In seiner Aphorismensammlung Einbahnstraße (1928) bezeichnet Walter Benjamin den Kritiker als “Strategen im Literaturkampf”. In der Rubrik “Einbahnstraße” beschäftigen wir uns mit den Literaturkämpfen und Scharmützeln der Gegenwart.

Für uns Gestrige soll es wohl eine Art Weckruf sein. In der Wunderkammer der digitalen Medientechniken, so die Fama, ist unlängst eine neue Weltformel für die Literatur gefunden worden. Sie lautet: 0x0a.li, und wer sie im Internet ansteuert, lernt auch den Propheten der schönen neuen Literaturwelt kennen, den Philosophen und Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr.

Auf 0x0a.li wird uns die frohe Botschaft verkündet, dass wir endgültig entlastet sind vom Gedanken an das Originalgenie und vom Mythos, dass der Schöpfungsprozess eines Autors nötig wäre, um ein Werk zu produzieren. Gewiss, bereits die französischen Meisterdenker Michel Foucault und Roland Barthes haben den „Tod des Autors“ prognostiziert. Vollzogen wird die Liquidierung des „Autors“ als eigenständigem Schöpfer aber erst von den Avantgardisten des Digitalen.

Der Code generiert Literatur

In diversen Veröffentlichungen zelebriert Hannes Bajohr die Pulverisierung des „Werk“-Begriffs. Weil uns das Internet mit einer unendlichen Menge von Texten, Bildern und Tönen beglücke, sei es letztlich nicht mehr der Autor selbst, sondern nur noch der von ihm konstruierte Code, der Literatur hervorbringt:

Wo alles Text ist, gibt es kein Werk mehr, nur noch <Halbzeug>, jenes Übergangsprodukt zwischen Rohstoff und Fertigfabrikat, das weder ganz unbehauen noch endgültig abgeschlossen ist.

Es genüge, wenn die Maschinen sprechen und wir mithilfe eines Algorithmus‘ Textstoff generieren.

Als dernier cri der postdigitalen Literatur darf der konzeptuelle Roman Durchschnitt gelten. Hier versucht Bajohr, die größten und anerkanntesten Romane der deutschen Literatur auf einen statistischen Mittelwert und auf handliche 260 Seiten zu bringen. Ausgangspunkt dafür sind die zwanzig Romane von Marcel Reich-Ranickis Kanon der deutschen Literatur. Mit einem Programmiercode hat der „Verfasser“ die durchschnittliche Satzlänge all dieser Romane bestimmt, nämlich genau 18 Wörter. Alle Sätze anderer Länge werden aussortiert, die Sätze mit jeweils 18 Wörtern werden alphabetisch sortiert – und fertig ist der Roman Durchschnitt.

Simple Collagetechniken

Längst sind solche absurden Experimente auf dem Höhenkamm der modernen Literaturdebatte angelangt. In einem Sonderdruck der „edition suhrkamp“ hat Bajohr gerade sein digitales Schatzkästlein mit Halbzeug geöffnet. Was finden wir darin? Das Eröffnungsgedicht des Bandes ist mit „20 Opfer“ betitelt und collagiert zwanzig Stellen aus Werken Kafkas, in denen das Wort „Opfer“ vorkommt.  In „Über mich selbst“ werden 7000 Profile männlicher heterosexueller Nutzer der Dating-Plattform Parship ausgewertet und alle Sätze, die mit „ich bin“ beginnen, zu einem litaneiartigen Text verknüpft. An einer anderen Stelle werden Elemente aus Hölderlins Hyperion mit einem „Zeit“-Artikel Josef Joffes kurzgeschlossen.

Der Vergnügungswert dieser simplen Collagetechniken ist denkbar gering. In dieser tristen neuen Welt der digitalen Literatur ist die Phantasie überflüssig geworden. Wenn diese algorithmengestützte Literatur mit ihren mauen Wörterlisten und blassen Collagen Schule macht, dürfen wir uns auf ein Zeitalter der Ödnis einstellen.

Angaben zum Buch
Hannes Bajohr
Durchschnitt
Frohmann Verlag 2016 · 260 Seiten · 14 Euro
Kindle Edition · 2,99 Euro
ISBN:978-3944195506
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Hannes Bajohr
Halbzeug
Textverarbeitung
edition suhrkamp 2018 · 109 Seiten · 16 Euro
ISBN: 978-3518073582
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Beitragsbild:
Von Gerd Altmann
Via Pixabay
Lizenz: CC0 Creative Commons

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Von Michael Braun

Literaturkritiker (NZZ, DLF u.a.), lebt in Heidelberg. Foto: Britta Roski

4 Kommentare

  1. Algorithmussonett

    Nur das, was ich begreifen
    kann, das hab ich in der Hand.
    In Algorithmusschleifen
    dreht sich das Möbiusband.

    Das Band ist eigentlich eine sie –
    kein vorne kein hinten – sie kreist
    vergeblich wie die Nadel, die
    niemals nach Norden weist.

    Das Leben, nun, das muss man pressen
    und drücken und Saft muss auch
    hinein. Und nicht vergessen
    zu atmen in den Bauch.

    So drehen die Endlosschleifen!
    Nur das, was ich begreifen…

    Antworten

  2. „Weil uns das Internet mit einer unendlichen Menge von Texten, Bildern und Tönen beglücke, sei es letztlich nicht mehr der Autor selbst, sondern nur noch der von ihm konstruierte Code, der Literatur hervorbringt.“

    Ich weiß nicht, ob das so in Bajohrs Buch steht und ob dies seine These ist. Wenn es in dieser Form so dasteht, ist diese These nicht nur ungenau, sondern auch falsch, weil ein singulärer Sachverhalt verallgemeinert wird. Weil einige Werke derart abgefaßt sein können, heißt dies nicht, daß alle Werke in dieser Weise gebaut sind. Die Differenz von Wesen und Schein hat nur dann Sinn, wenn eben nicht alles Schein ist. Die Differenz zwischen anonymen abstrakten Autoreninstanzen, wo der Autor im konstruierten Code als neuem „Autor“ verschwindet, und einem (klassischen) Autor ist nur vor dem Hintergrund von Autorschaft sinnvoll – selbst im Internet, wo es genug Blogs und Texte von Literaten gibt, die explizit mit ihrem Namen einstehen.

    Wenn ich mir Alban Nikolai Herbsts „Dschungel. Anderswelt“ ansehe, so finden wir hier eine Form von Netzliteratur, der man durchaus das Attribut „postmodern“ zusprechen kann, und die dennoch nicht auf einem konstruierten Code basiert, der den Autor ersetzt. Daß Autorschaft auch Vielfalt und Spiel bedeuten kann, zeigen die Herbst-Texte, und es ist dies im Grunde auch kein so derart „postmodernes“ Spiel. Miguel de Cervantes lebte weit vor der Postmoderne.

    Bücher wie „Durchschnitt“ sind ein lustiges Spiel, das bereits Raymond Queneau mit „Hunderttausend Milliarden Gedichte“ in ähnlicher Form durchspielte und es ist qua Computer auch in anderen Varianten vorstellbar. Ein neues, bisher unentdecktes Werk von Goethe gefällig?: Man programmiere und füttere den Rechenknecht mit allem Sprachmaterial, das von Goethe stammt. Solche Formen der Rekombination können originell sein, und es erweitert diese Art der literarischen Produktion die Gattungsgrenzen der Literatur. Aber es ist eben nicht die einzige und ausschließliche Art, Literatur zu machen und beim 30. Werk dieser Art, so vermute ich, nutzt sich dieser Spieleffekt ab. Insofern vermute ich bei Bajohr auch eher eine ironische Volte als daß die Sache bierernst gemeint ist. Freilich kenne ich das Buch nicht. Bin aber mal gespannt, was der Tenor ist.

    Spätestens in der monetären Sphäre freilich wird der Tod des Autors wieder revoziert und es erfolgt eine seltsame Lazarus-Geschichte: beim Kontostand ist das gute alte Subjekt wieder Instanz – wenn der Verlag nämlich das Honorar überweist. Und aus gutem Grund steht auf beidem Covern der Name „Hannes Bajohr“. Spätestens da klemmt es dann mit der „Dekonstruktion“.

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  3. Julia Pelta Feldman 7. Mai 2018 um 19:13

    Michael Braun fühlt sich offenbar von Bajohrs Buch bedroht. Warum, eigentlich? Bajohr behauptet nirgendwo, dass die alten Formen der Literatur nicht mehr gelten, sondern er entwickelt neue Formen. Dass Braun sich so streng und sarkastisch dagegen stellt, wirkt eher reaktionär als kritisch.

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  4. Wo genau entwickelt Bajohr neue Formen? Den Code, die Experimente und die Algorithmen gibt es seit Ende der 1980er. Solche konzeptuelle Verfahrensweisen kommen aus den 60ern und 70ern. In der bildenden Kunst alles relativ alte Hüte. Neu ist das wohl nur für sein staunendes halbgebildetes Literatur-Publikum, der Novelty-Effekt erschöpft sich dann aber auch schnell wieder wie beschrieben. Wärs “von einem Menschen”, fände man’s eher so lala oder “interessant!”

    Außerdem ist wohl kaum der Autor tot, wenn ich jetzt gerade überall von einem Herrn Bajohr und von Suhrkamp lese. Da fand ich die maschinengenerierte Poesie der 1990er spannender. Das war aber Software zum Downloaden, .exe-Files für MS-DOS. Autoren hatte die auch – die Programmierer. Berühmt wurden die damals aber nicht damit, das war Shareware, nicht Suhrkamp, kostete dafür auch nix.

    Bajohr surft auf dem Schnarchhype 2018, dass “jetzt” “alles” “digital” wird. Oho! Potzblitz! Postinternet! Typischer Millenialselbstdarsteller, was in dem ganzen Kontext natürlich schon auch wieder urkomisch weil sehr menschlich ist. Letztlich müsste der Einsatz der Maschinen ja zu effizienterer und interessanterer Literatur führen, um gerechtfertigt zu sein. Ein Auto fährt man ja nicht, weil es noch langsamer ist als eine Kutsche und noch mehr rumpelt, quietscht und schaukelt, aber dabei brummt und glänzend bemalt ist: metallic!

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