Im Deutschen Theater Berlin betreue ich, zusammen mit Katrin Visse, die Veranstaltungsreihe “Gespräch nach der Vorstellung”. Bei der Vorbereitung von Henrik Ibsens Die Frau vom Meer las ich die Regieanweisung vor dem ersten Akt:

Garten bei Doktor Wangel. Vom Haus ist links die große überdachte Veranda zu sehen, von der eine Treppe hinunter in den Garten führt. Unten vor der Veranda eine Fahnenstange. Rechts im Garten eine Laube mit Tischen und Stühlen. Hinten ein Heckenzaun mit einer Gartenpforte. Jenseits des Zaunes führt ein Weg mit Bäumen den Strand entlang. Durch die Bäume sieht man das Wasser des Fjords und in der Ferne die Gipfel hoher Berge. Es ist ein warmer und strahlend klarer Sommermorgen.
Ballested, ein Mann mittleren Alters, in einer abgeschabten Samtjacke und mit einem breitrandigen Künstlerhut, steht an der Fahnenstange und macht sich mit der Leine zu schaffen. Die Fahne liegt auf dem Rasen. Nicht weit von ihm eine Staffelei mit einer aufgespannten Leinwand. Daneben auf einem Feldstuhl Pinsel, Palette und Malkasten.
Bolette Wangel kommt durch die offene Tür des Gartenzimmers auf die Veranda heraus. Sie trägt eine große Vase mit Blumen, die sie auf den Tisch stellt.

Sofort stellte sich der Eindruck ein, hier stimmt etwas nicht, die Idylle trügt. Ich habe die Regieanweisung noch einmal genau gelesen, Wort für Wort, und bin auf keine Formulierung gestoßen, an der sich das festmachen ließe.

Daher meine Frage an Sie: Entsteht auch bei Ihnen der Eindruck einer bedrohten Idylle? Wenn ja, wo finden Sie das im Text?

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Von Peter Gößwein

Freier darstellender Künstler und Präsenztrainer. Lebt in Berlin.

11 Kommentare

  1. Barbara Villiger Heilig 20. März 2016 um 11:11

    Es gibt, soviel ich sehe, keinerlei Indizien dafür, dass die Idylle falsch oder “bedroht” ist. Nicht mal dafür, dass es eine Idylle ist. Wir erwarten aber, weil wir Ibsen lesen, ein Drama – that’s all…

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  2. Anselm Bühling 20. März 2016 um 16:04

    Es ist natürlich schwer bis unmöglich, beim Lesen von der eigenen Erwartungshaltung zu abstrahieren. Was mir in dem Text auffällt, ist die Fahnenstange. Erst steht sie nur vor der Veranda. Dann kommt Ballested ins Bild, der sich „an der Leine zu schaffen“ macht. Dann die Fahne, die daneben auf dem Rasen liegt. Ist sie gerade abgenommen worden? Soll sie hochgezogen werden? Ist die Leine kaputt? Die Beschreibung verrät es nicht. Vielleicht ist es das, was irritiert, was die Ordnung stört.

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  3. Die Zeilen “durch die Bäume sieht man das Wasser des Fjords und in der Ferne die Gipfel hoher Berge. Es ist ein warmer und strahlend klarer Sommermorgen” höre ich schon idyllisch. Die Fahnenstange ist wirklich merkwürdig, ein Fehler? Unwahrscheinlich. Mir stellt sich die Frage, ob die Erwartungshaltung gewissermaßen mit zum Text gehört. Wenn ich davon ausgehen kann, daß mein Publikum Drama erwartet, ist es nur nötig die Idylle zu skizzieren, der Rest setzt sich dann zur Bedrohung zusammen. Danke für die Anregungen.

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  4. Barbara Pinheiro 21. März 2016 um 13:00

    Vielleicht wird so ein Schuh draus: Der Künstler ist nicht mit dem beschäftigt, was ihm gemäß ist: Malen. Er hantiert (ungeschickt?) an der Fahnenstange: Phallus-Symbol. Am Boden die Fahne: Sie bedeutet Identität und Stolz/Selbstachtung, die anscheinend darnieder liegen..
    Das ist meine subjektive Interpretation. Ich kenne das Stück nicht und hab’s jetzt nicht extra gegoogelt.

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    1. Anselm Bühling 21. März 2016 um 18:36

      Soviel ist auf jeden Fall klar: In einer ordentlichen Idylle würde der Künstler natürlich an die Staffelei gehören und nicht an der Fahnenstange herumfummeln.

  5. Die Formulierung “sich an etwas zu schaffen machen” bedeutet für mich entweder, an etwas herummachen, das ich nicht verstehe, wo mir die Kompetenz fehlt, oder bei dem es mir nicht zusteht, daran zu rühren, weil es nicht zu meinem Bereich gehört. Soweit ich sehe, die einzige Formulierung in der Regieanweisung, die (ab)wertend klingt. Insofern lese ich das auch so: “Er hantiert (ungeschickt?) an der Fahnenstange”, obwohl sonst doch der Morgen so schön vollkommen ist.

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    1. Manuel Rivera 3. April 2016 um 17:01

      Dass er mit der Fahnenstange bisserl ungeschickt ist, würde für mich eher sogar noch zur Idylle mit beitragen anstatt sie zu stören (leicht vertrottelter Künstler). Einen Kontrast im Beschriebenen selber nehme ich eigentlich nur zwischen der Grandeur der Fjordkulisse und der Kleinteiligkeit der häuslichen Szenerie war. Kontraste stören potenziell eine ‘Idylle’, von daher könnte man sagen dass im Kontrast zwischen großer, wilder Natur und bürgerlichem Haushalt schon etwas Beunruhigendes liegt… aber das ist natürlich bereits im Hinblick darauf gesprochen auch, dass ich das Stück kenne. Eine Fahne aufziehen im Angesicht der Naturgröße hat natürlich auch bisschen was Lächerliches, vergeblicher Nationalknabenstolz, und das Motiv der Staffel doppelt das Motiv der INSZENIERUNG, das die ganze Regieanweisung qua Genre schon vorgibt (es wird eine Szene künstlich dargestellt, wo eine künstliche Darstellung vorbereitet wird). Von daher: ja, es gibt etwas Idyllisches und gleichzeitig Nicht-Idyllisches in dem Text…

  6. Sabine Paqué 7. April 2016 um 18:59

    Sie haben mit Ihrer Frage (oder Regieanweisung) bereits Argwohn gestreut. Daher fällt unbefangenes Lesen schwer. Was mir auffällt, ist die Beziehungslosigkeit der präzise beschriebenen Orte, Personen und Handlungen. Jeder- jedes steht getrennt für sich, nichts kommuniziert mit dem anderen – das irritiert, denn heile Welt funktioniert durch Beziehungen + Miteinander.

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  7. Die Beobachtung der Beziehungslosigkeit finde ich sehr interessant. Das habe ich bisher gar nicht so gesehen. Es ist leider das Problem jeder Frage, daß sie den Blickwinkel verändert, dadurch daß sie auf etwas deutet. In gewisser Weise ist unbefangenes Lesen dann nicht mehr möglich. Nur ein bewußteres, das sich einerseits der Verengung des Blickwinkels entzieht und andererseits die Frage nicht ausklammert.

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    1. Sabine Paqué 10. April 2016 um 10:00

      P.S. Das irritierend Beziehungslose wird verstaerkt durch die Bewegungslosigkeit. Zwar macht sich Ballested am Fahnenmast zu schaffen, aber die Fahne liegt am Boden. Frau Wangel tritt aus dem Haus, aber mit “toten” Blumen. Ansonsten statuarische Stille, kein Segel knattert, kein Wind regt sich, kein Maler malt …

  8. Mich irritiert die abgeschabte Samtjacke des Mannes mittleren Alters – und die Fahne die am Boden liegt – all das gehört so nicht in den Garten eines Doktors – und die Frau Doktor tut demostrativ geschäftig im Hintergrund, wie wenn nichts wäre – da läuft doch was zwischen den beiden ?!

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