Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.
Klarstellung: Ich hatte mir vorab vorgenommen, den mit dem diesjährigen Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman einem Page-99-Test zu unterziehen. Und nun habe ich ein Problem: Ich bin nämlich mit Jörg Sundermeier, dem Verleger von Anke Stellings Schäfchen im Trockenen, befreundet, und überdies war Anke Stelling mit ihrem Roman Bodentiefe Fenster vor zwei Jahren in meinem Literaturkritik-Seminar an der FU zu Gast – eine spannende Begegnung. Bodentiefe Fenster habe ich als Lektüre der sich allmählich öffnenden Abgründe in Erinnerung: Zuerst dachte ich, es sei die x-te Auflage des die-Mütter-vom-Prenzlauer-Berg-Themas, dann begann ich zu lachen, dann blieb mir das Lachen im Hals stecken.
Dass man die Leute kennt, über deren Bücher man schreibt, lässt sich kaum vermeiden, und zwar desto weniger, je länger man dabei ist. Was tun? Ich versuche, diese Seite 99 (bitte hier klicken, um die Seite zu öffnen) so zu lesen, als wüsste ich nicht, von wem sie stammt.
* * *
Ich erlaube mir, mit dem letzten Absatz der vorherigen Seite zu beginnen.
November 2006. In unserer alten Küche in der Winsstraße.
(Ich fühle mich ertappt, ich wohne nämlich in der Winsstraße. Bisschen unheimlich.)
Vera ist zu Besuch, doch wir können nicht reden. Stattdessen sieht sie mir dabei zu, wie es ist, Kinder zu haben – und es nicht das kleinste Bisschen zu schaffen.
Der Satz umspielt das, wovon er handelt: „Vera ist zu Besuch, doch wir können nicht reden“ – warum, erfahren wir noch nicht. Statt zu reden, sieht Vera der Ich-Erzählerin zu, „wie es ist, Kinder zu haben“ – immer noch nichts Konkretes. Was damit gemeint ist (Geschrei, Gezänk, Geschimpfe?), müssen wir uns denken, eine Lücke, die Spannung erzeugt. Diese Spannung entlädt sich nach dem Gedankenstrich: „– und es nicht das kleinste Bisschen zu schaffen.“
Beinahe hätte ich geschrieben: „– und es kein bisschen zu schaffen“. Doch die Ich-Erzählerin sagt es anders, sie sagt es so, wie ihre Autorin (und nur sie!) es ihr in den Mund legt: Es ist „nicht das kleinste Bisschen“ zu schaffen. Beim ersten Hören klingt es ungelenk, und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Im Duden ist „Bisschen“ nur als „kleiner Bissen“ aufgeführt. Ich google und stoße auf „das kleinste bisschen Freiheit“ oder „das kleinste bisschen Content“. Anke Stelling schreibt das kleinste „Bisschen“ groß, denn es ist nicht Teil einer adjektivischen Formulierung, sondern steht für sich selbst. Und damit öffnet sich der erste Abgrund. Wenn es heißt, „– und es nicht das kleinste Bisschen zu schaffen“, steckt die Hilflosigkeit bereits in den Wörtern. Für mich eine Definition von Stil.
Was auf der Seite 98 nicht das kleinste Bisschen zu schaffen ist, lesen wir auf der Seite 99. Ein Kind namens Jack soll gefüttert werden, ein anderes Kind jedoch hindert die Ich-Erzählerin daran. Der erste Absatz ist so harmlos, wie ich den Anfang von Bodentiefe Fenster in Erinnerung habe. Das kennen wir doch alle: ein Kind, das Grenzen gezeigt bekommen will und eine Mutter, die den Schneid dazu nicht hat. Unerwartet ist dagegen die Perspektive.
Du lässt mich Jack nicht füttern, und Jack heult, und ich trau mich aber auch nicht, dich einfach rauszujagen oder in dein Zimmer zu sperren oder mich sonst wie gegen dich zu behaupten.
Der nächste Satz spricht aus, was ich mir beim Lesen ohnehin gerade denke:
Das ist lächerlich, vor allem weil klar ist, dass du in erster Linie ausprobieren willst, wie weit du gehen kannst,
– und jetzt doch ein kleiner Abgrund:
ob du tatsächlich die Macht besitzt, mich dazu zu bringen, Jack verhungern zu lassen.
Ein grotesker Satz, denn Jack, so sehr er auch heulen mag, dürfte vom Hungertod noch mehrere Wochen entfernt sein. In der Übertreibung höre ich ein Echo dieses „es nicht das kleinste Bisschen zu schaffen“. Ein Gefühl von Totalversagen, als ginge es die ganze Zeit um Leben oder Tod.
Das ruft eine Erinnerung in mir wach. „Was hast du denn? Es ist doch niemandem etwas passiert!“ Der Satz fiel vor Jahren in unserer Wohnung in der Winsstraße, ich hatte mich über das Chaos aufgeregt, nachdem ich eine Woche weg gewesen war. Offenbar gehen Männer mit diesem „es nicht das kleinste Bisschen zu schaffen“ anders um. Sie finden, alles sei im grünen Bereich, solange niemand dabei zu Tode kommt. Unsere Ich-Erzählerin dagegen rechnet mit nichts anderem.
Dabei hat sie ihre Erziehungsratgeber gelesen: Sie weiß nicht nur, dass das Kind eine Grenze gezeigt bekommen will, sondern auch, „dass (…) du selbst am meisten darunter leidest, mich derart in der Hand zu haben“. Allerdings nützt ihr dieses Wissen nichts. „Aber ich kann mich trotzdem nicht gegen dich durchsetzen, du bist stärker als ich.“
Nun endlich meldet sich Vera zu Wort, die ja eigentlich zum Reden gekommen war.
Das geht nicht, Resi, das muss anders werden.
Das hätten wir an ihrer Stelle auch gesagt.
Dann folgt ein Satz, in dem ich einiges gestrichen hätte:
Wie genau, weiß sie natürlich nicht, woher denn auch, doch sie sieht die vollkommen irrsinnige Situation und wiederholt mehrmals: „Du musst das Heft in die Hand kriegen, hörst du?“
Dass die Situation „vollkommen irrsinnig“ ist, wissen wir bereits, dass wir es nun auch noch gesagt bekommen, schwächt die Szene. Und die Feststellung, dass Vera ihren Satz „mehrmals wiederholt“, lässt die Wirkung des Gesagten verpuffen. Was Vera sagt, ist wichtig, denn die Ich-Erzählerin reagiert darauf. Sie hat eine Beziehung zur Sprache, jedenfalls hört sie die Wörter in der Floskel „das Heft in die Hand kriegen“.
Was für ein seltsamer Ausdruck – welches Heft? –, aber genau deshalb so passend und einprägsam.
Ich hatte keine Ahnung, was, und erst recht nicht, wie ich es in die Hand bekommen sollte, aber dass ich es musste, war klar.
Sie weiß nicht was und weiß nicht wie, sie weiß nur, dass – wieder sind es die Wörter, die den Satz vorantreiben, mit einem unwiderstehlichen Rhythmus. Toll!
Resi hält sich fest an diesem „dass“ und an Veras Stimme,
die ziemlich nüchtern klang in dem Chaos aufgewühlter Emotionen und weichgekochter Möhren.
Ein Witz, aus nichts als Sprache gemacht und vom Timing her perfekt, nämlich genau in dem Moment, wo wir es am wenigsten erwartet hätten. Aufgewühlt und weichgekocht, genauso fühlt sich die Ich-Erzählerin, und die Autorin schafft es überdies, das „weichgekocht“ mit den unvermeidlichen Babybrei-Möhren zu koppeln. Mehr Mütterelend geht nicht!
Du musst und du wirst auch,
sagt Vera. Eine weitere Wendung, die aus der Sprache kommt, halb mahnend, halb tröstlich, wie wir dem abgründigen Kommentar der Ich-Erzählerin entnehmen,
denn wenn es hoffnungslos wäre, hätte sie nichts gesagt.
Das ist so sekundenschnell gelesen, wie sich die Hoffnung in einem solchen Moment Bahn bricht.
Neuer Absatz. Andere Zeit, anderer Ort, gleiches Personal – diesmal im Rollentausch. Ein extrem effektvoller Filmschnitt, zumindest in der Page-99-Laborsituation.
Und genau so habe ich dann auch versucht, ihr beizustehen bei dem Unmöglichen, hier in dieser Wohnung, als schließlich sie dran war mit dem mütterlichen Nicht-Schaffen und Trotzdem-Müssen.
Jetzt ist es benannt, die Zumutung, von der diese Seite 99 handelt: das „Unmögliche“, das darin besteht, Kinder zu haben. Diesmal ist Resi dran mit dem Besuchen und nicht reden Können, doch sie hat Vera etwas voraus, nämlich den Beistand, den Vera ihr einst geleistet hatte. In zwei Stufen steigt der Satz hinab in den Abgrund: „hier in dieser Wohnung, als schließlich sie dran war“.
Vera ist dran mit diesem „Unmöglichen“, dem „Nicht-Schaffen und Trotzdem-Müssen“, wieder ergeben sich die Wörter fast zwangsläufig aus der Sprache selbst.
Mir gefällt, wie sich Anke Stelling der Sprache anvertraut, sie lässt sich von den Worten tragen. Allerdings wird diese Flughöhe auf der Seite 99 nicht ganz durchgehalten. Der letzte Satz ist auf Fußgängerniveau:
Das stundenlange Reden, Pläne schmieden und Lösungen suchen vergangener Zeiten war nicht mehr drin, doch wir hatten ein paar gute Kurzformeln, und vor allem hatten wir schwesterliche Solidarität und Zeuginnenschaft.
Das ist konventionell, so reden wir alle, wenn wir einfach so daherreden. Rollenprosa? Vielleicht. Auf die „schwesterliche Solidarität und Zeuginnenschaft“ hätte ich trotzdem gern verzichtet. Übrigens hätte ich beinahe „Zeugenschaft“ getippt, diesmal mit gutem Grund: „Zeugenschaft“ ist literarisch stärker als die gegenderte Variante. Wie immer kommt das Gendern der Ästhetik ins Gehege.
* * *
P.S.: Puuuh, das ist nochmal gut gegangen, lieber Jörg. Was bin ich froh, dass ich nicht die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen habe ob des prämierten Romans! (Irony off)
Was ich bei diesem Selbstversuch allerdings gemerkt habe: Ich kann nicht dahinter zurück, dass ich die Beteiligten kenne. Daher muss ich annehmen, dass ich einen anderen Text über diese Seite 99 geschrieben hätte, wenn ich dich nicht kennen würde. Ohne dass ich zu sagen vermöchte, was anders wäre.
Anke Stelling
Schäfchen im Trockenen
Roman · Verbrecher Verlag 2018 · 272 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3957323385
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