Das Etikett „Migrationsliteratur“ ist heikel. Den minderen Werken dieser Thematik verschafft es unverdiente Aufmerksamkeit, die großen Werke, die kein Label brauchen, macht es kleiner. Auch die 1983 in Prizren geborene Autorin Meral Kureyshi mag den Begriff Migrationsliteratur nicht. Seit 1993 lebt sie in der Schweiz; ihr Debüt Elefanten im Garten kam im vergangenen Jahr sogleich auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises.
Edward Albee sah sich bekanntlich nicht als schwulen Dramatiker, sondern als Dramatiker, der zufälligerweise schwul ist. Könnte man analog auch von Meral Kureyshi sagen, sie sei eine Autorin, die nur zufälligerweise aus der türkischen Minderheit im Kosovo stamme und auf Deutsch schreibe?
Ganz so einfach ist es nicht, schließlich ist der Wechsel von der einen Welt in die andere der Stoff ihres Buchs. Die Herkunft spielt eine Rolle. Doch was das Buch eigentlich ausmacht, ist nicht der Stoff, sondern der Stil: die Art und Weise, wie es vom Ende der Kindheit erzählt, den Abschied vom toten Vater zelebriert, die Ankunft in der fremden Welt erkundet. Elefanten im Garten ist kein Roman, sondern ein Requiem, ein eigenes Genre zwischen Erlebtem und Erfundenem, Abschied und Aufbruch.
Mal erzählt das Kind, mal die junge Frau, mal ist es lange her, mal geschieht es jetzt. In diesem Buch wird uns keine Geschichte erzählt, sondern wir haben Teil an einem Leben. Wie im Märchen tragen die Figuren keine Namen. Sie heißen nicht, sondern sie sind, auf Türkisch: Baba (Vater), Dede (Großvater), Babaanne (Großmutter mütterlicherseits), Anne (Mutter – mit dem irritierenden Verfremdungseffekt durch die Doppeldeutigkeit).
Die Erzählung findet zu sich in einem Stil, der die Welt von früher durch die Gegenwart geistern lässt. Geld komme vom Teufel, sagt die erblindete Mutter der Ich-Erzählerin:
Mit Geld kann man den Menschen vom Leben ablenken, irreführen, täuschen, glücklich machen, töten.
(Übrigens eine der vielen raffinierten Aufzählungen in diesem Text.)
Wenn einer mit Steinen wirft, gib ihm Brot.
Einmal fasst ein Kind die Ich-Erzählerin in einer Menschenmenge versehentlich am Rocksaum:
Als ich hinunterblicke, beginnt es zu weinen. Es hat mich mit seiner Mutter verwechselt. Es weint, kann jedoch noch nicht reden, es muss zuerst alles vergessen, was vorher da war, bevor es auf die Welt kam, damit es das Geheimnis niemandem verraten kann.
Die Szene spielt sich in Bern-Bümpliz ab, doch erlebt wird sie vor der Folie des früheren Lebens im Kosovo. Bettler sind verkleidete Engel, die unsere Großzügigkeit prüfen, und ein blaues Auge – als Schmuckstück um den Hals oder in Prizren an der Hausmauer – schützt vor dem bösen Blick. In Bümpliz bekommt die Ich-Erzählerin als Dank für ein Geschenk die Floskel zu hören: „Das wäre nicht nötig gewesen.“
In Prizren sagt Dede, als er sie küsst:
Biliyormusun, ich atme ein wenig von dir in mein Herz, da bleibst du dann lange Zeit. Bei jedem Ausatmen entweicht ein bisschen Du.
Das ist einer dieser Sätze, die von woanders her in die deutsche Sprache kommen. Sanft bemächtigt sich die Sprache der deutschen Grammatik: „Bei jedem Ausatmen entweicht ein bisschen Du.“ Hätte sich eine muttersprachliche Autorin dieses „Du“ erlaubt, ja wäre sie überhaupt darauf gekommen?
Er kam nach Hause zurück, wurde müde und legte sich sterben,
heißt es später von Dede.
Meral Kureyshi beschwört Zustände herauf, malt Wahrnehmungen aufs Papier. Dass wir erleben, was wir lesen, liegt an der mikroskopischen Genauigkeit der Worte.
Der Moment, bevor jemand fotografiert wird, ist erschreckend.
Das Erstarren, das Warten, die Stille.
Das Atemanhalten und in ein dunkles Loch starren, bis es Klick macht.
In dieser Prosa gibt es verschiedene Methoden der Verdichtung, zum Beispiel eben jene Aufzählungen, in denen ein ganzer Kosmos ersteht.
Baba reinigte Flugzeuge, Büros, Schulhäuser, Bibliotheken, Läden, Kronleuchter, Autos, Kühlschränke Wohnzimmer, Fußböden, Toiletten, Mülleimer, Turnhallen, Küchen, Kaffeemaschinen, Teppiche, Musikinstrumente, Schulräume, Kinosäle und tote Muslime, bevor sie in die Erde gelegt wurden, und dann reinigte er den Tisch, auf dem sie gelegen hatten.
Elefanten im Garten ist ein schmaler Band, doch schwer wie Gold und in einer Sprache geschrieben, die gut in der Hand liegen würde, wenn man Worte anfassen könnte.
Elefanten im Garten
Roman
Limmat Verlag 2015 • 144 Seiten • 26 Euro
ISBN: 978-3-85791-784-4
Danke für die Erläuterung. Ich freue mich auf die Lektüre …