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Die Schriftsteller – das behaupteten schon die Griechen – erzählen viele Lügen, das heißt, sie erfinden etwas. Aber die Etymologie suggeriert, dass „erfinden“ eng verbunden ist mit „finden“, etwas – eine Geschichte, eine Figur, ein Detail – Wirkliches, Wahres finden.
So schreibt Claudio Magris am Ende von Verfahren eingestellt. In diesem Spagat zwischen Erfinden und Finden spielt der ganze Roman. Erzählt wird die Geschichte eines „Kriegsmuseums zum Zwecke des Friedens“. Dieses Museum existiert tatsächlich in Triest. Sein Gründer war ein exzentrischer Professor namens Diego de Henriquez. Er sammelte Waffen aus aller Welt und kam 1974 bei einem mysteriösen Brand ums Leben, der auch seine Sammlung teilweise vernichtete.
Ein Kriegsmuseum für den Frieden
Diesem Museum und seinem Gründer hatte Claudio Magris 2009 bereits seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewidmet. Magris gestand, „seit langem mit dem Schatten dieses Mannes“ zu leben, „den die Flammen seines Scheiterhaufens auch in mein Gehirn projiziert haben – und auf das Papier, auf das ich zu schreiben versuche“. Da der Brand möglicherweise vorsätzlich gelegt wurde, kam es zu einem Prozess, der jedoch eingestellt wurde.
Wer hatte ein Interesse am Tod des Professors? Offenbar hatte Diego de Henriquez Wandkritzeleien der öffentlichen Latrinen bei der Risiera di san Sabba abgeschrieben, dem einzigen Konzentrationslager, das die Nationalsozialisten in Italien betrieben hatten.
In diesen Inschriften sollen einige Personen der damaligen oberen Triester Gesellschaft von den Opfern bezichtigt worden sein, kollaboriert und Juden denunziert zu haben, die später vergast wurden.
Schon damals wurde Claudio Magris aufgrund seiner Rede von italienischen Zeitungen als Nestbeschmutzer angegriffen. Der Germanist und Schriftsteller recherchierte weiter für seinen Roman Verfahren eingestellt, der in Italien 2016 erschienen ist.
Verdrängung auf Italienisch
Im Mittelpunkt von Verfahren eingestellt stehen die Stadt Triest und das Konzentrationslager in der Risiera di San Sabba, eine ehemalige Reismühle im Stadtteil San Sabba. In der Risiera wurde gefoltert und ermordet, es gab eine Gaskammer und ein Krematorium, doch niemand wollte den Rauch wahrnehmen, und auch nach dem Krieg wurde die Risiera vergessen. Der Titel Verfahren eingestellt bezieht sich nicht nur auf die gescheiterten Prozesse gegen die SS-Männer der Risiera und ihre italienischen Komplizen, sondern auch auf das „Abschaben des Bewusstseins“, wie Magris die Verdrängung der faschistischen Vergangenheit im Roman bezeichnet. Das Land der Partisanen, das sich von den Nationalsozialisten und Faschisten befreit hatte, wollte sich seine Mittäterschaft bei der Vernichtung von Juden nicht eingestehen. Dem Mythos der „italiani brava gente“ – die Italiener als anständige Leute – sollte nicht widersprochen werden.
Doch auch unter den Italienern gab es Mittäter und Profiteure der deutschen Besatzung:
Die Geschichte, die Gesellschaft, die Gesellschaften sind Lehrmeisterinnen der Neurochirurgie und machen rapide Fortschritte. Auch in unserer Stadt, die jede Anekdote über Kaiser Franz Joseph im Gedächtnis hat und sich an jedes Detail von der Ankunft der Bersaglieri erinnert, aber wenig weiß über die Risiera, über den, der sich im stinkenden Rauch des Krematoriumsofens aufgelöst hat, über meine in diesem Rauch verschwundene Großmutter und über die Tatsache als solche, dass überhaupt jemand in diesem Rauch verschwunden ist – ungefähr fünftausend, scheint es, nach den nüchternsten Einschätzungen.
Wer hier spricht, ist Luisa, die Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants. Anders als der Waffensammler ist sie eine rein literarische Figur. Ihre Großmutter mütterlicherseits hatte, als Jüdin, andere Juden verraten, bevor sie selbst in der Risiera ermordet wurde. Die Schuld der Großmutter Deborah trieb Luisas Mutter in den Selbstmord. Luisas Familie vereint die Tragödie zweier Völker.
Die Juden sind die Neger der Welt, und die Neger in Amerika sind die Juden in Ägypten, die der Pharao verfolgt, weil er sie fürchtet? Vielleicht sind sie ein und dasselbe, das auserwählte Volk, weil es verfolgt wird?
Kakanien an der Adria
Triest ist nicht zufällig Luisas Geburtsort. Die Stadt trägt sämtliche Widersprüche Mitteleuropas in sich. Durch diese und andere Geschichten wird Triest in dem Roman zum Zentrum der Welt. In einem gewissen Sinn ist Triest die eigentliche Protagonistin des Romans. Als die Stadt der K.-u.-k-Monarchie angehörte, war sie der wichtigste Hafen Kakaniens, und mit 250 000 Einwohnern nach Wien die zweitgrößte Stadt Österreichs. In dem Roman wird das Schloss Miramare beschrieben, wo am 20. April 1945 Nationalsozialisten und ihre italienischen Komplizen zum letzten Mal den Geburtstag Adolf Hitlers feierten. Das Schloss wurde im Auftrag von Erzherzog Ferdinand Maximilian von Österreich errichtet und gibt dem Autor Gelegenheit, die Geschichte dieses unglücklichen Bruders von Kaiser Franz Joseph I. zu erzählen: die Geschichte des Erzherzogs Maximilian, der in eben diesem Schloss 1864 von einigen mexikanischen Delegierten zum Kaiser von Mexiko ernannt worden war. Ein Königreich, das ihm zum Verhängnis werden sollte: Drei Jahre später wurde Maximilian von den Mexikanern hingerichtet.
„Italianissima Trieste“
Der Roman verfolgt viele solcher kuriosen Anekdoten aus der Geschichte Triests. Und viele davon haben einen internationalen Hintergrund. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Triest, bis dahin eine multikulturelle und multikonfessionelle Stadt, in der Italiener, Slawen, Deutsche, Katholiken, Orthodoxe und Juden zusammenlebten, zur „italianissima Trieste“. Nach mehr als 500 Jahren Habsburgerherrschaft und Zugehörigkeit zu einem Vielvölkerstaat war die Stadt nun eine Hochburg der italienischen Faschisten. Kroaten und Slowenen wurden vertrieben oder zur Assimilation gezwungen, Juden verfolgt:
So wie Salem, der Beste seiner Bürgermeister, dem man immer noch nachtrauerte, weil er die Stadt so sauber gehalten hatte; nachgetrauert wurde ihm auch von vielen, die ihn 1938 mit den vom Duce ausgerechnet in Triest proklamierten Rassengesetzen vergessen mussten oder wenigsten so tun, als hätten sie ihn vergessen.
Während den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wird Triest zum Schauplatz eines Kampfes zwischen deutschen Nationalsozialisten, italienischen Faschisten, italienischen, kroatischen und slawischen Partisanen und alliierten Soldaten aus Neuseeland. In Magris‘ Beschreibung dieser schicksalhaften Tage symbolisiert Triest die Unsinnigkeit des Krieges.
Im deutschen Kommando betrachtet man die Wirklichkeit mit den starren und geweiteten Augen des Achats, der wesentlich tausendjähriger ist als das Tausendjährige Reich, und alles tobt mit Überschallgeschwindigkeit darum herum; dem Auge, dessen Etappen dabei sind aufzuhören, gelingt es nicht, den Dingen zu folgen, die sich so konfus und schwindelerregend verändern. Aber auch für die anderen ist es schwierig, den Dingen zu folgen und sie einzuordnen. Schritt zu halten mit ihrer Beschleunigung. Die Befreiung dauert eine Sekunde und ist bereits Okkupation, der Sieg bereits Niederlage.
Der Spiegel der Welt
Nach dem Zweiten Weltkkrieg erweist sich Triest als Knotenpunkt der Konflikte des kalten Kriegs. 1947 wird das Freie Territorium Triest gegründet, eine konstitutionelle Republik, weder italienisch noch jugoslawisch. Der Stadtstaat hat sogar eine eigene Flagge und wird von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Jugoslawien militärisch besetzt und verwaltet. Wie Berlin wird Triest zu einer geteilten Stadt: Die Zone A ist von britischen und US-amerikanischen Soldaten besetzt und die Zone B von jugoslawischen. Bis 1954 ist die Stadt in Italien ein Symbol für den Kalten Krieg, danach verkommt sie zu einer Grenzstadt.
In Claudio Magris‘ Roman wird Triest zum Spiegel der Weltgeschichte.
Verfahren eingestellt
Roman · Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend
Verlag Carl Hanser 2017 · 400 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3446254664
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