Das Erinnerungsbuch Der Fragebogen von Ernst von Salomon war 1951 einer der ersten Bestseller der gerade gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Nimmt man die Ursachen dieses Erfolgs unter die Lupe, erkennt man Muster, die heute wieder vorhanden sind und möglicherweise nie ganz verschwunden waren.

Der Buchtitel bezieht sich auf den Fragebogen, den die amerikanische Besatzungsmacht 1945 in ihrem Zuständigkeitsbereich als Verfahren der Entnazifizierung etablierte. Alle Deutschen, die im Verdacht standen, am nationalsozialistischen System mitgewirkt zu haben, mussten 134 Fragen beantworten. Neben juristisch zu fassender Schuld und historisch zu klärender Verantwortung spielte dabei auch die Frage des persönlichen Gewissens hinein – an diesem allumfassenden Anspruch konnte ein institutionalisiertes Verfahren nur scheitern.

Von diesem Scheitern erzählt Ernst von Salomon. Er tut es zugleich hämisch und unterhaltsam, indem er die Fragen ausführlich beantwortet und so zugleich dem Leser und sich selbst sein Leben erzählt.

Das Gewissen in der Politik

Ganz zu Beginn fokussiert von Salomon auf die Schwachstelle des Fragebogens, die Frage nach dem Gewissen. Er tut dies anhand eines Hamletzitates aus dem berühmten Monolog im dritten Akt. Nach der Schlegel/Tieck-Übersetzung heißt es dort:

So macht Gewissen Feige aus uns allen.

 Von Salomon schließt daraus,

[…] dass es stets die Macht ist, die so eifrig mit dem Gewissen operiert.

Gewissen macht feige? Folgt daraus, dass ein Leben ohne Gewissen vorzuziehen wäre? Oder will von Salomon das Gewissen aus der politischen Diskussion heraushalten? Ahnt er, dass eine Gewissensbefragung der Deutschen zu keinem günstigen Ergebnis für sein Volk führen würde? Schon hier kündigt sich an, dass es ihm letztlich um den historischen Freispruch des deutschen Volkes geht.

Republikfeindliche Gesinnung

Ernst von Salomon musste nicht nur den Fragebogen ausfüllen, er wurde auch als mutmaßlicher Kriegsverbrecher interniert. In den Fokus der Amerikaner geriet er, weil er 1922 als Mitglied des republikfeindlichen rechten Netzwerkes „Organisation Consul“ an der Ermordung Walter Rathenaus beteiligt gewesen war. Diese Gruppierung war 1920 nach dem gescheiterten Kapp-Putsch gegründet worden und hatte einen Umsturz in Richtung Ständestaat zum Ziel. Das politische Attentat war für sie eine Destabilisierungsmethode, ein „Konzept“, das mit der entschiedenen Reaktion des Staates auf das Rathenau-Attentat hinfällig geworden war.

Von Salomon wurde nach dem Attentat gefasst und kam in Haft. In Fragebogen schildert er den Gefängnisaufenthalt als Märtyrergang. Auch nach der Entlassung blieb er republikfeindlich gesonnen und tat alles, um die fragile Republik zu unterminieren. Er wurde Redakteur einer rechtsextremen Zeitung, die die militante Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein unterstützte und auf der ersten Seite auch schon mal eine Bastelanleitung für eine Zeitzünderbombe abdruckte. Das alles beschreibt er in dem Buch ohne irgendeine Regung von Reue.

Für das Volk

Und er kennt sie alle, die Republikgegner von rechts: Erwin Kern und Hermann Fischer von der „Organisation Consul“, Ernst Jünger, den er bewundert, Arnolt Bronnen und den SA-Führer Ernst Röhm. 1922 läuft ihm in München auch Adolf Hitler über den Weg, der aus dem Scheitern der „Organisation Consul“ den Schluss zieht, dass ein Umsturz nur über eine Massenbewegung erfolgen kann. Diesen Weg lehnt von Salomon allerdings rigoros ab, wie er in Der Fragebogen darlegt:

Vom Staate her muss immer für das Volk gedacht werden, niemals durch das Volk. Es durfte da, so empfand ich dunkel, keinen Kompromiß geben […]

Diese Ablehnung des „Volkskonzeptes“, einer Massenerhebung von rechts, wird von Salomon später davon abhalten, im Nationalsozialismus Karriere zu machen. Sein Geld verdient er als Drehbuchautor der UFA und er ist in den Dreißigerjahren bei den Lippoldsberger Dichtertagen eingeladen, einem völkisch-nationalistischen Dichtertreffen, das von Hans Grimm organisiert wurde, dem Autor des Romans Volk ohne Raum.

Mit einigen seiner Handlungen tritt von Salomon sogar in aktive Opposition zum NS-Regime. So schützt er seine jüdische Lebensgefährtin Ille Gotthelft, indem er sie zehn Jahre lang als seine Ehefrau ausgibt, und im Rowohlt-Verlag tritt er als Strohmann für einen jüdischen Lektor ein, so dass dieser bis zu seiner Emigration weiter im Verlag tätig sein kann.

Die „Obergruppe Imming“

Der militante Feind der Weimarer Republik, der auch vor politischem Mord nicht zurückschreckt, wird nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten zum rechten Hitler-Gegner. Er trifft in den 40er Jahren Arved und Mildred Harnack und kennt Offiziere, die an der Vorbereitung des 20. Juli beteiligt waren. Allerdings bleibt Ernst von Salomon auch nach dem Krieg seinem völkischen Weltbild treu und verbittet sich dementsprechend „Gesinnungsschnüffeleien“ von Fremden, vor allem von den Amerikanern. In Fragebogen nutzt er den Entnazifizierungsfragebogen, um seine Haltung deutlich zu machen – dies dürfte bei den damaligen Lesern auf große Resonanz gestoßen sein. Auf die Frage Nr. 110 des Fragebogens nach einer Widerstandstätigkeit antwortet er etwa, er sei Mitglied der „Obergruppe Imming“ gewesen. Diese fiktive Gruppe benennt er nach seiner Putzfrau, die die Aktivitäten der Nazis lebensklug kommentierte und dabei ihre ablehnende Haltung unmissverständlich zum Ausdruck brachte. Sie kam bei einem Bombenangriff auf Berlin ums Leben. Von Salomon würdigt sie und das deutsche Volk mit den Worten:

Der Obergruppe Imming gehörten etwa achtzig Prozent des deutschen Volkes an.

Damit spricht er seinen Lesern aus der Seele: Wer wollte nach Kriegsende kein Widerstandskämpfer gewesen sein?

Demokratie = Diktatur

Zudem wirft von Salomon den Amerikanern vor, dass sie ihn während seiner Verhaftung gefoltert hätten. Die amerikanische Spionageabwehr CIC rückt er gar in die Nähe der Gestapo:

Ein Jeep brachte uns zum CIC, von dem ich nun erfahren hatte, daß es eine Art Gestapo-Stelle sei […].

Für die Demokratie bringt von Salomon auch nach dem Krieg kein Verständnis auf:

Ich habe das Wort “Demokratie” immer nur sehr selten und sehr ungern benützt. Ich weiß nicht, was das ist, und habe auch noch niemanden gefunden, der es mir einleuchtend zu erklären wusste […] Ich fürchte ferner, die Gegenbehauptung, das von Hitler erstrebte System der Totalität sei nicht demokratisch, ich fürchte, diese Gegenbehauptung wird schwer zu beweisen sein.

Für ihn ist die Demokratie eine Diktatur, und umgekehrt ist der totalitäre Staat eine Demokratie. Punktum. Da die Amerikaner nach dem Krieg die Demokratie in das besiegte Deutschland bringen, ist klar, wen von Salomon als die neuen Nazis ansieht. Im Buch legt er ausgerechnet der Jüdin Ille Gotthelft diesen Gedanken in den Mund.  Das Leben unter den Besatzungs-Verhältnissen mit seinen neuen Verordnungen und Geboten sei „wie bei den Nazis“.

Der Weg in die Opferrolle

Ille Gotthelft wurde in der Internierungshaft von einer Gruppe von US-Soldaten vergewaltigt. Dass sie den Nationalsozialismus nur dank von Salomon überlebt hat, fällt bei dieser Gleichsetzung unter den Tisch, und die Frage, was mit ihren jüdischen Verwandten geschehen ist, wird im gesamten Buch mit keinem Wort erwähnt. Dafür schildert er aus dem Internierungslager folgenden Dialog. Nachdem er sich über die Amerikaner beklagt, sagt Ille Gotthelft:

Du kannst doch wirklich nicht ein ganzes Volk für die Schweinereien verantwortlich machen, die von ein paar Knülchen verübt werden –, Knülche gibt es überall!

Von Salomon antwortet:

Das ist es ja eben. […] Uns machen sie für unsere Knülche verantwortlich, – und wen schicken sie uns? Ihre Knülche!

So verschwindet der moralische Unterschied zwischen den Nazis und den Amerikanern. Von dieser Logik zur Darstellung der eigenen Rolle als verfolgtes Opfer ist der Weg nicht weit.

Schließlich, völlig außerstande zu erfahren, welchem Status wir nun eigentlich zugeordnet seien, begnügten wir uns notgedrungen mit der Erkenntnis, daß wir uns nur als eines betrachten konnten: als Opfer einer hübschen und ausgewachsenen Heuchelei.

Das Gewissen eines Täters

Im Internierungslager trifft von Salomon auf tatsächliche NS-Täter, allen voran den slowakischen Reichsstatthalter Hanns Ludin, der für die Deportation der slowakischen Juden in die Vernichtungslager verantwortlich war. Für Ludin zeigt von Salomon Sympathien wie für einen Bruder. Sie gestalten gemeinsam das Lagerleben und organisieren Theateraufführungen. Den Werdegang Ludins, der aus einer humanistisch geprägten Familie stammte und zum Nazitäter wurde, erklärt von Salomon mit einer angeblich aus dem Geist des Humanismus kommenden rigiden Erziehung, deren Wirkung er als „Druck“ beschreibt. Alles Bändigende, dem zügellosen Wüten Entgegenstehende ist somit nicht Folge dieses Wütens, sondern seine Ursache. Das Muster der Verkehrung von Ursache und Wirkung, von Täter und Opfer, lässt sich durch das gesamte Buch hindurch verfolgen.

Zum Schluss lässt von Salomon Hanns Ludin in einer pathetischen Abschiedssequenz sagen:

Ich habe immer nach meinem Gewissen gehandelt!

Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt: dem Gewissen. Nachdem von Salomon 800 Seiten lang durch institutionelles Befragen vergeblich nach dem Gewissen gesucht hat, findet er es bei einem Täter. Hanns Ludins letzte Worte vor seiner Hinrichtung in Preßburg/Bratislava beschließen als Zitat das ganze Buch:

Es lebe Deutschland!

In Der Fragebogen, dem Buch eines konservativen Nazigegners, sind bereits alle Facetten der historischen deutschen Entlastungsoffensive nach 1945 vorhanden, was seinen Erfolg unmittelbar nach dem Krieg erklärt. Liest man das Buch heute, macht man die unbehagliche Entdeckung, dass diese Entlastungsmuster im Selbstverständnis der Neuen Rechten wiederkehren. Björn Höckes Dresdner Rede haut in diese Kerbe, Alice Weidel beschreibt in einer privaten Email die Bundesregierung als „Schweine“, die nichts anderes seien, „als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK“ und die die Aufgabe hätten, „das dt. Volk klein zu halten“. Die Behauptung des Opferstatus, die Gleichsetzung von Demokratie und Diktatur, der Antiamerikanismus, der ständige Hinweis auf die Verfehlungen anderer, die Geringschätzung des Humanismus und das Verhöhnen des Gewissens – all das mündet in den Versuch, den Deutschen das schlechte Gewissen auszureden, das sie angeblich wegen „jener 12 Jahre“ beherrsche. Wie Der Fragebogen zeigt, reicht dieser Diskurs in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück.

Angaben zum Buch
Ernst von Salomon
Der Fragebogen
Rowohlt 1961 · 1056 Seiten Seiten · 14,99 Euro
ISBN: 978-3-499-10419-0
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Bildnachweis:
Beitragsbild: von S. Kasten [GFDL, CC-BY-SA-3.0 oder CC BY-SA 2.5], vom Wikimedia Commons
Buchcover: Rowohlt Verlag

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Von Herwig Finkeldey

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