Irmgard Keuns Roman Nach Mitternacht ist 1936 noch in den letzten Monaten ihrer inneren Emigration entstanden. Wie kaum ein zweites Buch erzählt er von der inneren Verfasstheit einer Gesellschaft, die durch Führergefolgschaft und Rassenwahn gekennzeichnet ist. Hierbei kommt Irmgard Keun zugute, dass sie selbst die Transformation der deutschen Gesellschaft in den ersten Jahren der Hitlerdiktatur aus nächster Nähe sehen konnte: Sie emigrierte erst Anfang 1937, anders etwa als Klaus Mann, der Deutschland unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung verlassen hatte und der daher in seinen Romanen Keuns Tiefenschärfe naturgemäß nicht erreichen konnte.

Die Phrasen der Hitlerdiktatur

Plottragender Rahmen ist ein sogenannter Führerbesuch in Frankfurt am Main (wahrscheinlich im Jahr 1936) und die Folgen dieses Besuches für die psychische Konstellation der Stadtbewohner.

Hauptperson ist die Ich-Erzählerin Susanne, genannt „Sanna“. Mit ihrem betont naiven Ton ist sie prädestiniert dafür, die hohlen Phrasen der Hitlerdiktatur zu demaskieren. Sie lebt in Frankfurt am Main, davor in Köln, kommt aber aus dem ländlichen Moselgebiet, ein persönlicher Hintergrund, dank dem sie schon den ersten performativen Widersprüchen der Nazis auf die Schliche kommt.

Nach der „Führerrede“ sitzt sie mit Freunden in einer Kneipe und reflektiert Hitlers Hang zum Ruralen:

… ich habe tausendmal lieber eine große Stadt. Man darf so was ja nicht sagen heutzutage wegen der Weltanschauung und der Regierung. Es ist nicht gut und edel, eine Stadt lieber zu haben und schöner zu finden.
[…]
Trotzdem werden die Städte immer größer gebaut, und Autostraßen werden angelegt auf den dampfenden Erdschollen. Der Sinn der Erdschollen besteht darin, dass die Dichter sie besingen müssen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen und nachzudenken, was in den Städten los ist und mit den Menschen.

Eine Gesellschaft im Rausch

Was in den Städten und mit den Menschen seit Hitlers Machtergreifung los ist, das beschreibt Irmgard Keun in ihrem Roman. Die Nazis und insbesondere Adolf Hitler haben eine ganze Gesellschaft in einen Rausch hineingezogen, in Ekstase versetzt, ja hypnotisiert. Die Schilderung des „Führerbesuchs“ gleicht der Schilderung eines heutigen Pop-Konzerts: dieselbe Begeisterung, dieselbe Verehrung.

Sanna beschreibt die Minuten auf dem Frankfurter Opernplatz bevor der Führer kommt:

Rechts auf der Seite vom Opernplatz, wo es so parkartig ist, hatte sich ein schwarzes Meer von Menschen gebildet, die bewegten sich auf und ab in langen Wellen. Über ihnen schwamm müdes Licht.
[…]
Manchmal wurden aus dem Meer von Menschen ohnmächtige Frauen von SS-Männern fortgetragen.

Eine halbe Seite später erscheint dann Hitler selbst:

Heil Hitler, näher kam der Mengen Ruf herangewellt, immer näher.
[…]
Und langsam fuhr ein Auto vorbei, darin stand der Führer wie der Prinz Karneval im Karnevalszug. Aber er war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand.

Hitler hat der Welt nichts zu geben, er bietet nur eine leere Hand. Was für eine Metapher! Diese bejubelte leere Hand wird die Welt, das ahnte damals die Mehrheit der Deutschen nicht, teuer bezahlen müssen.

„Rassegesetze“ im Alltag

Sanna erzählt von einer „Reihendurchbrecherin“. Es sind in Szene gesetzte Kinder, die es, vorherbestimmt und geplant, „schaffen“, die Absperrungen zu durchbrechen, um dann mit einem Blumenstrauß dem Führer entgegenzulaufen. In Nach Mitternacht ist die zuvor bestimmte „Reihendurchbrecherin“ schwer erkältet, sie schafft es nur bis zu einem SS-Mann und wird später hochfiebernd an Entkräftung sterben. Diese Sequenzen, die Trauer der zuvor so stolzen Familie, sind die stärksten in diesem erstaunlichen Roman.

Auch die Rassegesetzgebung wirkt in Sannas Alltag hinein. So „geht“ Sannas Freundin Gerti mit einem „Mischling erster Klasse“:

Jedenfalls darf die Gerti nichts mit ihm zu tun haben, weil doch Rassegesetze sind.

Aber Gerti „hat mit ihm zu tun“.

Später hört Sanna einen Nazi und Stürmerleser – sie nennt ihn „Stürmermann“ – die Welt erklären:

Der Stürmermann hat Neues über Juden und Freimaurer herausgefunden, und zwar daß die Fünf- und Zehnpfennigstücke in einem furchtbaren Zusammenhang mit dem Judentum stehen und damit mit den Freimaurern.

Die Nazis nährten die großen Verschwörungserzählungen – und sie ernährten sich ihrerseits davon.

Das inszenierte Nichts

In dieser gesellschaftlichen Stimmung, einer explosiven Gemengelage aus Verschwörungserzählungen und enthemmter Freude, wird jeder schief angeschaut, der nicht mitmacht. In der Folge gedeiht das Denunziantentum:

„Mütter zeigen ihre Schwiegertöchter an, Töchter ihre Schwiegerväter, Brüder ihre Schwestern, Schwestern ihre Brüder, Freunde ihre Freunde, Stammtischgenossen ihre Stammtischgenossen, Nachbarn ihre Nachbarn. Und die Schreibmaschinen klappern, klappern, klappern…“

Das furiose Finale dieses Romans findet, titelgebend, nach Mitternacht statt. Eine merkwürdige Mischung aus „verbotenen“ Menschen findet sich nach dem Kneipengelage zu einer privaten Fete zusammen. Sannas Liebe hat sich angekündigt, der Franz aus Köln. Das weiß der Leser seit Beginn des Buches, und nun löst sich das Geheimnis seiner Abschieds-Andeutungen: Franz muss Deutschland verlassen, denn er hat einen SA-Mann getötet, der ihn zuvor als Kommunisten denunziert hatte. Und Sanna wird mitgehen…

Die popähnliche Inszenierung des Nichts, die Ungeheuerlichkeit der sogenannten Rassegesetze, die Verschwörungserzählungen und zuletzt das eklige Denunziantentum: Das alles wirkt, als habe ein historisch versierter Erzähler von heute die wichtigsten Facetten des Dritten Reichs zusammengetragen und in Form eines inneren Monologs literarisch aufgearbeitet. Aber es war eine Zeitzeugin ohne Quellenstudium: Ihre einzige Quelle war ihr Erleben. Denn man muss davon ausgehen, dass Irmgard Keun alle geschilderten Situationen in Nach Mitternacht so oder ähnlich selbst erlebt hat.

Mit dem Wunsch nach Veröffentlichung dieses Romans war ein Bleiben in Deutschland nicht mehr möglich. Die Autorin Irmgard Keun floh, wie ihre Hauptperson und Ich-Erzählerin Susanne, ins Exil. Im Amsterdamer Querido-Verlag veröffentlichte sie 1937 einen der erstaunlichsten Romane der deutschen Emigrationsliteratur.

Nun liegt er erstmals seit langem wieder vor, mit einem vorzüglichen Nachwort von Heinrich Detering.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Reichsparteitag 1934
Bundesarchiv

Angaben zum Buch

Irmgard Keun
Nach Mitternacht
Roman
Claassen 2022 · 208 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3546100342

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Von Herwig Finkeldey

Ein Kommentar

  1. Bravo!!!
    Irmgard Keun ist eine der wenigen deutschen Stimmen von damals, auf die wir Nachkommen stolz sein dürfen. Seit ich (vor Jahrzehnten) ihre kurze Satire “Dienen lerne beizeiten das Weib” gelesen habe, steht sie bei mir stilistisch auf der Stufe von Heine, menschlich noch ein paar Stufen höher.
    Die dreibändige Ausgabe sollte allen Lehrenden und Studierenden geschenkt werden.

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