In unseren Lektüretipps weisen wir auf Bücher hin, die uns begeistert, erschüttert, erheitert haben: Klassiker, Entdeckungen, Kuriositäten.

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Ein kleines, nicht besonders anziehendes Männlein mit schlechtem Benehmen wird plötzlich zur Projektionsfläche für die Gesellschaft. Die Leute sind von seinem Haar fasziniert. Sie finden eigentlich nicht viel an ihm auszusetzen. Sie loben ihn für Verdienste, die nicht seine eigenen sind. Nachdem er sich einen Namen als Entertainer gemacht hat, steht seinem kometenhaften politischen Aufstieg nichts mehr im Weg. Dass er dafür nicht im Mindesten qualifiziert ist, scheint kaum jemanden zu stören. Und sogar diejenigen, deren Leistungen er für sich reklamiert, stehen auf eigenartige Weise in seinem Bann.

Die Geschichte von Klein Zaches ist auch eine Satire auf Gesellschaft und Politik – und sie wirkt nach der US-Wahl im November 2016 verblüffend frisch. Aber sie erschöpft sich nicht im Satirischen. Hoffmann versteht es hervorragend, die Ambivalenz der Wahrnehmung in der Balance zu halten. Alles ist zugleich grenzenlos und beschränkt, fantastisch und alltäglich, erhaben und lächerlich.

Als der verliebte Student Balthasar in der Waldeinsamkeit seinen Gedanken nachhängt, wird daraus eine Urszene der romantischen Ironie:

Erst jetzt fühlte er es recht, wie unaussprechlich er die schöne Candida liebe, aber auch zugleich, daß seltsam genug sich die reinste innigste Liebe im äußern Leben etwas geckenhaft gestalte, welches wohl der tiefen Ironie zuzurechnen, die die Natur in alles menschliche Treiben gelegt. Er mochte recht haben, ganz unrecht war es indessen, daß er sich darüber sehr zu ärgern begann.

Und als ein Stiftsfräulein und ein Gelehrter sich zum Nachmittagskaffee treffen, wird im nächsten Augenblick ein Special-Effects-Feuerwerk abgebrannt:

[…] damit breitete sich ihr seidenes Kleid aus, und sie schwebte als der schönste Trauermantel auf zur Decke des Zimmers. Doch sogleich sauste und brauste auch Prosper Alpanus ihr nach als tüchtiger Hirschkäfer. Ganz ermattet flatterte der Trauermantel herab und rannte als kleines Mäuschen auf dem Boden umher. Aber der Hirschkäfer sprang miauend und prustend ihm nach als grauer Kater. Das Mäuschen erhob sich wieder als glänzender Kolibri, da erhoben sich allerlei seltsame Stimmen rings um das Landhaus, und allerlei wunderbare Insekten sumseten herbei, mit ihnen seltsames Waldgeflügel, und ein goldenes Netz spann sich um die Fenster. Da stand mit einemmal die Fee Rosabelverde, in aller Pracht und Hoheit strahlend, im glänzenden weißen Gewande, den funkelnden Diamantgürtel umgetan, weiße und rote Rosen durch die dunkeln Locken geflochten, mitten im Zimmer. Vor ihr der Magus im goldgestickten Talar, eine glänzende Krone auf dem Haupt, das Rohr mit dem feuerstrahlenden Knopf in der Hand.

Angaben zum Buch
E.T.A. Hoffmann
Klein Zaches genannt Zinnober
Ein Märchen
Reclam Verlag 1998 • 150 Seiten • 4,40 Euro
ISBN: 978-3150003060
Bei Amazon oder buecher.de

Digital:
zeno.org
Projekt Gutenberg
• Gratis herunterladbares E-Book (Projekt Gutenberg, verschiedene Formate)

Bildnachweis:
Beitragsbild: Giuseppe Arcimboldo, Der Frühling. Gemeinfrei, via Wikimedia Commons (bearbeitet)
Buchcover: Reclam Verlag
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Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

6 Kommentare

  1. Zeitgenossenschaft eben – genau solche Texte sind ja mit diesem Terminus gemeint, alt und doch immer wieder aktuell. Jenes Bild von des Kaisers neuen Kleidern. Und es ist ja nicht nur Trump, der lediglich ein Spezialfall der USA ist: Im Kleinsten zeigt sich das Ganze. Klein Zaches lehrt, bei allem, was uns begegnet, genau hinzuschauen, die Idealisierungen und Moralisierungen, die Menschen vornehmen, zu prüfen. Oder mit Kant gesprochen: Es ist allein der kritische Weg noch offen.

    Daß E.T.A. Hoffmann dabei eine Neigung zum Alkohol besaß, (pokalieren, wie er es in seinen Tagebüchern nannte) macht die Angelegenheit genußvoll und manchmal auch komisch. Insofern ist dann auch dieser Satz aus “Klein Zaches” eine feine Persiflage auf die Wissenschaftsbetriebe aller Zeiten ist: „Ebenso schreibt er jetzt (wenigstens gibt er es vor) eine Abhandlung darüber, warum der Wein anders schmeckt als Wasser und auch andere Wirkungen äußert, …“ Um diese Wirkungen, wie auch die Wirkung der unbändigen Phantasie wußte Meister Hoffmann sehr gut. Eine wundervolle Geschichte und ein Lektüretipp, dem ich mich nur anschließen kann.

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    1. Anselm Bühling 28. November 2016 um 15:48

      Ja, das wäre noch mal ein ganz anderer Aspekt: Die Geburt der psychedelischen Literatur aus dem Geiste des Punsches.

  2. Juergen Mueller 28. November 2016 um 18:17

    Hier möchte ich unbedingt auf den schönen Text von Franz Fühmann “Klein Zaches genannt Zinnober” aus dem Band “Essays, Gespräche, Aufsätze. 1964-1981” (Hinstorff 1983) bzw. als Nachwort in: Hoffmann, E.T.A. (1978): Klein Zaches genannt Zinnober. Leipzig: Insel Verlag 1978 (= Insel-Bücherei. 618) hinweisen.

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  3. @ Anselm: Du denkst dabei sicherlich an Hoffmanns Erzählung “Der goldene Topf”. Ein Stück postmoderne Literatur, ein Rausch der Einbildung, der sich aus dem Punschtopf entspinnt. Zumindest wenn man das Ende liest, stellt sich dieser Eindruck ein. Nichts geschehen, alles imaginiert, beim Ausschlafen des Rausches. König Alkohol erzählt die schönsten Geschichten.
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    Danke auch, Jürgen Mueller, für den Hinweis auf Fühmann.

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  4. Anselm Bühling 29. November 2016 um 12:10

    Genau, der „goldene Topf“ ist da das Paradebeispiel. Er ist in Russland übrigens bekannter als hier; oft kommt die Rede darauf, wenn jemand erfährt, wie ich mit Vornamen heiße. ;-)

    Und ja, die Romantik als Postaufklärung hat viel mit der Postmoderne zu tun. Es ist kein Zufall, dass die Derrida-Schülerin Sarah Kofman über Hofmann geschrieben hat.

    Vielen Dank auch von mir an Jürgen Müller für den wichtigen Hinweis auf Fühmann!

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  5. “König Alkohol erzählt die schönsten Geschichten.” dem London, dem Hofmann, dem Capote. Es gab mal bei Wohltat ein Buch: “Rauschgiftesser erzählen” – die Kapitel aufgelistet nach dem Stoff, aus dem die Träume sind. Schöner Titel, Rauschgift erzählt wäre vielleicht noch besser gewesen.
    Leider macht der Rausch nicht nur gute Bücher und himmlische Erbauung, sondern auch die schlechtesten Tweets. Nachts, wenn der Teufel kam…

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