio sind nun unter dem Titel Ich, der ich zu Euch spreche (Secession-Verlag) als Buch erschienen. Am Heiligabend 1986 hatte Tesio Primo Levi besucht und „so etwas wie einen Riss in seinem Innern wahrgenommen“, deswegen wollte er seinen Freund mit einem Projekt aufmuntern. Es handelt sich um sehr persönliche Gespräche, die den Stoff für eine „autorisierte Biografie“ Levis liefern sollten und in den letzten Monaten vor seinem Tod stattfanden. Nach Angaben des deutschen Verlags war die Veröffentlichung der Gespräche von seiner Witwe verhindert worden.

Ein Wissenschaftler im KZ

Der Band So war Auschwitz. Zeugnisse 1945 – 1986 (Hanser-Verlag) besteht aus einer Sammlung von Berichten, Artikeln, Reden und Zeugenaussagen, die Levi von 1945 bis 1986 geschrieben hat.

In diesen Dokumenten entdecken wir eine andere Seite seines Schreibens. Primo Levi fasste das Monströse nicht nur in literarische Worte, er beschrieb es auch in wissenschaftlichen Berichten, in denen es nicht darum ging, die Moral durch die Ästhetik zu nähren. Primo Levi legte mit Zahlen und Fakten Zeugnis ab, mit detaillierten Beschreibungen der Lebensbedingungen und der Todesarten im KZ.

Der erste Text, den Primo Levi zusammen mit einem anderen Überlebenden verfasst hat, dem Arzt Leonardo De Benedetti, wurde noch im KZ geschrieben, „auf Bitten des russischen Kommandos“. Der „Bericht über die hygienisch-medizinische Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz (Auschwitz-Oberschlesien)“ war eine Keimzelle von Ist das ein Mensch?. In dem Bericht beschreiben die beiden Autoren, was sie „im Zeitraum eines Jahres“ gesehen und erlebt haben: von der Abreise vom Konzentrationslager Fossoli di Carpi (Modena) bis zur Befreiung aus Auschwitz durch die Rote Armee. Der Bericht sollte „ausschließlich die Funktionsweise der medizinischen Einrichtungen im Lager“ behandeln. Unter anderem erfassen Levi und De Benedetti eine Liste der Krankheiten, die bei den Gefangenen auftraten; minutiös schildern sie ihren Verlauf.

Nach dem bisher Gesagten würde es logisch erscheinen, dass Syndrome von Vitaminmangel – Mangel vor allem an Vitamin C und B – häufig gewesen wären. Hingegen sind uns keine Fälle von Skorbut oder Polyneuritis bekannt, wenigstens nicht in ihrer typischen und voll entwickelten Form. Das steht, so glauben wir, in Zusammenhang mit der Tatsache, dass die mittlere Lebensdauer der Häftlinge zu kurz war, als dass der Organismus klare klinische Symptome hätte entwickeln können, die einen Mangel an diesen Vitaminen anzeigen.

Die durchschnittliche Lebensdauer im KZ habe drei Monate betragen, schreibt Primo Levi in einem anderen Bericht.

In den Abgrund blicken

Zeugnis abzulegen bedeutete auch, die Grausamkeit der Vernichtungslager zu recherchieren, um darüber in Prozessen aussagen zu können. In einem Bericht für den Prozess gegen den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß schreibt Levi 1946:

Als Ergebnis meiner persönlichen Recherchen, die ich nach der Befreiung natürlich angestellt habe, bin ich in der Lage zu behaupten, dass die Schlächter des Lagerzentrums Auschwitz auch bei der Wahl der Vernichtungsart eine vorsätzliche und unfassliche Grausamkeit an den Tag gelegt haben. Das Gift, das sie in den Gaskammern einsetzten, war ein Produkt namens ‚Zyklon B’. Das Mittel wurde nicht für diese Zwecke hergestellt; es wurde als Schädlingsbekämpfungs- und Desinfektionsmittel verwendet, insbesondere um Lagerräume und Schiffsrümpfe von Ratten zu befreien. Es bestand aus Blausäure, versetzt mit Reizstoffen und Tränengas. Folglich ist zu vermuten, dass die Agonie der unglücklichen zum Tode Verurteilten unglaublich schmerzhaft gewesen sein muss.

Levi schreckte nicht vor der Wahrheit zurück, und in seinem Bericht für den Prozess gegen Adolf Eichmann, zu dem er dann allerdings  nicht eingeladen wurde, nennt er nicht nur die Namen der deutschen Firmen, die an den KZ verdienten, sondern er verweist auch auf die seelischen Abgründe:

Wir dürfen nicht der Rhetorik verfallen, wenn wir wirklich vor der Ansteckung gefeit sein wollen. Die Lager waren, außer Orte der Vernichtung und des Todes, Orte des Verderbens. Nie wurde das menschliche Gewissen so sehr vergewaltigt, gedemütigt und verzerrt wie in den Lagern. An keinem anderen Ort war diese Vorführung (…) so eklatant, der Beweis, wie anfällig jedes Gewissen ist, wie leicht es zu zerrütten und zugrunde zu richten ist. Es verwundert nicht, dass ein Philosoph, Karl Jaspers, und ein Dichter, Thomas Mann, darauf verzichteten, die Herrschaft Hitlers rational erklären zu wollen und wörtlich von ‚dämonischen Mächten’ sprachen.

Keine Heldenrhetorik

Zehn Jahre nach der Befreiung aus Auschwitz wiederholt Primo Levi im Artikel „Jahrestag“ seine Kritik an der hochtönenden Rhetorik.

Es ist eitel, den Tod der zahllosen Opfer in den Vernichtungslagern ruhmreich zu nennen. Er war nicht ruhmreich: Es war ein wehrloser und nackter Tod, würdelos und schmutzig. Sklaverei ist nicht ehrenhaft.

Ende 1959 wird in Turin die „Ausstellung über die Deportation“ eröffnet, es ist die vorletzte Etappe einer Wanderausstellung, die 1955 im norditalienischen Carpi begonnen hatte. Wegen des Besucherandrangs wurde die Ausstellung statt eine Woche fast einen Monat lang gezeigt. An den beiden Gesprächsabenden, die im Rahmen der Ausstellung veranstaltet wurden, nahmen jeweils mehr als tausend Zuhörer teil. Primo Levi sprach an beiden Abenden. Vermutlich war es sein erster öffentlicher Auftritt. Fünfzehn Jahre nach der Befreiung von Auschwitz fragt sich Primo Levi in einem Zeitungsartikel:

Haben da nicht auch wir Fehler gemacht? Wahrscheinlich ja, wir haben Fehler gemacht. Wir haben gefehlt durch Auslassung (omissione) und Delegierung (commissione). Indem wir schwiegen, haben wir gefehlt, durch Faulheit und mangelndes Vertrauen in die Macht des Wortes.

Aus Anlass der Ausstellung entstand ein öffentlicher Briefwechsel zwischen Primo Levi und der zwölfjährigen Tochter eines Anhängers von Mussolini. Die Schülerin hatte die Ausstellung mit ihrer Klasse besucht. Manche ihrer Mitschüler glaubten den Fotografien nicht, und das Mädchen wollte die Wahrheit wissen.

Ich, Tochter eines Faschisten, bin erschrocken vor dem, was, was ich gesehen habe, und ich habe zu Gott gebetet, dass mein Vater an diesem Massenmord unschuldig ist.

Primo Levi dankt der Schülerin – „denn ihr […] Brief ist das, was wir uns erhofften“ –, und er betont die Wahrheit der Bilder: „Nein Signorina, an der Wahrheit dieser Bilder kann es keinen Zweifel geben.“ Er tröstet die Signorina: „Auch ich hoffe, dass der Vater der Leserin unschuldig ist, und es ist recht wahrscheinlich, dass es so ist, weil sich in Italien die Dinge anders abgespielt haben“, und erklärt er am Ende des Briefs:

Aber die Ausstellung war nicht an die Väter gerichtet, sondern an die Kinder und Kindeskinder, um zu zeigen, welche Reserven an Grausamkeit auf dem Grund der menschlichen Seele liegen und welche Gefahren unsere Zivilisation bedrohen, heute wie gestern.

26 Jahre später wiederholt Primo Levi dieses existenzielle Gebot. Die Rede „Unserer Generation…“ hielt er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 12. November 1986:

Solange wir am Leben sind, ist es unsere Aufgabe zu sprechen, aber zu den anderen, zu denen, die noch nicht geboren waren, damit sie wissen, wie weit man gehen kann.

Primo Levi hat 42 Jahre lang den Abgrund der menschlichen Seele beschrieben, mit Gewissenhaftigkeit und Präzision. Am 11. April 1987 stürzte er im Treppenschacht seines Turiner Hauses unter ungeklärten Umständen in den Tod.

Angaben zum Buch
Primo Levi
So war Auschwitz
Zeugnisse 1945 – 1986
Mit Leonardo De Benedetti
Aus dem italienischen von Barbara Kleiner
Carl Hanser Verlag 2017 · 304 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3446254497
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

Angaben zum Buch
Primo Levi
Ich, der ich zu Euch spreche
Ein Gespräch mit Giovanni Tesio
Aus dem Italienischen von Monika Lustig
Secession Verlag 2017 · 176 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3906910062
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

 

Bildnachweis:
Beitragsbild: Von W. Chichersky (US Army), gemeinfrei via Wikimedia Commons
Buchcover: Carl Hanser Verlag, Secession Verlag
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Von Agnese Franceschini

Deutsch-italienische Journalistin und Autorin, u.a. für den WDR.

Ein Kommentar

  1. Erika Schiefer 6. April 2021 um 22:17

    Liebe Agnese Franceschini,
    wie schön, das hier Primo Levi besprochen wird, der sich durch sein Schreiben innerlich von seinen schrecklichen Strapazen in Auschwitz zu befreien versuchte. Sein Buch „Ist das ein Mensch“ möge uns immer eine Warnung sein.

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