Mit Fotografien von Lars Hartmann
Mitte 2018 werde ich länger im Westen gelebt haben als im Osten. Um diesen biografischen Scheitel zu erklimmen, muss ich nur eines schaffen, nämlich 56 Jahre alt werden. Verbunden mit diesem Datum ist ein Prozess,über den nur selten geredet wird. Denn in den letzten fünfundzwanzig Jahren habe ich mich aus dem Osten entfernt, ohne tatsächlich auszuwandern, eine Entfremdung, die sich schleichend vollzog und die mir erst seit ein paar Jahren bewusst ist. Zunächst muss man aber die Voraussetzung für eine solche Sichtweise klären. Ich formuliere sie wie folgt: „Der Osten Deutschlands“ ist als Begriff eine soziokulturelle Dachmarke und beschreibt eine Art gefühliges Mehrgenerationenhaus, das die Hiergebliebenen umschließt oder, aus meiner Sicht richtiger formuliert, die Dortgebliebenen. Wobei sich hier schon das Dilemma zeigt, denn der Dortgebliebene scheint ja jener zu sein, der nicht mithalten konnte. Das allerdings wäre eine falsche Sichtweise. Zum ersten Mal wurde mir dieses Problem in einer Äußerung von Clemens Meyer deutlich, als er von jenen „dunklen neunziger Jahren“ sprach. Ich war ziemlich überrascht und fragte mich, von welchen dunklen Jahren er da wohl redete, denn ich hatte diese Zeit ganz anders als dunkel erlebt. Und das gilt es zu erklären.
Zeit des Suchens und Sortierens
Als ich mein Theologiestudium beendete, befand sich der Staat, dessentwegen ich jenes Studium überhaupt erst begonnen hatte, in heller Auflösung. Zuvor hatte ich ein paar Jahre als Stahlschmelzer im VEB Maschinenbaukombinat Ernst Thälmann gejobbt, da ich nach einem äußerst unschönen Armeedienst meine Studienzulassung zurückgegeben hatte. Als Lehrer mochte ich der Arbeiter- und Bauernrepublik nicht mehr zur Verfügung stehen. Aber nun waren die Verhältnisse in Bewegung und die Kanzel nur noch eine von vielen Möglichkeiten, wobei die Landeskirche recht überzeugend mitzuteilen wusste, keinen akuten Bedarf an jungen Pfarrerinnen und Pfarrern zu verspüren.
In dieser Situation des Suchens und Sortierens traf ich einen alten Schulfreund, es war eine zufällige Straßenbegegnung mit Folgen. Dieser Schulfreund hatte noch zu DDR-Zeiten Journalismus studiert und arbeitete nun beim Radio. Und das suchte Mitarbeiter, denn das zentralistische Rundfunksystem der DDR war inzwischen ebenfalls in Auflösung begriffen. Aber niemand wollte aus den Berliner Zentralredaktionen in die Provinz wechseln. Die Folge war ein akuter Fachkräftemangel in den zukünftigen Landesfunkhäusern. So wurde ich freier Mitarbeiter für den Hörfunk, was zunächst am Fachkräftemangel nichts änderte, denn ich startete ohne jegliches Vorwissen. Ein Praktikum gab es nicht – kein Wunder, denn das ganze Land war ja im Praktikum. Aber es gab Sendezeit, viel Sendezeit für eine kleine Redaktion, die nach der Gründung der Landesfunkhäuser vom MDR übernommen wurde.
Lebenswelten driften auseinander
Journalistisch waren jene frühen Jahre großartig. Sachsen-Anhalt leistete sich in den ersten vier Jahren drei Ministerpräsidenten, mehrere stasibelastete Minister und eine Fülle an weiteren politischen Skandalen. Es folgte eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der PDS, orchestriert vom Zusammenbruch der großen DDR-Kombinate. In Halle wurde Helmut Kohl mit Eiern beworfen. Auch die junge Demokratie war noch im Praktikum.
Aus heutiger Sicht wird deutlich, wie stark sich in jenen Jahren die Wege in Ostdeutschland trennten. Ich war in der glücklichen Situation, Arbeitsämter nur aus journalistischen Gründen aufsuchen zu müssen. Rein theoretisch hätte ich bei solchen Terminen so manchen aus meinem Freundeskreis treffen können, denn seinerzeit ging die Arbeitslosigkeit um wie ein hartnäckiger Virus. Viele wechselten auf der Suche nach neuen Jobs in den Westen, andere zogen sich aus dem Freundeskreis zurück, auch weil man sich weniger zu sagen hatte. Die Lebenswelten drifteten zunehmend auseinander. Die Ursache dafür war das Geld, genauer gesagt die Verfügbarkeit des Geldes, die sich nun plötzlich sehr ungleich entwickelte.
Umwertung der Werte
Die DDR hatte es ja geschafft, die Bedeutung des Geldes zu relativieren. Das ist wohl auch der Grund, warum es in der DDR kaum Banküberfälle gab. Nicht weil man sieben Jahre auf ein Fluchtauto warten musste, wie gewitzelt wurde, sondern weil es sich schlichtweg nicht lohnte. Denn die Sehnsucht nach Freiheit war auch mit viel Ostgeld auf dem Konto nicht zu stillen. Selbst der schlitzohrigste Handwerker konnte sich mit seinem vielen Geld keine Reisefreiheit erkaufen, von der Meinungsfreiheit ganz abgesehen. Vor der Mauer waren alle gleich, es sei denn, man brach mit dem System, und das konnte man schließlich auch ohne Geld bewerkstelligen.
Dies änderte sich radikal mit dem Ende der DDR, denn nun war zum Beispiel die Reisefreiheit ganz konkret an das Vorhandensein von Geld geknüpft. Diese in Ostdeutschland ungewohnte Rolle des Monetären stellte eine Umwertung aller bisherigen Werte dar, bis in das Private hinein. In der Folge änderten sich sowohl die Hobbys als auch der Freundeskreis. Statt Skilanglauf im Ostharz nun Abfahrtski in den Alpen. Das war kein Freizeitspaß für Dauerpunks und Lebenskünstler, sondern hier trafen sich die ostdeutschen Durchstarter: Architekten, Bauunternehmer, Ärzte – Wendegewinner jener Jahre. Ungebremst rasten wir auf langen Latten ins Tal, so wie wir auch durch den Rest des Jahres bretterten, unbekümmert, unbedarft und ziemlich ungelenk. Peinlich war uns das nicht. Waren in den ersten Jahren noch viele Polen oder Tschechen auf den Hütten im Service, so hörte man alsbald auch sächsische oder thüringische Stimmen. Die einen Ossis trugen ihre Ski zum Lift, die anderen trugen Teller aus. Warum das so war, das interessierte uns eigentlich nicht.
„Sie sind doch auch nicht von hier“
Überhaupt war es eine Zeit des eher indirekten Hinterfragens. Bei Interviewterminen wurde ich regelmäßig mit den Worten empfangen: „Sie kommen doch auch nicht von hier, oder?“ Die westdeutschen Sachwalterinnen und Sachwalter sprachen offenbar unter ihresgleichen anders. Wahrscheinlich war es aber nicht mein Auftreten, das diese Frage provozierte, sondern meine Funktion als politischer Korrespondent. Sie war damals für Ossis eher untypisch. Aus dieser Erfahrung zog ich meine Konsequenzen. Wenn ich mit Ostdeutschen zu tun hatte, gewöhnte ich mir an, Keywords zu verwenden, Begriffe wie „Fahnenappell, „UTP“ oder gelegentlich auch mal eine russische Vokabel. Seinerzeit konnte man sich damit noch als Ossi hinlänglich outen.
Versprochen wurde den Ostdeutschen die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, doch das rheinische Modell hatte offenbar schon ausgedient. Auf den preußischen Sozialismus der DDR folgte der preußische Kapitalismus der Treuhand. In Bataillonsstärke wurden die Entlassenen aufgestellt, um ihre eigenen Betriebe aus der Landschaft zu fräsen. Aus Angst vor der Wut des westdeutschen Steuerzahlers sollte es schnell gehen. Sachsen-Anhalt mit den großen Kombinaten für Chemie und Maschinenbau traf es besonders hart. Die Region, in der einst die Hälfte des DDR-Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet wurde, fiel zwischenzeitlich auf ein vorindustrielles Stadium zurück. Mitte der neunziger Jahre war plötzlich die Landwirtschaft die ertragreichste Branche. Über genaue Zahlen wird noch immer gestritten, aber fest steht, dass Sachsen-Anhalt in den neunziger Jahren mindestens fünfhunderttausend Industriearbeitsplätze verloren hat. Es waren harte Schnitte und Entscheidungen, für die damals das Wort „alternativlos“ noch nicht in Verwendung war. In seiner politischen Zweideutigkeit wäre aber der Begriff durchaus passend gewesen, denn das Gefühl, nicht beteiligt zu werden, nicht mehr Herr der eigenen Biografie zu sein, war weit verbreitet.
Ein kalter Veränderungsschub
Diese Erfahrung wirkt länger nach, als viele, ich selbst eingeschlossen, erwartet haben. Und sie führte in der Folge zu einer härteren Lebenswirklichkeit. Die Mechanismen der Auslese greifen im ostdeutschen Schulsystem unerbittlicher als im Westen. In Sachsen-Anhalt verlässt jeder Zehnte die Schule ohne Abschluss. Zugleich ist das klassische Familienmodell in Auflösung begriffen, denn 63 Prozent der Kinder werden außerehelich geboren, ebenfalls ein bundesdeutscher Spitzenwert. Dass jeder vierte Arbeitnehmer vom Mindestlohn lebt, sei noch hinzugefügt. Den Osten traf ein kalter Veränderungsschub, der „die persönliche Würde in Tauschwert aufgelöst hat“, um es mit Karl Marx und dem „Kommunistischen Manifest“ zu formulieren, einem Text, der ein fester Bestandteil des DDR-Schulunterrichts war. Der Sinn dieser Worte hatte sich mir seinerzeit nicht erschlossen.
Die Folgen dieser Leistungsideologie sind jedoch spürbar. Denn noch immer wird in Ostdeutschland Erfolg überwiegend als logische Konsequenz einer persönlichen Anstrengung wahrgenommen und Misserfolg zumeist als persönliches Scheitern. Der Blick in jene Nachwendezeit macht jedoch deutlich, dass es oft auch ein glücklicher Zufall war, der bestimmte Lebenswege prägte. Zur richtigen Zeit auf der richtigen Straßenseite den richtigen Menschen getroffen zu haben, war damals wichtiger als der Nachweis langjähriger Erfahrungen oder besonderer Fähigkeiten. Das entwertete natürlich die Bildungs- und Lebenswege mehrerer Generationen. In der Selbstzuschreibung Ostdeutschlands nimmt der Begriff „Solidarität“ eine zentrale Rolle ein, tatsächlich jedoch ist die ostdeutsche Gesellschaft tief gespalten. Nicht umsonst wird auf Demonstrationen der Ruf „Wir sind das Volk“ bemüht, als könne diese Entwicklung wieder rückgängig gemacht werden.
Der Döner als Heimaterfahrung
Jüngst beklagte Thomas Krüger, Ostdeutscher und Chef der Bundeszentrale für politische Bildung, eine kulturelle Hegemonie des Westens. Eigentlich geht es aber um die kulturelle Hegemonie derjenigen, die die westdeutsche Meinung machen, unter denen sich durchaus auch ostdeutsche Vertreterinnen und Vertreter finden, wie etwa die Kanzlerin oder der ehemalige Bundespräsident Gauck. Da sie im westlichen System erfolgreich sind, werden sie oft nicht mehr als ostdeutsch wahrgenommen.
Identitätsprobleme sind ja nicht neu und es gibt sehr unterschiedliche Wege, sich seiner selbst zu vergewissern. Für orthodoxe Juden ist klar: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Für orthodoxe Ostdeutsche ist die Abkunft von einer ostdeutschen Mutter offenbar nicht das einzige Kriterium. Und so kann man sich eine ostdeutsche Identität munter zusammenkonstruieren, parallel zu einem ostdeutschen Heimatbegriff. Einer meiner beiden Söhne lebt seit einiger Zeit in Wien. Gelegentlich kommt er zum Heimaturlaub, unter anderem wegen des Senfs und wegen des Döners. In ganz Wien, sagt er, gebe es keine vernünftige Dönerbude. Ein Drehspieß als kulturprägende Heimaterfahrung. Auch das ist Ostdeutschland.
Das kann man so stehen lassen. Meine Sicht wäre nur leicht anders, aber so ist das, wenn man Ähnliches erlebt hat. https://goo.gl/NyZqZs