Gottfried Benn
Astern
Astern – schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.
Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?
Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du –
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,
Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.
Gerade weil das Gedicht so leicht, so ungezwungen daherkommt – das „Du“ der Rosen, eine der schönsten Metaphern für die Liebe überhaupt – , übersieht man die Fallstricke, die Benn hier ausgelegt hat.
Also ein Spätsommergedicht (kein Herbstgedicht!). Hitze, die Luft vibriert, das Ersehnte, der Rausch, die Geliebte – sie sind „noch einmal“ da. Das meint aber auch: Sie waren schon einmal da, es ist nicht mehr wie am ersten Tag! Und es beginnt nach Abschied zu schmecken.
Vordergründig ist dieses Naturgedicht nicht schwer zu verstehen – die letzten Tage des Glücks werden beschworen. Zweifellos hat der Verfasser das Goethesche „Verweile doch, du bist so schön“ geliebt. Ein Erlebnisgedicht, so scheint es, ein Stimmungsgedicht, wie Hermann Burger es in seiner Interpretation in Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie beschrieben hat.
Oder doch nicht? Es wirkt fast wie eine Illustration zu jenen Stimmungsgedichten, die Benn in Probleme der Lyrik so witzig wie treffend kritisiert.
Da ist eine Heidelandschaft und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht.
Insofern dürfte man Beate Hochbahns Kritik an Burger zustimmen. Mit dem Gedicht muss mehr los sein. Das ist es auch, wie wir gleich sehen werden. Denn natürlich ist Astern auch ein Stimmungsgedicht, beziehungsweise, und jetzt kommen wir der Sache näher: Es simuliert die Stimmungslyrik perfekt.
Die Astern, das Blau, der Süden (der „ligurische Komplex“) – all diese Chiffren kennt man von Benn, auch die Schwalben gehören dazu, deren Flug die römischen Auguren zu deuten pflegten. Sie beschwören, wie Hochbahn in ihrer Analyse zeigt, die kurzen, rauschhaften Momente, in denen der spätzeitliche, entfremdete Künstler noch einmal zu Ich und Welt findet. Die Aster ist, noch vor der Rose, die wichtigste Blume in Benns Werk. Indem er die blaue Blume der Romantik – Chiffre für das Einssein von Natur, Welt und Mensch – mit einer Herbstblume verbindet, setzt er ein „deutliche[s] Zeichen der Rücknahme utopischer Hoffnungen“, wie Beate Hochbahn es in ihrer Analyse des Gedichts formuliert.
Folgt man Hans Dieter Gelferts Rat, über die Sollbruchstelle in ein Gedicht einzusteigen, kommt man zu weiteren Einsichten. Die großartig alogische, „zögernde Stunde“ ist eine solche Sollbruchstelle, inklusive „stockendem Metrum“, das Beate Hochbahn erkennt (wenn ich auch die Zeile nicht zwingend vierhebig lesen würde). Eine Stunde kann nicht zögern, bestenfalls etwas verzögern; die Zeit tätigt, aber sie kann nicht getätigt werden.
Gottfried Benn liest sein 1936 veröffentlichtes Gedicht Astern. Aufnahme von 1948.
Benn dichtet nicht: „eine den Abschied verzögernde Stunde lang“, sondern: „eine zögernde Stunde“. Vor was oder vor wem zögert die Stunde? Vor den Göttern? Das wäre nicht möglich, denn Götter sind allmächtig und können die Zeit problemlos bezwingen, die Stunde hätte einfach zu parieren. Aber die Götter – Benn weiß es, die Stunde weiß es, wir wissen es – sind tot. Die Stunde bräuchte somit nicht zu zögern, sie könnte erbarmungslos ihr Geschäft verrichten, nämlich das der Vergänglichkeit. Die zögernde Stunde – in dieser Wendung steckt unser Traum, mit Hilfe längst toter Götter die Zeit zu besiegen, noch einmal die Regression in jene Zeit zu erleben, in der noch Einheit war. Schon bei Goethe ist es ja der Augenblick selbst, dem bedeutet wird, er solle verweilen. Dem Goethe-Kenner Benn ist natürlich nicht entgangen, wer dort, im Munde Fausts, vom Augenblick Dauer erhofft, weil er dann seine Wette gewonnen hätte. Es ist Mephisto höchstpersönlich, der alte Schlünz und Verführer.
Und die Waage? Ein Messinstrument, etwas Künstliches, etwas, das wägt, wiegt, Gleichgewicht anzeigt, sobald sie ausbalanciert ist. Sie evoziert also das klassische Kunstideal von Harmonie. Ob die Waage zugleich Benns Auffassung vom „statischen Gedicht“ meint, wie Hochbahn glaubt? Das mag zutreffen, indessen: Das Ausbalancieren der Waage soll ja angehalten werden. Würde es somit nicht eher bei der Unwucht bleiben, beim Rausch? „Alte Beschwörung, Bann“ – die Alliteration ist da, aber sie ist unrein, das “Be-” in Beschwörung ist unbetont! Die Sehnsucht wäre somit kontaminiert. Denn der kurze Rausch, der dem modernen Ich allenfalls noch möglich ist, entspricht ja gerade nicht der jugendfrischen griechischen Antike. Das ist der Rausch eines innerlich alten Mannes, einer Endzeitgestalt, zugewuchert von Jahrtausenden von Mythen. Zu dem, was einmal war – Gleichgewicht, Harmonie –, kommen wir also nur kurz, und paradoxerweise nur dadurch, dass ein Gleichgewicht aufgehoben wird! Die erbarmungslose Gewissheit wacht darüber, dass wir das nie vergessen. Und denken wir bei „Waage“ nicht auch daran, dass sie etwas oder jemanden wiegt? Sozusagen die Bilanz zieht? Gewogen und für zu leicht befunden? Sollen die alten, toten Götter, soll der kurze Rausch, dieses kurze Identitätssurrogat die Bilanz noch einmal hinauszögern? Es spricht für die Dichte dieses Benn-Textes, dass sich all diese Spekulationen – die sich untereinander ja gar nicht ausschließen – gemeinsam aufdrängen.
In Epilog und lyrisches Ich sagt Benn über sich:
Ich stamme aus dem naturwissenschaftlichen Jahrhundert; ich kenne meinen Zustand ganz genau. Bacchanal durch die Singularitäten, Konkretismus triumphal, gebrochen dann wie keines unter das Gesetz der Stilisierung und der synthetischen Funktion, abgewandelt in meinen Zentren, eine groteske Persiflage…
Und weiter:
Unmöglich, noch in einer Gemeinschaft zu existieren, unmöglich, sich auf sie zu beziehen in Leben und Beruf; zu durchsichtig die Wrackigkeit ihrer antithetischen Struktur.
Keiner hat den Riss in der Welt, die Verlassenheit der modernen Selbst- und Welterfahrung, so vehement zum Ausdruck gebracht wie Benn in seiner Prosa und in seinen Gedichten.
Der Sommer kann gelassen lehnen: Er hat seine Aufgabe bald erfüllt, nächstes Jahr wird er wiederkommen. Gilt dies auch für den Rausch, für das Du der Rosen, für die Geliebte? Die „tiefe, schrankenlose, mythenalte Fremdheit zwischen dem Menschen und der Welt“ (Epilog und lyrisches Ich) wird es wohl zu verhindern wissen. Irgendetwas wird das Werden unter den sterbenden Flügeln schon ausbrüten – nur das nicht, was jetzt vergehen wird. Und insofern ist Astern denn doch, hinterrücks, fies, ein Stimmungsgedicht im Bennschen Sinn, und es wahrt dessen Form aus guten literarischen Gründen. Es handelt von der Stimmung eines Menschen, der nur in kurzen Künstler- oder Liebesräuschen noch Identität erlebt, besser: sie sich erlügt. Also vom modernen Menschen, der weiß, dass die Götter tot sind und der von den Träumen, die sie einst meinten, wider besseres Wissen nicht lassen kann.
Also ist es ein Stimmungsgedicht über uns.
- Benn, Gottfried: Astern. In: Benn, Gottfried, StA I, Stuttgart (Klett-Cotta) 1986, S. 166
- – , Epilog und lyrisches Ich, in: Benn, Gottfried, StA III, Stuttgart (Klett-Cotta) 1987, S. 127 -133 ↑
- – , Probleme der Lyrik, in: Benn, Gottfried, StA VI, Stuttgart (Klett-Cotta), 2001, S. 9 – 44 ↑
- Burger, Herrmann: Gottfried Benn, Astern. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002 ↑
- Hochbahn, Beate: Astern. In: Steinhagen, Harald, Interpretationen – Gedichte von Gottfried Benn, Stuttgart (Reclam), 1997, S. 113 -131 ↑
- Lohner, Edgar, Passion und Intellekt, Die Lyrik Gottfried Benns, Frankfurt/Main (Fischer) 1986