Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.
Die Frau, um die es auf dieser Seite 99 geht, ist Staatssekretärin, und doch muss sie sich von einem Mann namens Elizardo Rubio herumkommandieren lassen, wohl ihr Vorgesetzter. Im autoritativen Indikativ wird ihr mitgeteilt: „Du gehst stattdessen in die Planungsrunde.“
Eigentlich hätte sie einen Termin mit der Flughafengesellschaft gehabt. Nichts, was irgendwie aufregend wäre, reine Polit-Bürokratie, auch ihr gedachter Kommentar dazu:
Zukunftskommission – Visionen für einen neuen Tourismus.
Wir befinden uns also im Kopf der Staatssekretärin.
Immer die gleichen Vorschläge mit den immer gleichen Antworten.
Und dann spult sie diese Vorschläge/Antworten für uns ab. Vier Absätze, rhythmisiert nach dem immergleichen Schema:
- Piraten? Gehören der Karibik (…)
- Kolumbus? Gehört Barcelona, gehört Lissabon, gehört São Paulo und Santo Domingo (…)
- Nelsons Angriff auf Santa Cruz? Immerhin hat er dabei einen Arm verloren? (…)
- Guanchen, Wellness, Paleo Cuisine? Dafür müsste man erst den Rest wieder abreißen (…)
Das ist, in der Steigerung und in den Variationen, bewusst gestaltet. Die Piraten gehören der Karibik, bei Kolumbus wird das „gehört“ verdreifacht. Im dritten Absatz haben wir nicht mehr nur ein Wort, sondern „Nelsons Angriff auf Santa Cruz“. Abgeschlossen wird diese Sequenz mit einer rhythmisch prägnanten Dreierkonstruktion: „Guanchen, Wellness, Paleo Cuisine?“ Keines der drei Wörter ist deutsch, und wer die Guanchen waren, weiß nur, wer schon einmal auf Teneriffa Urlaub gemacht hat. Wenn es um den Tourismus geht, kann man die ausgestorbenen Ureinwohner der Insel offenbar problemlos in einem Atemzug nennen mit modernen Errungenschaften wie Wellness und Steinzeitküche.
Inger-Maria Mahlke stellt damit die verkommene Sprache der Tourismusbranche aus. Unsere Staatssekretärin beherrscht den Jargon. Die Piraten seien „durchgebrandet, ausgefilmt“. Zwei zynische Begriffe aus dem Wortschatz des totalen Kommerzes. „Durchgebrandet“ heißt, dass es bei den Piraten kein Fitzelchen mehr gibt, das noch nicht touristisch ausgebeutet wäre. „Ausgefilmt“ funktioniert analog zu austherapiert und ausgetrunken: Hier ist nichts mehr zu holen.
Egal, wer, wann, wo geboren wurde, gelebt hat, einen Stützpunkt besaß, Handel trieb: Es gibt keinen Raum für eine weitere Verwertung.
Im Schredder der Entertainment-Industrie ist alles Mittel zum Zweck der „Verwertung“. Durch die Wortwahl ihrer Figur übt die Autorin hier implizit Kritik an den touristischen Zuständen: So ist es auf Teneriffa, und so ist es überall, wo die Einwohner von denen leben, die herkommen, weil sie etwas erleben wollen.
Im unteren Drittel dieser Seite 99 beginnt etwas Neues. Wir sind auf der Avenida de la Trinidad. In den Bars gibt es:
- beige-braun gesprenkelte Steinfußböden
- rot-gelb-grün blinkende Spielautomaten
- mehrere fliegenschissige Ventilatoren
Das sind lauter Adjektiv-Fügungen, dabei sind die Farbnennungen stilistisch uninteressant. Spannend wird es beim Wort „fliegenschissig“. Ein ungewöhnliches, extrem seltenes Wort: Bei Google erhalte ich gerade mal 9 Treffer, das sind noch weniger als für „durchgebrandet“ (149). Also fast ein erfundenes Wort. Doch funktioniert es auch? Kann etwas „schissig“ sein, wie in: ein schissiger Bürgersteig? ein hundeschissiger Bürgersteig? Grenzwertig. Es wirkt ein wenig gesucht, angestrengt, auf Effekt hin geschrieben.
Die Gewebeprobe von Seite 99 ergibt keinen klaren Befund. Deutlich spürbar ist der Wille zum Stil, doch ob der Stoff den sprachlichen Aufwand verdient, kann nur die weitere Lektüre zeigen.
Archipel
Roman
Rowohlt Verlag 2018 · 432 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3498042240
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Ich gehe mit Ihnen einig, dass man mehr lesen müsste, um zu beurteilen, ob die Lektüre lohnt. Der Begriff “durchgebrandet” war mir neu; allerdings benutzt die Autorin in ihrem Text mit “durchgebranded” einen deutsch-englischen Verschnitt (engl. “brand”, dt. “Marke”), was stärker ist und wovon ich weniger Treffer auf Google finden konnte.