Vielleicht kann dieses Buch mithelfen, europäische Solidarität auszubauen.
Im Grußwort der slowenischen Botschafterin ist die Rede von Auf der Flucht, einem Reportage-Band des slowenischen Kriegsreporters Boštjan Videmšek, der am Dienstagabend beim KLAK-Verlag in Kreuzberg vorgestellt wurde.
Das Buch handelt von der Geschichte der Migration nach Europa seit der Errichtung des ersten Grenzzauns 2005 in Melilla. „Ich wollte weg von der Politik, hin zu den Menschen“, sagt Videmšek. Die Begegnungen mit den Flüchtenden stehen im Vordergrund: „Ich weigere mich, von der Flüchtlingskrise als Phänomen zu sprechen.“
Mitgefühl ohne Perspektive
Sein Buch basiert auf über 2500 Interviews, die er mit Menschen an nahezu allen Hauptschauplätzen der Flüchtlingskrise geführt hat. „Dieses Buch verleiht dem Thema Menschlichkeit“, steht im Klappentext. Immer wieder betont Jörg Becken, der Moderator des Abends, dass Auf der Flucht uns vor allem etwas über „uns Europäer“ erzähle, von unserer Betroffenheit.
Ich dachte an die afghanischen Kinder, abhängig vom Opium, das ihre Schmerzen lindert und den ausgemergelten Müttern wenigstens ein bisschen Schlaf bringt. Ich dachte an die gigantischen Mohnfelder und die Pakete mit Opiumpaste. Ich dachte an die tausend und abertausend verlorenen Seelen, Leben, Sehnsüchte, Hoffnungen. Ich dachte an meinen – und unseren – Komfort und unsere Privilegien.
Die Wiederholungen, die großen Worte Leben, Sehnsucht, Hoffnung, der harte Kontrast zwischen dem Leid afghanischer Kinder und uns – die Passage soll uns betroffen machen. Hier möchte der Autor die Distanz zum Leid der Menschen abbauen. Aber was für Videmšek die Verarbeitung eigener, realer Erlebnisse sein mag, berührt mich nicht. Im Gegenteil, der pathetische, abgegriffene Stil schafft Distanz. Wer angesichts konkreten Leidens von „verlorenen Seelen“ spricht, erweckt Misstrauen. Was sind unsere Privilegien? Diejenigen der einheitlichen fünfhundert Millionen europäischen EU-Bürger? Mir scheint, hier soll vor allem Mitleid erregt und an ein mögliches schlechtes Gewissen appelliert werden.
An diesem Abend fällt zu oft das Wort „Menschlichkeit“. Es werden zu viele hochemotionale Tragödien verlesen, ohne dass darüber hinaus irgendeine Perspektive geboten würde:
Die Frau flehte die türkischen Grenzpolizisten an, sie in das nur vier Kilometer entfernte Azaz zu lassen, in dessen Nähe erbittert gekämpft wurde. Die Stadt wurde von russischen und syrischen Flugzeugen der Regierung bombardiert. Im Gebiet zwischen Azaz und der türkischen Grenze saßen etwa 140.000 Flüchtlinge fest. ‚Ich muss sofort ins Krankenhaus. Mein Kind ist schwer krank’, versuchte die Frau die Polizisten zu überzeugen. Umsonst. […] Das Mädchen starb in den Armen seiner Mutter. Die Frau begann zu weinen. Leise. Würdevoll. Und einsam.
Solidarität kann Politik nicht ersetzen
Das Urteil fällt eindeutig aus: „die Politik“ versage in jeglicher Hinsicht. Europa bekämpfe die Flüchtlinge mit kriegerischen Mitteln. Dagegen werden immer wieder Zivilcourage und Hilfsbereitschaft der Bürger beschworen und der „hellwache“ Humanismus ins Feld geführt. Ein Besucher stellt die Frage, was man unter Europa verstehen solle. Die EU? Die einzelnen nationalen Gesellschaften? Politische Verbände? Für ihn sei unklar, wie man sich angesichts der unübersichtlichen Situation zu verhalten habe. „Das kann ich auch nicht sagen“, erwidert Videmšek, „aber wenn ein Kind bei Rot über die Ampel geht und angefahren wird, helfen Sie dann, oder nicht?“
Die an diesem Abend von Boštjan Videmšek und Jörg Becken propagierte Haltung – ein vor der Politik resignierender Humanitarismus – hat der größten politischen Krise unserer Zeit nichts entgegenzusetzen als den Versuch, Mitleid und zutiefst menschliche Gefühle zu erregen, als ob man dadurch einem Problem von globalem Ausmaß beikommen könnte.
Die Betonung von Humanismus und Menschlichkeit spielt zudem der konservativ-reaktionären Taktik einer ideologisch instrumentalisierten Willkommenskultur in die Hände: Politische Aufgaben werden an ehrenamtliche Helfer delegiert, deren Unterstützung zwar dringend notwendig ist, aber kein Ersatz für staatliches und politisches Handeln sein kann. „Wir haben getan, was wir konnten, trotz einer scheiternden Politik“, heißt es dann. Und im Rausch der Nächstenliebe klopft man sich selbst auf die Schulter, bis auf das nächste München das nächste Köln folgt und die Stimmung in Gesellschaft und Medien wieder umschlägt.
Bildnachweis:
Beitragsbild: The Raft of the Medusa
via Wikimedia Commons
Cover “Auf der Flucht”: KLAK Verlag
Auf der Flucht. Moderner Exodus ins gelobte Land.
Reportagen
Aus dem Slowenischen von Andrea Leksovec
KLAK Verlag 2016 · 364 Seiten · 16,90 Euro
ISBN: 978-3943767704
Bei Amazon oder buecher.de