Warum lesen wir Sachbücher? Weil wir uns über einen Gegenstand informieren wollen, weil wir uns mit den Gedanken von anderen die Welt erschließen, und manchmal, weil wir einen historischen Resonanzraum brauchen. Doch manche Sachbücher, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, sind anders, darunter:
- Herfried und Marina Münkler: Die neuen Deutschen
- Harald Welzer: Wir sind die Mehrheit
- Heribert Prantl Gebrauchsanweisung für Populisten
- Per Leo, Daniel-Pascal Zorn, Maximilian Steinbeis: Mit Rechten reden
- Erhard Eppler: Trump – und was tun wir?
Wir haben ein politisches Buch geschrieben, kein erbauliches.
Herfried und Marina Münkler distanzieren sich in der Einleitung ihres Buchs vom Erbaulichen, gerade weil sie wissen, dass ihr Buch so gelesen werden kann, zumindest von denjenigen, die an eine offene Gesellschaft glauben.
Auch Ulrich Greiners Essay Heimatlos gehört in diese Kategorie, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Wer eine Heimat im Konservativen sucht, wird sich in diesem Büchlein geborgen fühlen. Und auch unter den Büchern des Antaios-Verlags findet sich Erbauungsliteratur – für rechts außen.
Appell an die Gefühle
Erbauungsliteratur ist Identifikationslektüre. Erbaulich wirkende Sachbücher sind symptomatisch für Zeiten der Verunsicherung und der Spaltung. Deutschland ist im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien noch verhältnismäßig wenig gespalten: Immerhin haben nur knapp 13 Prozent AfD gewählt. Doch anderswo wurden Schicksalswahlen – wie Brexit, Trump oder die Schweizer Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ – äußerst knapp entschieden. Zeitgenosse sein heißt dazuzugehören, und in Zeiten der Spaltung heißt es: zu den einen zu gehören und nicht zu den anderen. Identifikationslektüre signalisiert ein Denken in den Kategorien von „Wir gegen sie“.
Kennzeichen der Erbauungsliteratur ist der Appell an Gefühle, auf beiden Seiten. Ulrich Greiner tut das in Heimatlos ganz offensiv: Bei seinem Konservativsein gehe es ihm um ein Lebensgefühl, nicht um eine politische Haltung, sagt er ausdrücklich. In Wir sind die Mehrheit stützt sich Harald Welzer zwar auf Argumente und Zahlen, doch letztlich appelliert auch er an unsere Gefühle. Im Gegensatz zu Greiner jammert Welzer nicht: Er haut mit der Faust auf den Tisch. Er ist empört über den Angriff auf die Demokratie von rechts, zugleich will er uns schon im Titel seiner Kampfschrift beruhigen: Wir sind die Mehrheit. Während die Rechten an die Angst appellieren, appellieren die Linken an die Zuversicht. Heribert Prantl schreibt am Ende seiner Gebrauchsanweisung für Populisten gar: „Es gibt eine Pflicht zur Zuversicht.“
Linke Erbauungsliteratur
Ich zähle mich in diesem Wir/Sie-Schema zu den Linken, und ich muss zugeben, dass mir der Appell an die Zuversicht guttut, ebenso die Passagen, in denen der deutsche Herbst des Jahres 2015 als Erfolgsgeschichte erzählt wird, wie bei Harald Welzer:
Eine Gesellschaft gerät unter Stress, und die Bürgerinnen und Bürger überlegen nicht lange, sondern kommen spontan ihrer Verantwortung nach, organisieren praktische Hilfe, sammeln Kleider und Geld und machen darüber hinaus etwas ganz und gar Unglaubliches: Sie heißen die Ankommenden willkommen, demonstrativ, human, menschenfreundlich.
Genau so habe ich es auch selbst erlebt, als im Dezember 2015 in der Turnhalle in meiner Straße im Prenzlauer Berg über Nacht 200 Flüchtlinge einquartiert wurden. Trotzdem hatte ich fast vergessen, dass man es so sehen kann. Offenbar hat die Angst-Rhetorik von rechts außen auch mich erreicht.
Wie würde ich diese Bücher lesen, wenn ich auf der anderen Seite stünde? Diese Frage begleitet mich ständig, wenn ich „linke Erbauungsliteratur“ lese. Taugen diese Bücher zum Dialog zwischen dem Wir und dem Sie? Herfried und Marina Münkler haben mit Die neuen Deutschen ein politisch engagiertes Buch geschrieben, in ihrem Erzählen und Erklären bleiben sie jedoch betont sachlich. Auch Heribert Prantl verzichtet in seiner Gebrauchsanweisung für Populisten auf Freund-Feind-Rhetorik.
Die Faust auf dem Stammtisch
Harald Welzer geht in Wir sind die Mehrheit einen Schritt weiter. Er ist kein Elfenbeinturm-Wissenschaftler, sondern mischt sich ein. Mit seiner Stiftung „Futur Zwei“ und der „Initiative Offene Gesellschaft“ engagiert er sich für den politischen Wandel. Dies merkt man seiner Polemik an. Als rechte Leserin müsste ich mir die Anrede „Menschenfeind“ gefallen lassen und noch einiges mehr. „Ekelhaft, wirklich. Versagt in der ersten Prüfung. Sollte das Europa, das europäische Projekt sein?“, heißt es etwa über Europas Umgang mit den Flüchtlingen. Die Faust saust auf den Stammtisch, um den wir Leser so einig versammelt sitzen.
Genau darin besteht die Schwäche aller Erbauungsliteratur: Sie wendet sich an die Bekehrten. Ein politisches Buch dagegen will verändern, was es beschreibt, deshalb verwahren sich Herfried und Marina Münkler gegen das Erbauliche. Wenn ein Buch politisch wirken soll, muss es auch für Gegenseite lesbar sein. Womit noch lange nicht gesagt ist, ob die Gegenseite es überhaupt zur Kenntnis nehmen wird.
Harald Welzer bringt durchaus Argumente und Zahlen, mit denen sich die Gegenseite auseinandersetzen müsste. Er verweist etwa auf die Situation nach 1945 in der BRD: 8 Millionen Binnenflüchtlinge und 12 Millionen Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten, während in Europa bei der Flüchtlingskrise von 2015 auf 510 Millionen EU-Bürger nur 1 Million Flüchtlinge kommt. „Stellen Sie sich einen Saal vor, in dem 510 Menschen sind, und zwei oder drei kommen dazu.“ Welzer erinnert daran, dass „die Offene Gesellschaft“ (durchweg mit großem O geschrieben) „die zivilisierteste Form von Gesellschaft“ sei, die es in der Menschheitsgeschichte je gegeben habe.
Ich und alle anderen meiner Generation, die das Glück hatten, im reichen Westen aufzuwachsen, haben ein halbes Jahrhundert lang auf das Prächtigste von all dem profitieren dürfen, was andere zuvor geschaffen haben.
Das ist nicht neu, doch wir vergessen es jeden Tag aufs Neue. Es müsste die Rechten interessieren, dass sie den Dschihadisten ähnlich sind: Beide verachten Demokratie und Pluralismus, beide trennen die Menschen in Freund und Feind, sie operieren mit Angst, Manipulation und Ausgrenzung. Und sie brauchen einander.
Sie bauen sich gegenseitig die Bühne, auf der sie sich dann als die Retter vor den jeweils anderen inszenieren können.
Dialog oder Herrschaft?
In der Danksagung am Ende des Texts wendet sich Welzer an „unsere Offene-Gesellschaft-Gemeinde“. Die Formulierung ist verräterisch, sie passt zu gut zum predigenden Ton, als dass man sie als Unachtsamkeit durchgehen lassen dürfte. Geht es, bei allen Argumenten und Zahlen, also letztlich doch um Glaubenssätze? Um in sich geschlossene Weltbilder, die keinen Dialog zulassen? Er sei überzeugt, so Welzer, „dass man rechte Demokratiefeinde nicht mit Verständnis und Dialog bekämpfen kann, sondern nur mit Haltung, Konfliktbereitschaft, Eintreten für die Demokratie“. Geht es um Dialog oder um Herrschaft? Verständigen wir uns mit der Gegenseite über die Wirklichkeit, oder suchen wir nach Strategien, wie wir diese Gegenseite ausschalten? Erbauungsliteratur lebt vom Wir gegen Sie, und damit reproduziert sie die Spaltung, gegen die sie ankämpft. Auch wenn ich mich in diesem widerspruchsfreien Raum aufgehoben fühle und mich durch Zeilen nicke, es hat etwas von einer Notversorgung für die geschundene linke Seele. Wirkungsvoller jedoch ist eine politische Essayistik, die ihre Leserschaft auf produktive Weise verunsichert.
Die neuen Deutschen
Ein Land vor seiner Zukunft
Rowohlt 2016 · 336 Seiten · 19,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-167-0
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Wir sind die Mehrheit
Für eine Offene Gesellschaft
S. Fischer 2017 · 128 Seiten · 8,00 Euro
ISBN: 978-3-596-29915-7
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Gebrauchsanweisung für Populisten
Ecowin 2017 · 64 Seiten · 14,00 Euro
ISBN: 978-3-71100-130-6
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Mit Rechten reden
Ein Leitfaden
Klett-Cotta 2017 · 183 Seiten · 14,00 Euro
ISBN: 978-3-60896-181-2
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Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen
Rowohlt Verlag 2017 · 160 Seiten · 19,95 Euro
ISBN: 978-3-49802-536-6
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Trump – und was tun wir? Der Antipolitiker und die Würde des Politischen
Dietz Verlag 2018 · 128 Seiten · 12,90 Euro
ISBN: 978-3801205294
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„Prüfet aber alles, und das Gute behaltet“ heißt es im 1. Thessalonicher und so sollte man auch bei der Lektüre von Büchern verfahren. (Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, was das Gute ist.) Wer liest, um eine Heimat zu finden, der liest am Text vorbei, denn dann wird ihm, sei es von rechts oder von links, das Buch keine Überraschungen bieten. Es schaut aus dem Text das heraus, was man hineingetan hat –die klassische Referenzrahmenbestätigung. Oder man reagiert mit den bekannten Abwehrreflexen, weil der Leser nicht das fand, was er suchte. Ulrich Greiners „Heimatlos“ ist eigentlich – im Sinne einer hermeneutischen Leserexistenz, als Ethik des Interpretierens – ein guter Titel. Für den Intellektuellen ist diese Heimatlosigkeit ein ganz ausgezeichneter Ort.
Welzers Beispiel mit dem Saal ist leider eines aus der Schublade des Populismus und des Zu-kurz-gedacht. Denn eine Gesellschaft ist keine Diskothek oder eine Gaststätte. Insofern würde ich dieses Beispiel gerade nicht als ein Argument beschreiben. Und daß sich Rechte und Dschihadisten ähnlich sind, ist die unheilvolle und trübsinnige Logik, die man genauso zurückspiegeln kann. Und so setzt sich auf diese Weise das Spiel der unendlichen Vorwürfe fort. In diesem Sinne ist es dann interessant, auf das letzte Buch in der Liste im ersten Absatz zu kommen. Denn es unterläuft genau diese Logik gespiegelter Vorwürfe: X ist ja wie Y.
Ausgesprochen unglücklich ist es allerdings, das Buch von Leo, Steinbeis, Zorn unter der Rubrik Identifikationslektüre zu führen. Denn das Buch ist genau das Gegenteil. Es ermutigt zum Perspektivenwechsel. Und es entzieht sich zudem dem bipolaren Rastern „links oder recht?“. Man kann diese Kritik an Rechtsaußen nämlich von ganz unterschiedlichen Lagern aus betreiben – auch vom nicht-linken Lager aus. In diesem Sinne fällt das Buch aus dem Raster der Identitätslektüren auf eine angenehme Weise heraus und ermuntert zum Selberdenken und zum Argumentieren, und es bietet zugleich in einer erzählerisch-spielerischen Form auch auf einer intuitiven bzw. rhetorischen Ebene Möglichkeiten, diesen Perspektivenwechsel zu probieren. Insofern gehört dieses Buch nur dann in diese Liste, wenn man damit den Ausbruch aus dem Schema anzeigen möchte.
Beides sind Wirkungen, die es braucht. Das Ritualistische an der Erbauungsliteratur (und an aller „Nicht wahr?“-Rhetorik) lädt die Gleichgesinnten zur Zusammenkunft ein und mobilisiert sie auf diese Art und Weise. Keine politische Anhängerschaft, und also auch keine politische Bewegung, ohne dieses auch immer ausschließende, den Antagonisten konstruierende Moment. Freilich ist auch keine politische Progression möglich ohne die aktive Anerkenntnis wirklicher Vielfalt, und dieses Moment ist immer schwächer im öffentlichen Raum der sich zwischen Menschen aufspannt. „Hearing the other side“ (Diane Mutz) ist risikoreicher und nicht so schnell und eindeutig „lohnend“. Ritualismus und Pluralität stehen als definitorische Momente des Politischen so in einer immer nur empirisch teil-auflösbaren Spannung zueinander. Hoch mobilisierte Partizipation lebt auch von Gegnerschaft; Deliberation braucht Fallibilismus und eigene Beweglichkeit.