D

er Internationale Literaturpreis ist ein Preis der Neugier – auf Stimmen, die aus anderen Lebenswelten erzählen. Am 28. Juni 2018 werden im Haus der Kulturen der Welt die sechs Titel der Shortlist vorgestellt: in klassischen Autorenlesungen, Podiumsdiskussionen, Arbeitsgesprächen und Shared Readings. Anschließend findet die Preisverleihung an das von der Jury ermittelte Team aus Autor/Autorin und Übersetzer/Übersetzerin statt.

Weitere Informationen auf www.hkw.de und im Blog www.epitext.hkw.de


I

Die Geschichte einer kurzen Ehe

Anuk Arudpragasam | Hannes Meyer

Das geringste falsche Geräusch oder die geringste falsche Bewegung konnte die feine Balance zerstören, konnte sie der Welt entreißen, die sie gefunden hatten, doch war es immer noch besser, diese Welt beim Versuch, sie zu erhalten, eventuell zu zerstören, als sie einfach so entschwinden zu lassen.

Bürgerkrieg in Sri Lanka: Zwei tamilische Teenager, die alles verloren haben, heiraten in einem Flüchtlingslager. Es handelt sich um eine arrangierte Eheschließung, dem Vater der Braut geht es darum, sie versorgt zu wissen. Die beiden Jugendlichen lassen sich darauf ein, so benommen, wie sie in dieser ständigen Ausnahmesituation ohnehin leben, sie hoffen, vielleicht ein bisschen Geborgenheit zu finden, ein bisschen Menschsein zurückzugewinnen. Doch gleich nach der ersten zaghaften Annäherung tötet die nächste Bombe das Mädchen und lässt den Jungen seelisch zerstört zurück. Die Sprache der Übersetzung von Hannes Meyer (aus dem Englischen) ist auch im Drastischen leise, sie spiegelt die Hilflosigkeit des Jungen einfühlsam wider. Was Bürgerkrieg, Flucht, Verlust, was die Alltäglichkeit des Unsäglichen mit den Menschen macht – das wurde selten so nah und erschütternd erzählt wie in diesem Roman von Anuk Arudpragasam.

Hanser Berlin, Juli 2017
In der Buchhandlung Ihres Vertrauens (oder bei Amazon, buecher.de)


II

Das Leben des Vernon Subutex, Teil 1

Virginie Despentes | Claudia Steinitz

Der fetten verschleierten Araberin, die sich vor ihm durch den Gang wälzt, würde Xavier am liebsten in den Arsch treten. Kann man überhaupt noch zweihundert Meter die Straße langgehen, ohne dass man ihre Schleier, die Hand der Fatima an jedem Rückspiegel und die Aggressivität ihrer Bälger ertragen muss? Widerliche Rasse, kein Wunder, dass niemand sie ausstehen kann! Er steht hier und kauft ein, anstatt zu arbeiten, weil Madame nicht will, dass man sie für ein Dienstmädchen hält, aber die dreckigen Faulenzer von Kanaken hängen draußen rum, ohne einen Finger krumm zu machen; haben die ein Schwein! Zusammen mit den Arbeitslosen, denen die Stütze in den Arsch geschoben wird, sitzen sie den ganzen Tag im Café, während ihre Weiber schuften. Die machen nicht nur alles im Haus, ohne zu jammern und gehen arbeiten, um ihre Kerle durchzufüttern, sie müssen sich auch noch einen Schleier umhängen, um ihre Unterwerfung zu demonstrieren. Das ist doch Psychoterror! Alles nur, damit der französische Mann merkt, dass er nichts mehr wert ist.

Der Westen ist ins Wanken geraten, und alles Nachdenken über konstruktive Auswege wankt hinterher. Da hilft manchmal nur eins: herzhaftes Abkotzen über die Gesellschaft, die den Nährboden für die Krise liefert. Die Französin Virginie Despentes seziert in diesem von spöttischem bis bitterem Humor getränkten Roman die Pariser Kulturfauna: Der Loser Vernon, auf der Straße gelandet, wirkt auf die „alten Freunde“, die er nacheinander anschnorrt, als Brennglas für ihre eigene Lebenslage. Despentes lässt ihre Figuren räsonieren, jammern, ätzen, und Claudia Steinitz gestaltet auf Deutsch die verschiedenen Tonlagen rasant und zum Gruseln glaubwürdig. Der Clou: Immer wenn die Tiraden an Houellebecq erinnern, wendet die Autorinnenfeder das Machogewinsel in satirische Kritik.

Kiepenheuer & Witsch, August 2017
In der Buchhandlung Ihres Vertrauens (oder bei Amazon, buecher.de)


III

Nach der Ewigkeit

Maxim Ossipow | Birgit Veit

Provinz heißt Heim: warm, nicht zu reinlich, dein. Doch es gibt noch eine andere Sicht, aus der Distanz, von oben herab, von vielen geteilt, die gegen ihren Willen hier gestrandet sind. Provinz, das bedeutet: Schwärze, Schlamm, Matsch; die Bewohner: arme Teufel, so ihr schmeichelhaftester Leumund. Der Schrei des Federviehs vertreibt das Böse, das in der Nacht an Macht gewonnen hat.

Nachrichten aus einem scheinbar toten Winkel der Literatur. Jede der zehn Erzählungen klinkt sich ein in nur allzu vertraute Bilder über Russland – DIE endlos-öde Zugfahrt, DAS wurschtige Achselzucken der Provinz, DIE allgegenwärtige Nähe von Melancholie und Brutalität – und dreht sie ins Überraschende. Die Tadschikin Roxana etwa, angestellt im Kiosk der Dorfautorität Xenia, ersticht einen Kunden, der sie vergewaltigen wollte. Das beeindruckt Xenia derart, dass sie beschließt, ebenfalls Muslima zu werden und eine Moschee im Dorf zu errichten. Bei Maxim Ossipow wird das Spektakuläre wie das Unspektakuläre zu großer Literatur, seine Sprache ist in jeder Geschichte auf andere Weise verspielt, abgefeimt, teuflisch lebendig. Und Birgit Veit bringt sie auf Deutsch waghalsig-souverän zum Leuchten.

Hollitzer, Februar 2018
In der Buchhandlung Ihres Vertrauens (oder bei Amazon, buecher.de)


IV

Liebesroman

Ivana Sajko | Alida Bremer

Die Liebe ist unvernünftig und beharrlich, und man kann sie nicht zu einem Rechteck falten, unter das Kissen schieben und sich bis morgen gedulden, sie hat einfach die Kontrolle verloren, so wie sie ihre Rollen verlieren wird, sie wird Chancen versäumen, die man nicht versäumen sollte, und es wird nicht viel Zeit vergehen, bis sie beginnen wird, ihm vorzuwerfen, dass all das seine Schuld sei, dass sie nicht mehr die Frau von früher sei, dass niemand mehr über ihre glänzende schauspielerische Zukunft sprechen würde, man meide sie vielmehr, als sei sie radioaktiv. Liebe tötet, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt.

Ein Paar entliebt sich, Leidenschaft schlägt um ins unrettbar Zerstörerische. Mit den sprachlichen Mitteln des Furors schildert die kroatische Autorin Ivana Sajko, wie in einer Gesellschaft, die die Gewalt eines Bürgerkriegs erlebt hat, der Bürgerkrieg am heimischen Herd fast folgerichtig scheint, ebenso der Alltagskampf gegen die Welt in einem neuen System. Das Dasein: ein einziger anstrengender Kraftakt. Die deutsche Stimme Alida Bremers gestaltet jede Suada, jedes Aufbranden und Ermatten, jede weitere Drehung der gnadenlosen Spirale mit dem stimmigen dramatischen Rhythmus. Ein böser, verzweifelter Liebesroman.

Voland & Quist, Oktober 2017
In der Buchhandlung Ihres Vertrauens (oder bei Amazon, buecher.de)


V

Die Tagesordnung

Éric Vuillard | Nicola Denis

Schließlich gibt Schuschnigg nach. Und es kommt noch schlimmer: Er stammelt. Dann erklärt er sich zu unterschreiben bereit, bringt aber einen Einwand vor, wie er schüchterner und willensschwächer, ja weichlicher kaum sein könnte: „Ich mache nur darauf aufmerksam“, setzt er in einer merklichen, ihn sicher entstellenden Mischung aus Bosheit und Schwäche hinzu, „dass Sie, Herr Reichskanzler, von dieser Unterschrift allein nichts haben“. In diesem Augenblick muss er Hitlers Überraschung ausgekostet haben: den einzigen winzigen Funken Überlegenheit, den er Adolf Hitler abtrotzen kann. Ja, auch er muss Lust empfunden haben, auf eine andere Weise, vielleicht wie eine Schnecke mit ihren weichen Fühlern. Ganz sicher sogar. Das Schweigen nach seiner Antwort währt eine Ewigkeit. Schuschnigg genießt sein Stückchen Unbesiegbarkeit. Und windet sich auf seinem Sessel.

Wie konnte es geschehen, dass die Institutionen eines Landes vor dem Faschismus in die Knie, auf die Knie gingen? Seit Jahrzehnten untersuchen Historiker den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der Nationalsozialisten, seine politischen, soziologischen, statistischen Vorbedingungen und Mechanismen. Einem Aspekt jedoch kann die Literatur besser nachgehen: der Psychologie hinter dem Verhalten der beteiligten Menschen. Anhand von Schlüsselszenen, vor allem dem Einknicken Österreichs 1938, vertreten durch Kanzler Schuschnigg, zeigt Éric Vuillard, wie feige, opportunistisch, machtgeil, wie menschlich-klein Menschen sind, wie mutig und tollkühn sie es auch sein können. Éric Vuillard erhielt für diesen Roman 2017 den Prix Goncourt, seine Kunst liegt im sprachlichen Detail – Nicola Denis gestaltet das hinreißend und wie mühelos auf Deutsch. Vuillards knochentrockener Humor spießt das Lächerliche menschlicher Eitelkeit auf. Seine Fähigkeit zur Verdichtung der historischen Komplexitäten macht deutlich: Alternativlos war gar nichts. In jeder Situation fällen Menschen Entscheidungen, und in jeder Situation könnten sie auch anders entscheiden. Damit weist dieser Roman weit über das Biografisch-Illustrative seines Settings hinaus und lädt uns ein, die Geschichtsschreibung Deutschlands neu zu überdenken.

Matthes & Seitz, März 2018
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VI

Vogelgeister

Eliot Weinberger | Beatrice Faßbender

Die Mara im Nordosten Indiens sagen, gewöhnliche Sterbliche kommen nach ihrem Tod nach Athikhi, dem Dorf der Toten. Dort ist es Nacht, wenn es hier Tag ist, und Tag, wenn es Nacht ist. Fische sind dort Bambusblätter, und Bären sind haarige Raupen. Der Geist lebt lange Zeit in Athikhi, stirbt schließlich jedoch und kehrt auf die Erde zurück. Der Geist eines mächtigen Menschen verwandelt sich in heißen Nebel, der zum Himmel aufsteigt. Der Geist eines armen Menschen verwandelt sich in einen Wurm und wird von einem Huhn gefressen.

Dieses Büchlein ist ein Juwel, eine kuriose Orchidee, ein formensprengendes formales Experiment über nichts Geringeres als die Menschheitsgeschichte; Eliot Weinberger zerlegt sie in Einzelphänomene, eingebettet in die Natur unseres Planeten. In Form eigenartigster Listen – z.B. aus Vogelgeistern, altchinesischen Beobachtungen oder Meditationen über Steine, es gibt einen Bücherschrank der Wolken und ein Logbuch von Flussfahrten – werden poetische Linien zwischen scheinbar Unverbundenem gezogen und erfrischende Blickwinkel aufgetan. Erzählt wird hier nichts, sondern wahrgenommen, registriert, dargeboten. Die Übersetzung muss so flüchtig-leicht und zugleich solide verankert in Recherche und Quellen sein wie das Original: Beatrice Faßbender lässt uns den Aufwand ihrer Arbeit nicht spüren, bei ihr behauptet sich, wie bei Weinberger, das erratisch Anmutende und tanzt los. Ein exzentrisches, ästhetizistisches Spiel mit Erkenntnisgewinn.

Berenberg, September 2017
In der Buchhandlung Ihres Vertrauens (oder bei Amazon, buecher.de)


Beitragsbild:
Von Mathias Zeiske /HKW
Buchcover: Verlage

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Von Frank Heibert

Übersetzer, unter anderem von Don DeLillo, Willam Faulkner, George Saunders, Lorrie Moore, Boris Vian, Yasmina Reza und Richard Ford. 2006 erschienen sein erster Roman „Kombizangen“ und das Jazz-Album „The Best Thing on Four Feet“ (zusammen mit der Jazz-Combo Finkophon Unlimited).

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