„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford). Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufalls-Seite leistet.
Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.

Die Prosaminiatur ist eine faszinierende literarische Form, die sich diskret im Zwischenraum der größeren Genres Erzählung und Lyrik einnistet, leicht zu übersehen, wie die Beobachtungen, von denen sie ausgeht. Für eine Kollektion von Miniaturen könnte die Biopsie-Methodik des Page-99-Tests genau der richtige Betrachtungsansatz sein. Schauen wir mal.

Raimund Petschner, der neben einiger Prosa und Lyrik vor allem einfühlsame Rundfunkfeatures über Literatur veröffentlicht hat, deutet schon mit seinem Titel Kurze Entfernung aus dem Gespräch eine Meta-Ebene an, die vorübergehende Absenz aus einer typischen sozialen Situation. Um was zu tun? Um nachzudenken und zu schauen, nach innen oder nach außen – oder beides?

Miniaturen versprechen eine Verdichtung, ähnlich wie in der Lyrik, aber ohne deren oft strenge Formgestaltung, sie kommen beiläufiger, alltäglicher, fußgängerischer daher. Die Kunst der gelungenen Miniatur wäre daran zu messen, wie überzeugend die Verdichtung vorgenommen wird – und daran, ob der Erkenntnisertrag über das potenziell Banale des „Kleinen“ hinausreicht.

Der schreibende Blick des Autors

Dieser kurze Text umfasst knapp zwölf Zeilen, überschrieben mit „Nägel“. Zwei Dinge passieren gleichzeitig. Einerseits lenkt der Autor unseren Blick wie durch eine zoomende Kamerafahrt auf Details. Und andererseits ist die lesende Aufmerksamkeit, ähnlich wie bei einem Gedicht, deutlich erhöht, denn bei so wenig Textmaterial hat jedes einzelne Wort Gewicht. Wir gehen davon aus, dass die Einzelheiten bewusst gesehen und in der Beschreibung aufgeladen sind, wenn wir uns darauf einlassen, mit unserem lesenden Blick dem schreibenden Blick des Autors zu folgen.

Im Januar, auf dem Bodenbelag : Die abgeworfenen Blätter von der Zimmerpflanze und die im Raum verspritzten kleinen, groben Splitter vom Zehnägelschneiden vermischen sich mit gespinstig feinem Haar, das hier und da, gekräuselt, zu kleinen Büscheln zusammengeweht, eine Staubkorona trägt.

Nägel. Meine erste Assoziation geht in Richtung Handwerkliches, Wortfeld Hammer-Holz-Werken. Doch Überraschung: Wir sind woanders. Wir sind in der toten Jahreszeit (Januar, abgeworfene Blätter) und rufen ruckzuck auch etwas leicht Schlampiges auf: Ist die Pflanze nicht genug gegossen worden? Wir schauen auf den „Bodenbelag“ (ein halb technisches, halb unappetitlich-konkretes Wort: „Belag“, nicht einfach „Fußboden“), und dort tummelt und sammelt sich einiges, das man schnell übersehen und auch schnell wieder beseitigt hat, das aber fraglos die unappetitliche Aufladung verstärkt: „die im Raum verspritzten kleinen, groben Splitter vom Zehnägelschneiden“ – das ist eine unerbittlich wirksame Kombination aus Elementen, die sich keiner gern genauer ansehen möchte. Hier haben wir es also mit einem Menschen zu tun (einem Mann vermutlich, die assoziative Lesewahrnehmung setzt hier Autor und angenommene Figur gleich, egal wie unzulässig das laut der Literaturwissenschaft sein soll), einem Mann also, der seine Pflanzen nicht gießt, der sich die Zehnägel so schneidet, dass sie im ganzen Raum umherspritzen, und die kleinen (klein=perfide, mehr als man sofort sieht), groben (ungeschickt oder brachial mit der Schere quasi abgebrochenen) Splitter (scharf, also Vorsicht!) dann auch noch überall herumliegen lässt. Bis sie sich, so geht es weiter, mit feinen Härchen und Staub vermischen, „zusammengeweht“. Offenbar zieht es in dieser Wohnung im Winter auch noch!

Die Schönheit des Alltagsdrecks

Raimund Petschners feinziselierende Sprachkunst besteht nicht nur daraus, sorgfältig dieses kleine Ekelszenario aufzubauen, er verleiht ihm etwas eigenartig Ästhetisches, rein durch die semantischen Assoziationen weiterer Wörter im nahen Zusammenhang: „gespinstig fein“ und „gekräuselt“ verweisen auf Naturphänomene, die so schön sind, als hätte sie ein Künstler aufwändig gestaltet, man denkt an das Filigrane einer Pusteblume oder eines Schneekristalls; und der ordinäre Staub, der sich auf den kleinen Schmutzgebilden ablagert, wird mit dem Bild einer Krone veredelt. Der zivilisatorische Alltagsdreck bekommt die Würde von etwas Naturhaftem, erhält seine Daseinsberechtigung, weil der menschliche Blick ihn nicht nur als eklig, sondern auch als schön ausweist.

Kaum habe ich diesen überraschenden Kontrast wahrgenommen und, ja, ausgekostet, dreht Petschner ihn elegant ins Existenzielle.

Du räumst den Lebensabfall weg.

Es handelt sich, treffsicher summarisch formuliert, um Lebensabfall, und ein „Du“ – vermutlich der besagte Mann, der sich im nachdenklich-beobachtenden Selbstgespräch anredet – räumt den Abfall weg. So schnell geht das.

Der Hallraum hinter dem Lebensgeräusch

Die Öffnung in die philosophische Weite, die der Autor mit dem Wort „Lebensabfall“ vornimmt, wird im letzten Absatz zu einem ausgreifenden Pendelschwung.

Vergänglichkeit, Versinken, Verschwinden in der Jahrundaberjahrmillionennacht übt manchmal einen Sog aus –

„Lebensabfall“ führt zu „Vergänglichkeit“, wir begreifen, dass dieser Mann nicht mehr jung ist, wie ein kurzer Blitz reißt Petschner vor unserem Leseblick den Boden auf. Für eine Sekunde blicken wir in den Abgrund des Verschwindens in der ewigen, unermesslichen Nacht des Universums: die „Jahrundaberjahrmillionennacht“, die den suizidalen Sog der Tiefe ausübt. Vom Mikroskop-Blick der Nägelsplitter zum Teleskop-Blick der Ewigkeit: souverän.

Noch bevor ich den Mund beim Lesen wieder zugeklappt habe, tut Petschner einen diskreten Schritt beiseite, eingeleitet durch das einschränkende „manchmal“ dieses Sogs.

– aber das Ertrinken in Lebensabfall wäre, so scheint es wenigstens, der wahre Schrecken und etwas völlig anderes.

Petschner kehrt, wie von einem amüsierten Kopfschütteln begleitet, zurück zum Pragmatismus der Situation. Staubmäuse wegräumen ist noch nicht dasselbe wie „Ertrinken im Lebensabfall“ – wir denken an Messies, an Monate später gefundene vertrocknete Verwahrlosungsleichen, an unser aller Angst, vom stetig anfallenden Lebensabfall überwuchert, überkrustet zu werden. Aber diesem „wahre[n] Schrecken“  wollen wir uns lieber nicht aussetzen, nicht einmal in Gedanken. Der Beobachtende pfeift seine Fantasie zurück und empfiehlt uns, ihm auch darin zu folgen. Wobei er uns ganz gentlemanlike zubilligt („so scheint es wenigstens“), dies alles anders zu empfinden.

Diese Sorgfalt der Steuerung unserer Lesewahrnehmung entspricht der Feindosierung lyrischer Texte. Der diskrete Gestus in der groß schwingenden Bewegung vom Alltagsdetail zur existenziellen Unendlichkeit (und zurück) passt zur unaufdringlichen Haltung der Miniatur. Raimund Petschners Beobachtungen und Reflexionen sind ein bis ins letzte Detail kunstvolles Angebot: ohrenbetäubende Stille in dem riesigen Hallraum, der sich hinter einem minimalen Lebensgeräusch auftun kann.

PS: Wie ich erst jetzt bemerke, habe ich mir aus Versehen die Seite 98 vorgenommen statt der Seite 99. Ich glaube, Raimund Petschner würde das gefallen.

Bildnachweis:
Beitragsbild und Cover: Verlag

Raimund Petschner
Kurze Entfernung aus dem Gespräch
Miniaturen
PalmArt Press 2019 · 188 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-96258-028-5

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Von Frank Heibert

Übersetzer, unter anderem von Don DeLillo, Willam Faulkner, George Saunders, Lorrie Moore, Boris Vian, Yasmina Reza und Richard Ford. 2006 erschienen sein erster Roman „Kombizangen“ und das Jazz-Album „The Best Thing on Four Feet“ (zusammen mit der Jazz-Combo Finkophon Unlimited).

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