Ich sehe mir gern alte Alben an, mit Fotos aus den Vierzigern oder Fünfzigern, wo diese Kerle fröhlich und mit kurzgeschorenen Haaren in die Kamera grinsen, in Militär- oder Studentenuniform, […] Kinder eines großen Volkes, Fahnenträger, verdammte Scheiße, wohin ist das alles verschwunden, die Sowje [sic!] hat alles Menschliche aus ihnen herausgepreßt und sie in Fast Food für Uncle Sam verwandelt, das ist es, was ich denke. Ich merke doch, mit wieviel Haß und Abscheu sie ihre eigenen Kinder betrachten, sie jagen sie, fangen sie in den tauben Korridoren unseres grenzenlosen Landes. So ist das.
Charkiw, Juni 1993: Während die postsowjetische Ukraine sich zugunsten des hereinbrechenden Kapitalismus vom Sozialismus verabschiedet, versuchen die drei Studenten Dog Pawlow, Wasja Kommunist und Serhij Zhadan, ein Leben im Einklang mit der gesellschaftlichen Unordnung zu führen. In ungeniertem Tonfall erzählt dieser Zhadan vom anarchischen Dasein der Protagonisten.
Der Jude Dog Pawlow zieht in der Kommune ein, und er besorgt reichlich Rauschmittel:
Dann gehen wir für ein paar Tage überhaupt nicht aus dem Zimmer, höchstens um zu pissen oder zu kotzen, aber kotzen kann man im Zimmer. Pissen im Prinzip auch. Ich mag Dog Pawlow, trotz seines Antisemitismus, juckt mich ja nicht. Dog arbeitet aus Prinzip nicht, findet Arbeit Scheiße, sagt, “ich finde es beschissen, für die auch noch zu arbeiten”, überhaupt findet er, daß in unserer Republik ein Umsturz stattgefunden hat und Juden an die Macht gekommen sind, Saujuden – sagt er überall Saujuden; ich finde eigentlich, daß er so nicht reden sollte, aber arbeiten will ich auch nicht.
In seinem Debütroman Depeche Mode (dt. 2007) erzählt Serhij Zhadan in einer anschaulichen rhythmischen Sprache von der Weltsicht und dem Verhalten der jungen Männer, ohne ihren jugendlichen Trotz zu kaschieren. Die Handlung wechselt abrupt: Auf die Schilderung des Platzsturms während eines Fußballspiels folgt ein Dialog über Erektionen und die Predigt eines amerikanischen Erweckungspriesters:
„Damit ihr versteht, daß die göttliche Offenbarung Meeresfrüchten gleicht […] – das Wichtigste ist nicht, sie zu fangen, sondern sie richtig zuzubereiten.“
Ebenso wie der ans Mündliche angelehnte Stil zeugt diese Sprunghaftigkeit von Zhadans Anfängen als Lyriker. Die Sprache ist wild und überschreitet Grenzen. An Tiraden diskriminierender Beleidigungen wie „Downie“ oder „schwule Sau“ schließen sich Funktionärssprache und wissenschaftlicher Duktus an. Der Schmuggel von zwei Kisten Wodka über die russische Grenze wird in einem Tonfall geschildert, der die romantische Lyrik parodiert.
Doch gerade dadurch schmiegt die Sprache sich an das Erzählte an, als spiegle sie den Systemwechsel und die instabilen Verhältnisse. Das faszinierende Chaos im Charkiw der Neunzigerjahre wird greifbar.
sie durchleiden, genau wie wir, diesen nassen verregneten Sommer in der leeren, mit Gras zugewachsenen und mit Reklame zugeklebten Charkiwer Vorstadt, phantastischer Ort, phantastische Nutten, phantastisches Leben. Homosexualität praktizieren wir nicht, obwohl es darauf zuzulaufen scheint.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Charkiw, Freiheitsplatz
via Wikimedia Commons
Cover “Depeche Mode”: Suhrkamp Verlag
Depeche Mode
Roman
Aus dem Ukrainischen von Juri Durchhat und Sabine Stöhr
Suhrkamp Verlag 2007 · 245 Seiten · 12 Euro
ISBN: 978-3518124949
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