Ein Angeklagter ohne Verbrechen

Ein Weihnachtstipp von Herwig Finkeldey

Schullektüre zu werden, ist der sichere Tod eines Buches: ein willkommener Anlass, über Lesezwang zu klagen und dieses Buch nie mehr in die Hand zu nehmen.

Meine Empfehlung für die Zeit zwischen den Jahren ist eine existenzialistische Erzählung über Schuld, Verbrechen und Strafe, für die Friedrich Dürrenmatt keine einhundert Seiten benötigt hat – und die ich gerne vor dem Schullektüren-Schicksal bewahren möchte.

In Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte geht Dürrenmatt in der Vorrede davon aus, dass es kein Schicksal mehr zu erzählen gibt. Sondern dass der Zufall die Rolle des Schicksals übernommen hat. Schicksal ist somit nur noch eine statistische Größe, die einem mehr oder weniger zufällig widerfährt.

Im Fall dieser Geschichte ist es eine Autopanne, die den Handlungsreisenden Alfredo Traps zwingt, in einem ihm unbekannten Ort zu nächtigen. Er findet Unterschlupf bei einem alten Richter, der mit zwei juristischen Freunden unter Zuhilfenahme des Alkohols Freude am Nachspielen historischer Prozesse hat. Sollte sich allerdings die Gelegenheit ergeben, einen Prozess ganz neu zu kreieren, so ist die illustre Juristengesellschaft auch daran interessiert. Dafür benötigt man selbstredend einen Angeklagten und den finden die drei in Alfredo Traps.

Traps ist bereit und erkundigt sich nach dem Verbrechen, dessen er in diesem „Spiel“ angeklagt ist:

Ein unwichtiger Punkt, antwortete der Staatsanwalt, das Monokel reinigend, ein Verbrechen lasse sich immer finden.

Traps Verteidiger beginnt die Verhandlung dann mit der Behauptung:

Mein Klient ist ein Angeklagter ohne Verbrechen.

Dass es dabei nicht bleiben wird, versteht sich bei Dürrenmatt von selbst. Aus der zufälligen Panne wird ein ernstes Spiel, und das Spiel mündet im Schicksal einer Verurteilung. Mehr wird hier nicht verraten.

Friedrich Dürrenmatt
Die Panne. Eine noch mögliche Erzählung
Diogenes 2006 · 96 Seiten · 10 Euro


Den Spieß umdrehen

Ein Weihnachtstipp von Sieglinde Geisel

Nora Osagiobare (*1992 in Zürich) hat einen nigerianischen Vater und gehört damit zu den Schwarzen Schweizer:innen, und aus dieser Perspektive ist dieser Roman erzählt. Doch für einmal liest man keine autofiktionale Anklage gegen Rassismus. Im Gegenteil: In ihrem Debüt dreht Nora Osagiobare den Spieß um und macht sich über den Rassismus lustig (und über die Schweiz).

In diesem Roman treiben schwarze, weiße, schwule, promiske, gescheiterte, verschrobene Figuren ihr Unwesen, unter ihnen ein paar Reiche und ein paar Künstler – die jeweilige Schickeria gehört zu weiteren Zielen von Osagiobares Spott: Es gibt in dieser Soap Opera niemanden, der oder die ungeschoren davonkommt.

Der Roman Daily Soap ist tatsächlich eine Soap Opera, mit Fußnoten und vor allem mit Werbespots, zum Beispiel von einer PR-Agentur, die sich „der nachhaltigen Umpolung von Täter-Opfer-Diskursen“ widmet:

Sind auch Sie ein weißer, mitteleuropäischer, heterosexueller, reicher Cis-Mann und deshalb immer an allem schuld? Dann lassen Sie sich noch heute von uns beraten.

Ein fulminantes Debüt mit maximaler Pointen-Schlagzahl. Unbegreiflich, dass dieses Buch es nicht auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft hat.
(Meine ausführliche Rezension in der FAZ)

Nora Osagiobare
Daily Soap
kein & aber 2025 · 288 Seiten · 24 Euro


Das Damoklesschwert der Sterblichkeit

Ein Weihnachtstipp von Sieglinde Geisel

In Daniel Mezgers Roman Bevor ich alt werde geht es um Charlotte und die „Jacksonsche Krankheit“, eine fiktive Erbkrankheit, die erst im fünften Lebensjahrzehnt ausbricht. Charlotte überlegt sich, ob sie den Gen-Test machen soll. Die genetischen Chancen stehen fifty-fifty, und sie würde ein Resultat riskieren,

das einen zwanzig Jahre lang krank machte, bevor die Krankheit einen krank machte.

In diesem Roman geht es, nebst anderem, um das Aufwachsen in einer kanadischen Kleinstadt, um Mutter-Tochter-Querelen, um eine gescheiterte Musikkarriere und diverse gescheiterte Liebschaften. Doch das eigentliche Anliegen des Romans besteht im Damoklesschwert, das über uns allen hängt: der Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit.

Großartig ist der Roman nicht nur wegen dem existenziellen Stoff, sondern mehr noch aus stilistischen Gründen. Die Formulierungen treffen mit ihrer lakonischen Genauigkeit ins Schwarze, so etwa bei Mick, den Charlotte in den letzten Jahren nicht oft gesehen hat, der Abschied hat bereits stattgefunden.

Ein Nicken von ihm. Schau nicht so, dachte sie. Ein Hund, der auf ein zweites Leckerli wartet

Auch Matt gehört zu Charlottes glücklosen Liebhabern. Als er ihr einen etwas wirren Brief schreibt, fühlt Charlotte sich verpflichtet, ihm zu antworten.

Sie ging nicht auf die Liebesbekundungen ein, der Ton kam ihr selbst so kühl vor, dass sie noch ein paar Wenn-du-was-brauchst-dann-melde-dich-Kopf-hoch-Sätze dazufügen musste.

Immer wieder spielt der Autor mit diesen Bindestrich-Wörtern, seltsamerweise ohne dass es zur Masche wird.

(Meine ausführliche Rezension in der FAZ)

Daniel Mezger
Bevor ich alt werde
altantis 2025 · 336 Seiten · 25 Euro


Die Romantik der Physik

Ein Weihnachtstipp von Anselm Bühling

Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer erzählt die Geschichte der Revolution, die sich vor etwa hundert Jahren in der Physik vollzog – der Abkehr vom klassischen Modell der Newtonschen Physik und der Arbeit am Paradigma der Quantenmechanik, die immer wieder von ungläubigem Staunen und teils heftigem Widerstreben der beteiligten Forscher begleitet war.

Fischer konzentriert sich auf das Jahrzehnt von 1922 bis 1932, in dem die wichtigsten Erkenntnisse der Quantentheorie ausformuliert wurden. Er wählt einen überraschenden Ansatz: Er setzt die Umwälzung in der Physik in Beziehung zu einer geistesgeschichtlichen Umwälzung, die sich ein Jahrhundert zuvor ereignete, nämlich den Wechsel von der klassischen zur romantischen Weltsicht:

In beiden Fällen wurden überzeugende, auf mathematische Sicherheit angelegte, mit der Rationalität begründete und als abgeschlossen angekündigte Welterklärungen aufgegeben und durch irrational wirkende, von wahrscheinlich eintretenden Möglichkeiten handelnde, mit kreativen Elementen bestückte und durchgehend offenbleibende Denkweisen ersetzt.

Fischer buchstabiert das nicht Detail für Detail durch. Aber seine Herangehensweise eröffnet unvermutete Einsichten, zumal er es nicht beim bloßen Vergleich belässt: Das Bohrsche Atommodell ist für ihn „in mehrfacher Hinsicht romantisch, was sich ganz allgemein daran zeigt, dass es nicht dadurch zustande kommt, dass man ein Geheimnis lüften konnte, sondern im Gegenteil dadurch, dass man das Mysterium vertiefte“.

Die geistesgeschichtliche und die naturwissenschaftliche Revolution stehen in engem Zusammenhang: Die Vorstellung von einer objektiv gegebenen Realität weicht einer Welt der unendlichen Möglichkeiten, in der vieles im Auge des Betrachters liegt. Und das hat wiederum geschichtliche Konsequenzen, von der Französischen Revolution bis zur Kernspaltung.

Dass sich die physikalischen Formeln der Quantentheorie als solche dem intuitiven Verständnis entziehen, dass sie sich nicht einfach in Alltagssprache übersetzen lassen, heißt für Fischer nicht, dass es sinnlos wäre, diese Theorie einem breiten Publikum zu vermitteln. Ganz im Gegenteil:

Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen, und es ist die Aufgabe der Wissenschaftler oder der dazugehörigen Historiker, aus ihrer privilegierten Position heraus damit zu beginnen.

Die Erzählung wechselt geschmeidig zwischen Anekdote, Biografie, Geschichte und Theorie und macht dabei immer deutlich, wie alles miteinander zusammenhängt. Fischer ist – wie Werner Heisenberg und einige andere seiner Protagonisten – auch geisteswissenschaftlich gebildet; ihm ist bewusst, dass die exakten Wissenschaften philosophische und narrative Implikationen haben.

Deshalb kann er unbefangen erzählen, ohne banal zu werden. Er zeigt, dass es möglich ist, über Physiker (und etwas gar zu gelegentlich auch über Physikerinnen) so zu schreiben, dass es Licht auf die Physik wirft. Das liest sich anregend und hilft Nicht-Fachleuten, vieles besser zu verstehen.

Ernst Peter Fischer
Die Stunde der Physiker
Einstein, Bohr, Heisenberg und das Innerste der Welt
Piper 2025 · 304 Seiten · 16 Euro (Taschenbuchausgabe)


Ein Masterpiece unzuverlässigen Erzählens

Ein Weihnachtstipp von Hartmut Finkeldey

Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche ist nicht nur längst kanonisiert, sondern vor sechs Jahren auch schon einmal von Anselm Bühling in dieser Liste empfohlen worden. Trotzdem möchte ich für die Lektüre dieses Jahrhundertwerks werben (Fontanes Fehlurteil schmerzt heute noch). Denn trotz aller Rehabilitation, zumindest in der Literaturwissenschaft (insbesondere durch Winfried Freund), gilt Annette von Droste-Hülshoff in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch als verhuschte Stiftsjungfer, die ein paar ganz artige Sächelchen geschrieben hat.

Nichts dergleichen. In Die Judenbuche, diesem Masterpiece unzuverlässigen Erzählens („schwanken“ nennt sie es selbst), ruft die verhuschte Stiftsjungfer aus der westfälischen Provinz alles auf, was die europäisch-amerikanische und inzwischen Welt-Moderne bis heute in Atem hält: gebrochene Identität (Mergel/Niemand), soziale Ungerechtigkeit, Antisemitismus, verfehltes Leben, verfehltes Lieben, kurzum: Gewalt in allen Spielarten, nicht zuletzt Gewalt in der Familie: Die Judenbuche ist einer der ersten Texte, in dem Männergewalt, familiäre Gewalt, nicht nur geschildert, sondern zentral thematisiert wird.

Schon im Einleitungsgedicht, das wie ein erratischer Block dasteht, verrätselt von Droste-Hülhoff:

Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen
In junger Brust die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurteils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die Waagschal‘, nimmer dir erlaubt!
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –

Den Stein nicht werfen, die Spirale der Gewalt unterbrechen, darum geht es in dieser Novelle (oder ist es eine Erzählung?).

Ich empfehle langsame Lektüre.

Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche
Studienausgabe
Reclam 2016 · 224 Seiten · 8 Euro


Bildnachweis:
Beitragsbild: Niklaus Bächli

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Von Redaktion

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