Dies ist der dritte Beitrag der Reihe „Passagen aus der sowjetischen Literaturgeschichte“. Weitere Beiträge:
Das Philosophenschiff
Das Narrenschiff

Am 17. August 1933 bricht in Leningrad eine Gruppe von 120 Schriftstellern und Kulturschaffenden zu einer Exkursion auf. Die Teilnehmer stammen aus allen Republiken der Sowjetunion. Sie sollen per Schiff den Weißmeer-Ostsee-Kanal befahren, der kurz vor der Eröffnung steht. Unter ihnen sind bekannte Autoren wie Alexei Tolstoi, Boris Pilnjak und Michail Soschtschenko. Auch der Literaturtheoretiker Viktor Schklowski reist mit. Er hofft, seinen älteren Bruder Wladimir wiederzusehen. Wladimir Schklowski ist im „Weißmeer-Ostsee Besserungsarbeitslager“ (BelBaltLag) inhaftiert – als einer unter Zehntausenden von Strafgefangenen, die den Kanal innerhalb von zwei Jahren mit einfachsten Mitteln errichtet haben, fast ohne Baumaschinen, Stahl oder Beton.

Der Weißmeer-Ostsee-Kanal ist ein Prestigeprojekt des ersten Fünfjahresplans, der 1929 verabschiedet worden war. Josef Stalin hat inzwischen die uneingeschränkte Macht in Staat und Partei. Er treibt die Industrialisierung der Sowjetunion in rasantem Tempo und mit brachialen Methoden voran. Hunderttausende werden in den „Besserungslagern“ interniert und müssen Zwangsarbeit leisten. Zu ihnen zählen Bauern, die im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft deportiert wurden ebenso wie Straftäter und politische Gefangene. Viele sterben an den Strapazen und Entbehrungen.

Häftlinge beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals

Die Schiffsreise auf dem Kanal dient der Öffentlichkeitsarbeit. Die mitfahrenden Autoren sollen den Bau des Kanals als Musterprojekt der Industrialisierung darstellen und dabei berichten, wie Strafgefangene durch Arbeit zu nützlichen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft „umgeschmiedet“ werden. Genrich Jagoda, der Verantwortliche für den Kanalbau, hat die Reise zusammen mit Maxim Gorki organisiert. Gorki ist erst kurz zuvor endgültig in die Sowjetunion zurückgekehrt. Nach der Zerschlagung des „Allrussischen Hilfskomitees für die Hungernden“ im Jahr 1921 hatte er lange Zeit im Exil verbracht, dabei die Verbindung zur sowjetischen Regierung jedoch nie abreißen lassen. Jagoda, Literaturliebhaber und persönlicher Freund Gorkis, hat als Leiter der Geheimpolizei OGPU seit Ende der 1920er Jahre erheblich dazu beigetragen, die Rückkehr des Schriftstellers in die Sowjetunion vorzubereiten. Gorkis endgültige Heimkehr 1932 wird medienwirksam inszeniert. Spätestens ab diesem Zeitpunkt gilt der weltberühmte proletarische Autor auch in der Sowjetunion als wichtigster Repräsentant der sozialistischen Literatur.

Maxim Gorki und Genrich Jagoda

Die Betreuung der Kulturschaffenden übernimmt die OGPU. Semjon Firin, OGPU-Hauptmajor und Leiter des BelBaltLag, begleitet die Gruppe. Die Reisenden werden opulent bewirtet: Es gibt Kaviar, Stör, Schweinebraten, geräucherte Wurst, Schokolade, Wodka, Wein und Champagner. Schklowski hat keinen rechten Appetit – er muss an die Hungerkatastrophe im Süden der Sowjetunion denken, die infolge der Zwangskollektivierung ausgebrochen ist.

Die Autoren besichtigen das Lager, in dem Schklowskis Bruder und Tausende anderer Gefangene – offiziell „Kanalarmisten“ – inhaftiert sind. Die Schauspielerin Tamara Iwanowa, die ihren Mann, den Schriftsteller Wsewolod Iwanow, auf der Reise begleitet, erinnert sich:

Sie zeigten uns potemkinsche Dörfer – mir war das schon damals klar. Ich konnte nicht an mich halten und fragte Wsewolod und Michail Soschtschenko: Merkt ihr denn wirklich nicht, dass der Auftritt der ‚umgeschmiedeten‘ Häftlinge Theater ist und die Hütten mit Palisadenzäunen und die mit sauberem Sand bestreuten Wege bloß Kulissen? Sie erwiderten aufrichtig (beide glaubten an die Möglichkeit des Umschmiedens), dass man einen Menschen vor allem in sehr gute Verhältnisse bringen müsse, um ihn umzuerziehen – in ganz andere Verhältnisse als die, aus denen er in die Welt des Verbrechens geraten sei. […] So unwahrscheinlich es klingt: Sowohl Wsewolod als auch Soschtschenko glaubten ihnen. Und vor allem, sie wollten glauben.

Im Lager kommt es zu einer heiklen Begegnung. Die Schriftsteller treffen überraschend auf einen inhaftierten Kollegen, den Dichter Sergei Alymow. Der ehemalige Futurist und Autor des beliebten Liedes „Über Täler, über Höhen schritt die Division voran“ ist als Redakteur für die Lagerzeitung Perekowka („Die Umschmiedung“) verantwortlich. Alymows Moskauer Bekannte versuchen, die Verlegenheit mit Schulterklopfen und Scherzen zu überbrücken, aber er spielt nicht mit. Schließlich setzt sich der Lyriker Alexander Besymenski beim Lagerkommandanten Semjon Firin, der die Gruppe begleitet, für Alymow ein. Alexander Awdejenko, der als junger Nachwuchsautor mit dabei ist, beschreibt die Szene in seinen Erinnerungen so:

Sascha Besymenski konnte es nicht lassen, zu witzeln: „Serjoscha soll hier die Schubkarre über Täler, über Höhen schieben.“ Alle lachten, auch Firin. Alymow brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. Seine Augen verdüsterten sich wie eine aufgequollene Regenwolke. Besymenski machte sich die heitere und offensichtlich freundschaftliche Stimmung Firins zunutze und sagte: „Semjon Grigorjewitsch, ich muss einfach ein gutes Wort einlegen und Sie bitten, dem Kollegen die Strafe zu verkürzen.“ „Schon geschehen. Alymow wird bald nach Moskau zurückkehren.“ Mit diesen Worten entfernte sich Firin, weil er zu tun habe. „Serjoscha, weshalb bist du denn nun hier gelandet?“ fragte Besymenski jetzt ganz im Ernst. Der Kanalarmist Alymow winkte ab und kletterte weinend auf die obere Pritsche.

Agitationsplakat aus der Zeit des Kanalbaus:
„Kanalarmist! Durch heiße Arbeit schmilzt dein Strafmaß“

Viktor Schklowski hat noch in Moskau die Genehmigung für Treffen mit seinem inhaftierten Bruder Wladimir erwirkt. Beide haben sich lange nicht mehr gesehen. Der zutiefst gläubige Wladimir – er hat als Philologe Dantes De vulgari eloquentia erstmals ins Russische übersetzt – ist im nachrevolutionären Russland wegen illegaler Missionstätigkeit und politischer Unzuverlässigkeit immer wieder verhaftet worden. Schon vor Jahren hat er den Kontakt zu seinem jüngeren Bruder Viktor eingestellt, weil er ihn nicht in Schwierigkeiten bringen möchte.

Viktor Schklowski

Denn auch dieser befindet sich in einer heiklen Lage. Er gehörte in den ersten Revolutionsjahren der Partei der Sozialrevolutionäre an und galt damit als Gegner der Bolschewiki. 1922 war er über die zugefrorene Ostsee nach Finnland geflohen, um einer Verhaftung als Konterrevolutionär zu entgehen. Nach zweijährigem Exil, das er überwiegend in Berlin verbracht hat, ist er 1924 auf eigenes Ersuchen, unterstützt durch die Fürsprache Gorkis und Majakowskis, in die Sowjetunion zurückgekehrt. Die literaturtheoretischen Arbeiten der Gruppe OPOJAZ („Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache“), der er Anfang der zwanziger Jahre angehörte, werden inzwischen als „Formalismus“ verurteilt. Im Jahr 1930 muss er sie öffentlich als wissenschaftlichen Irrtum widerrufen. Es gelingt ihm, sich als vielseitiger und produktiver Autor zu etablieren, aber der Makel des ehemaligen Konterrevolutionärs bleibt an ihm haften.

Das Wiedersehen der beiden Brüder im Gulag fällt kurz aus. Gut vierzig Jahre später erinnert sich Viktor Schklowski daran im Gespräch mit der italienischen Slawistin Serena Vitale:

Ich hielt die Tränen zurück, als ich ihn sah. „Erkennst du mich?“ flüsterte ich. „Nein“, erwiderte er mit fester Stimme – er hatte Angst um mich. Oder vor mir?

Viktor lässt seinem Bruder ein Päckchen Zigaretten da. Auf die Frage des begleitenden Aufsehers, wie er sich nach der Begegnung fühle, antwortet er: „Wie ein lebender Fuchs im Pelzladen.“

Das Buch Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal

Die sowjetische Presse berichtet ausgiebig über die Reise der Autoren. Die Teilnehmer selbst publizieren zahlreiche Artikel und Aufsätze. Anfang 1934, anlässlich des XVII. Parteitags der KPdSU (B), erscheint das Buch Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal: Geschichte des Baus 1931-1934. Herausgegeben wird das Gemeinschaftswerk von Maxim Gorki, Leopold Awerbach, einem Schriftsteller, Literaturfunktionär und glühenden Stalinisten, sowie Semjon Firin, dem Leiter des Besserungslagers BelBaltLag. Die Fotos stammen von Alexander Rodtschenko, einem der bekanntesten konstruktivistischen Maler und Grafiker Russlands. Zu den 36 genannten Autoren gehört auch Sergei Alymow. Die Mitarbeit ist der Preis für seine Freilassung, die nach seinem Tränenausbruch bei dem Gespräch im Lager eilig in die Wege geleitet worden war.

Am häufigsten taucht im Inhaltsverzeichnis jedoch der Name Viktor Schklowski auf. Er hat an mehr Kapiteln mitgearbeitet als alle anderen Autoren. Sein Bruder Wladimir kommt noch im gleichen Jahr frei, nachdem er sein Strafmaß verbüßt hat und, wie Zehntausende anderer Zwangsarbeiter, nicht mehr benötigt wird. Denn der Weißmeer-Ostee-Kanal ist vollendet. An seiner Einfahrt prangen die Bildnisse von Stalin und Jagoda.

Die Einfahrt zum Weißmeer-Ostsee-Kanal. Links und rechts sind die Porträts von Stalin und Jagoda. Das Foto wurde 1933 aufgenommen. Das Porträt Jagodas wurde nachträglich unkenntlich gemacht.

Nach der Fertigstellung des Kanals übernimmt Genrich Jagoda die Leitung des Geheimdienstes NKWD. Im August 1936, zwei Monate nach Maxim Gorkis Tod, leitet er den ersten Moskauer Schauprozess. Im März 1937 wird er selbst als Volksfeind verhaftet. Im dritten Schauprozess, ein Jahr später, zählt er zu den Hauptangeklagten.

Jagodas Todesurteil wird unverzüglich in der Lubjanka vollstreckt, der Zentrale des Geheimdienstes, den er geleitet hat. Im August 1937 werden die beiden noch lebenden Herausgeber des Buches ebenfalls erschossen – Leopold Awerbach und der ehemalige Gulag-Kommandant Semyon Firin. Sein Häftling Wladimir Schklowski überlebt ihn um drei Monate, bevor diesen das gleiche Schicksal trifft. Nur Sergei Alymow bleibt verschont. Er stirbt 1948 bei einem Autounfall.

Das Buch über den Weißmeer-Ostsee-Kanal wird drei Jahre nach Erscheinen aus dem Verkehr gezogen. Zu viele der Namen, die darin vorkommen, gehören inzwischen Volksfeinden.


Quellen:

  • Avdejenko, Ak´leksandr: Nakazanie bez prestupleniya
    Sovetskaja Rossija, 1991
  • Ivanova, Tamara: Ešče o «nasledstve», o «dolge» i «prave».
    Byl li Vsevolod Ivanov «ždanovcem»?
    Knižnoe obozrenie. 1989. № 34
  • Klein, Joachim: Belomorkanal. Literatur und Propaganda der Stalinzeit
    Zeitschrift für Slavische Philologie, 1995/1996, LV, 53-98
  • Vitale, Serena: Shklovsky: Witness To An Era
    Translated by Jamie Richards
    Russian Literature, 2013
    ISBN: 978-1564787910
  • Website: Vladimir Šklovskij (1889-1937)
    Voda živaja – Sankt-Peterburgskij cerkovnyj vestnik
  • Artikel der russischen Wikipedia, insbesondere:

Belbaltlag
Belomorsko-Baltijskij Kanal
Belomorsko-Baltijski Kanal imeni Stalina (kniga)
Maksim Gor’kij
Jagoda, Genrich Grigor’evič

  • Artikel der deutschen Wikipedia:

Wiktor Borissowitsch Schklowski
Genrich Grigorjewitsch Jagoda

Bildnachweis:
Beitragsbild: Bauarbeiten am Weißmeer-Ostsee-Kanal 1932 (Panoramabild)
Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Häftlinge beim Bau des Weißmeerkanals

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Maxim Gorki und Genrich Jagoda
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Agitationsplakat aus der Zeit des Kanalbaus
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Viktor Schklowski
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Buch „Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal“: © auction-imperia.ru
Einfahrt zum Weißmeer-Ostsee-Kanal 1933
Gemeinfrei, via Wikimedia Commons
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Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

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