Der Roman  Die Geschichte meiner Zähne ist, wie wir im Epilog erfahren, aus einer Zusammenarbeit mit Arbeitern einer Saftfabrik  in Ecatepec hervorgegangen, einem Randbezirk von Mexiko-City, in dem er auch spielt. Die mexikanische Autorin Valeria Luiselli hatte den Auftrag erhalten, ideelle „Brücken“ zwischen der Fabrik, dem Ort Ecatepec und der Kunstgalerie Jumex zu bauen, die das Projekt finanzierte. Um die Kluft zwischen diesen Welten zu schließen, beschloss Luiselli, die Arbeiter in den kreativen Prozess einzubeziehen. Sie hat den Roman in Fortsetzungen geschrieben, die die Arbeiter Woche für Woche lesen und kommentieren konnten. Die Geschichten wirken wie Parabeln – als ob den Zähnen das Schicksal ihrer ursprünglichen Besitzer eingeschrieben sei.Diese Diskussionen wurden aufgezeichnet und an Valeria Luiselli geschickt. Das Buch, das aus dieser „Höraufgabe“ entstanden ist, verbindet Experimentierlust mit Leichtigkeit und Ironie.

Valeria Luiselli

Die Handlung ist schnell erzählt: Gustavo Sanchez hat hässliche Zähne, die er ersetzen möchte. Er braucht Geld, und deshalb wird er Auktionator – sogar der „weltbeste Auktionator“. Er verkauft nicht nur Objekte, sondern auch deren Geschichte. Und gerade das steigert ihren Wert erheblich. Er veräußert die Zähne berühmter Menschen aller Epochen: von Platon bis Augustinus von Hippo, von Francesco Petrarca bis Virginia Woolf. Die Geschichten, die er zu jedem Gebiss erfindet, nennt er „parabolische Stücke“, denn sie wirken  wie Parabeln als ob den Zähnen das Schicksal ihrer ursprünglichen Besitzer eingeschrieben sei. Zudem verweisen sie teilweise auf poetologische Theorien, wie im Fall von Augustinus’ Gebiss und seinen „Confessiones“:

„Eine Reihe sammelbarer Confessiones, deren größter Zauber darin liegt, dass sie beim Lesen in den Besitz des Lesers übergehen.“

Hier lässt Umberto Ecos „Offenes Kunstwerk“ grüßen: Der Autor ist nie der einzige Eigentümer seines Werkes; wer es liest, eignet es sich an und erweitert es durch neue Bedeutungen und Interpretationen.

Vier der sechs Kapitel des Romans sind nach rhetorischen Stilmitteln benannt: Parabolisches, Hyperbolisches, Elliptisches, Allegorisches. Mehrere Onkel des Protagonisten tragen denn auch Namen wie Marcelo Sanchez Proust, James Sanchez Joyce, Fredo Sanchez Dostojewski. Die Geschichte meiner Zähne ist auch eine Geschichte über das Erzählen, das Schreiben, das Lesen – und das Hören.Auch der Name der Autorin kommt vor: Im Allegorischen Stück 3: Maus- und Rattenkostüme tritt Valeria Luiselli als stotternde Schülerin in Erscheinung, die sich „allzu häufig der Adverbialendung ‚-weise‘“ bedient. Das Spiel mit der Literatur gipfelt darin, dass der Zahnarzt, der die neuen Zähne Gustavos implantiert, Don Luis Fabre, „Il Miglior Fabbro“ genannt wird – der beste Schmied. Mit dieser Bezeichnung preist Dante in der Göttlichen Komödie den okzitanischen Troubadour Arnaut Daniel, und T. S. Eliot verwendet sie in Das wüste Land für Ezra Pound.

Leichtigkeit, Leggerezza, Lightness – das ist jene Erzählweise, die den Dingen und der Sprache das Gewicht nimmt, so Italo Calvino in seinen Harvard-Vorlesungen Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Diese „sottrazione di peso“, wie Calvino es nennt, gelingt Valeria Luiselli in ihrem Buch. Die Geschichte meiner Zähne ist auch eine Geschichte über das Erzählen, das Schreiben, das Lesen – und das Hören,  wie die Genese des Buches zeigt. Literatur und Philosophie sind die eigentlichen Protagonistinnen. Damit gehört das Buch in die Tradition des philosophischen Romans: Sternes Leben und Ansichten von Tristram Shandy , Voltaires Candide und Musils Der Mann ohne Eigenschaften – ihre (Selbst-)Ironie und das literarische Spiel mit der Literatur findet sich in Luisellis Roman wieder.

Angaben zum Buch
Valeria Luiselli
Die Geschichte meiner Zähne
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Verlag Antje Kunstmann 2016 · 192 Seiten · 18,95 Euro
ISBN: 978-3-95614-092-1
Bei Amazon oder buecher.de
Geschichte_meiner_Zähne_Cover
Bildnachweise:
Autorenporträt Valeria Luiselli: By fourandsixty (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Beitragsbild: Gebissdiagramm von Jordan Sparks [GFDL oder CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons]
Coverabbildung mit Genehmigung des Verlags Antje Kunstmann

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Von Agnese Franceschini

Deutsch-italienische Journalistin und Autorin, u.a. für den WDR.

4 Kommentare

  1. Im Grunde gefällt mir die Kombination von Belletristik und Philosophie, Literatur ist es ja beides: “Literatur und Philosophie sind die eigentlichen Protagonistinnen.” Wie dies jedoch mit sprachlicher ‘Leichtigkeit’ einher gehen könnte, eingedenk der aktuellen Strömungen und den Auseinandersetzungen in diesen, ist mir ein Rätsel, gaukelte bloß etwas vor. – Aber ich bin vorbelastet bzw. befangen, besonders durch zeitgenössische analytische Philosophie und analytische Belletristik … vielleicht hätte ich gar nichts sagen sollen?

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    1. Agnese Franceschini 28. April 2016 um 13:34

      Musil, Voltaire und Sterne sind aber gerade diesbezüglich ganz anderer Auffassung. Darüber hinaus gibt es nicht nur die analytische Philosophie.

  2. Danke, meine Anmerkung hätte ich mir tatsächlich sparen können …

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  3. – Der Text macht richtig Lust auf das besprochene Buch.
    – Der Text stammt erkennbar aus der Feder einer überaus belesenen Person.
    – Der Text ist offenbar (und der Zielgruppe von „tell“ entsprechend) auch für belesene Menschen gedacht. Das wird diese entzücken und andere eher abschrecken. Um Letztere vielleicht zu halten, fände ich Links ganz gut, die es ermöglichen, sich über die genannten Bücher und Autoren (und Theorien und Fremdwörter) näher zu informieren. Das würde allerdings noch mehr Arbeit bedeuten.
    – Was heißt „sottrazione di peso“? Eine Klammer mit der deutschen Übersetzung fände ich hilfreich.

    Fazit: Eine interessante und lesenswerte Rezension. Drei Sterne (von dreien) von mir.

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