Der Faschismus ist nicht der Nationalsozialismus und der Duce nicht der Führer. Die Mannen des Duce mit Glatzkopf und grotesk vergrößertem Unterkiefer tragen farbenfrohe Uniformen, und sogar für die Geheimpolizisten werden welche entworfen, bis einem der unter den Faschisten offenbar nicht allzu zahlreich vertretenen hellen Köpfe einfällt, dass es dann um ihr Inkognito nicht zum Besten stünde. Der italienische Faschismus trägt Züge einer Operette. Allerdings ist die Musik schlecht, ziemlich eintönig und man kann ihr nicht entkommen: Für Ausländer sind die Grenzen geschlossen.
Ohne Bitterkeit
Der Ungar Sándor Lénárd sitzt 1938 in Rom fest. Der 28-jährige hat in Wien Medizin studiert, er übersetzte, schrieb Gedichte – und floh nach Hitlers Besetzung Österreichs in die italienische Hauptstadt. Als Jude kann er nicht nach Ungarn zurück, Reichsverweser Horthy verabschiedet dort gerade die ersten Rassengesetze nach dem Vorbild der Nürnberger. Lénárd hat eine deutsche Ehefrau und einen Sohn in Wien zurückgelassen. Von ihnen ist in Am Ende der Via Condotti, seinem Bericht über sechs Jahre in römischer Illegalität, keine Rede. Der junge Mann muss eine beneidenswerte Gabe besessen haben, sich ohne Bitterkeit auf neue Situationen einstellen zu können.
Soziale Geschmeidigkeit, vielfältige Talente und seltenes Glück lassen ihn alle Nöte meistern, die einem Ausländer ohne Papiere in Italien begegnen können. Diese Operette kennt nämlich allgegenwärtige Geheimpolizisten, sie droht mit Haft und Folter. Außerdem ist Hunger ein ständiger Begleiter, denn Brotmarken erhält ein illegaler Ausländer natürlich nicht. Als die Barschaft erschöpft ist, lebt Lénárd einige Wochen auf der Straße.
Italienisch lernen mit Marinetti
Doch dem Erzähler von Am Ende der Via Condotti kann nichts die Laune verderben. Die Brotmarken erwähnt er nicht einmal. Dies ist ein Tatsachenbericht, ruft er dem Leser und sich wiederholt zu, wenn sein Erzählen die Erlebnisse im Exil mal wieder in recht amüsante Anekdoten verwandelt hat: Lénárd will mit einem Buch Italienisch lernen und erfährt später, dass dessen Autor, ein gewisser Futurist namens Marinetti, einen recht ambitionierten Stil pflegt und zudem in einer teilweise erfundenen Sprache schreibt. Lénárd pflegt einen todkranken großen Clown, der ihm Hoffnung auf ein Erbe macht, sich nach seinem Ableben aber als einfacher Zirkusarbeiter erweist. Er dient anderen Ungarn als Reiseführer durch eine Stadt, die ihm ganz und gar unbekannt ist. Er spielt mit einem spanischen Fürsten stundenlang auf zwei Klavieren Bach und muss beim Verlassen des prächtigen Palazzo den Diener um zwei Lira anbetteln, um den Schlafplatz in der Rom umkreisenden Straßenbahn bezahlen zu können. Er misst Menschen in Apotheken den Blutdruck und schickt sie mit einem stets leicht beunruhigenden Ergebnis – Ach, zu hoch! Ach, zu niedrig! – zum Arzt um die Ecke, der mit ihm gemeinsame Sache macht.
Irgendwann bemerkt Lénárd, dass er in praktisch jedem Haus des alten Viertels nahe dem Petersdom schon einmal Kranken geholfen hat. Und hebt an zu einem Lobgesang auf die Straßen um die Via Condotti, in denen er immer wieder Zimmer fand. Hier seien schon im letzten Jahrhundert, noch vor Mussolinis Schwarzhemden, Garibaldis „Jungs“ eingebrochen, ohne dass sie das Leben der Römer hätten verändern können. Der Fremde hat also eine Heimat in der faschistischen Capitale gefunden. Viel besser als ihm in seinem erzwungenen Bohèmeleben geht es vielen Einheimischen schließlich auch nicht.
Alltag eines Illegalen
Solch einen Exilanten findet man nicht alle Tage. Einzig die Unterhaltungen der Flüchtlinge im Caffè Greco, die sich die ganze Nacht an einem Glas festhalten, ähneln anderen Emigrantengeschichten: die rastlosen Erörterungen von immer neuen Möglichkeiten zur Auswanderung, die aufgeregt weitererzählten Gerüchte, die Kommentare der jüngsten politischen Ereignisse. Es kommt nicht oft vor, dass Lénárd sich in dieser treffend „Geographische Gesellschaft“ genannten Gemeinschaft einfindet. Er ist zielstrebig und hungrig und bald, man merkt es kaum, so diskret erzählt der Mann seine Geschichte, verliebt. Lauter als das Lob der jungen Geliebten fällt jedenfalls das der Bibliotheken aus, in denen Lénard Trost bei den „ewigen Büchern“ sucht.
Am Ende der Via Condotti ist das Werk eines hoch gebildeten Menschen – und eines Causeurs. Sandor Lénárd erzählt aus dem Abstand von zehn Jahren anekdotisch, aber nie leichtfertig: Auf manche Pointe folgt ein Halbsatz zum Sterben in deutschen Konzentrationslagern. Die literarischen Schwächen verzeiht man Lénárd gern: Der rätselhafte, Bach liebende spanische Fürst geht über längere Zeit verloren, manche Unterhaltung in der Geographischen Gesellschaft zieht sich hin, die Bekannten wirken recht typisiert.
Mit der Zeit möchte man mehr von dem Autor wissen, als er preiszugeben bereit ist. Das charmante Parlando über die Fährnisse des Illegalen-Alltags bei äußerster Diskretion gegenüber der Ehefrau in Wien und der Geliebten in Rom macht neugierig auf diese seltene Persönlichkeit. Gleich zwei Nachworte wollen die Neugier befriedigen. Sie erzählen, dass Sándor Lénárd nach Brasilien zog, unter anderem Pu der Bär ins Lateinische übersetzte und von einem selbsternannten Nazijäger als KZ-Arzt Joseph Mengele verleumdet wurde. Sein brasilianisches Leben war offenbar ähnlich reich an Absurditäten wie das römische.
Bildnachweis:
Via Condotti in Rom, von Nicolas Gemini
Lizenz CC BY-SA 3.0
Am Ende der Via Condotti. Römische Geschichten
Bericht · Aus dem Ungarischen übertragen und mit einer biografischen Notiz versehen von Ernö Zeltner · Mit einem Nachwort von György Dalos
dtv 2017 · 348 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3423281126
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