I.
Der Fake ist überall – egal, ob Fifty Cent mit falschen Dollarscheinen posiert, ob eine politische Initiative eine Kampagne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales imitiert oder zu viele Trägerraketen auf Bildern einer iranischen Militärübung zu sehen sind. Jan Böhmermanns klassisch gewordener Varoufake sei nur am Rande erwähnt. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Wer als Mediennutzer nicht aufpasst, steht schnell einmal als tumber Naivling da. Nicht zufällig wird das Münchner Filmfestival DOK.fest immer beliebter – Dokus sind so schön und echt. Wir haben einfach keine Lust mehr, belogen zu werden.
Die neue Behutsamkeit mit ihrem Faible für das Authentische bricht sich auch in der Gegenwartsliteratur Bahn. Vor einem Jahr wurde Karl Ove Knausgårds autobiografischer Prosa-Zyklus Min kamp durch die deutschen Feuilletons gereicht wie zuckrige Erdbeerbowle auf einer miefigen Firmenfeier. Nachdem die FAZ den ersten Band Sterben seinerzeit als „unerschrocken und souverän“ gefeiert hatte, bekannte Ijoma Mangold nun in der Zeit, „die Wucht seiner Bücher“ habe ihn förmlich erschlagen, und literaturkritik.de ergötzte sich an einer „radikal-autobiografischen Stimme der eigenen Persönlichkeit.“ Frei nach Rilkes Mantra „Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles!“ heißt es in der Welt ehrfurchtsvoll: „Man konnte sich kaum vorstellen, wie er es überstanden hatte, das alles aufzuschreiben“. Nun, Karl Ove Knausgård hat es überstanden, und er hat sich und sein Schreiben dadurch zu einem Label gemacht.
Geprägt von der skandinavischen Herkunft, ist die […] Philosophie von einer liberalen und aufgeschlossenen Haltung bestimmt: „The Freedom to be Yourself“.
Nein, wir sind nicht auf der Homepage von Knausgårds Agentur oder seinem Verlag gelandet, sondern auf derjenigen von „Marc O’Polo“. Die unternehmensphilosophische Nähe zwischen Knausgård und der Kleidermarke ist bezeichnend. Knausgård verbürgt sein Schreiben durch seinen Körper; dadurch macht er sich zum Model seiner selbst. Er gerinnt zur autorschaftlichen Werbemaßnahme in eigener Sache.
Ein gutes Jahr später hat der deutsche Buchmarkt nachgezogen und seinen früheren Pop-Buben und heutigen Ex-Junkie-Helden Benjamin von Stuckrad-Barre ins Feld geschickt. Sein Roman Panikherz wird gelobt als „ehrlich, anrührend“ (BILD), als „klug, schnell, poetisch, komisch und […] wahr“ (Ferdinand von Schirach), als „wahnsinnig und intensiv“ (Frankfurter Neue Presse). Es sei „die schönste autobiographische Literatur“ (bz-berlin.de) und warte mit „einer Wucht an Ehrlichkeit“ auf (derstandard.at). Eins hat Stuckrad-Barre seinem Kollegen Knausgård sogar voraus: 1999 hat er bereits für ein Bekleidungshaus gemodelt und auf diese Weise Arbeitsbereich und Wirkungsfeld des Autors erweitert.
Legendenbildung in eigener Sache
Beiden Autoren ist gemein, dass sie ihre Lebensbeutelungen unverhohlen als biografische Narrative verwerten und dass sie behaupten, ihr Leben 1:1 in Literatur zu transportieren. Der russische Formalist Boris Tomaševskij spricht diesbezüglich von den „›literarischen Funktionen‹ der Biographie“[1] und von der „vom Autor selbst geschaffenen Legende seines Lebens, die allein ein literarisches Faktum darstellt“. Diese Legendenbildung hinzubekommen, das ist die selbstauferlegte Aufgabe dieser beiden Wahrheits(dar)steller. Hierfür werfen sie alles in die Waagschale: ihr Familienglück, ihr Renommee, ihr Schreibtalent und ihren schriftstellerischen Körper. Der Körper wird zur Fläche, auf der so etwas wie Authentizität überhaupt noch möglich und vor allem nachweisbar ist.
Dann schon, nach wenigen Sekunden, zittert er wieder.
Mit diesem Satz endet ein taz-Artikel über eine Panikherz-Lesung von Stuckrad-Barre. Erst dieses Zittern authentifiziert Stuckrad-Barres Sprechen über seine bombastisch destruktive Junkie-Zeit; erst der live einsehbare körperliche Verfallszustand garantiert die Echtheit des fiktional behaupteten Verfalls. Nur so lässt sich der Vorwurf des Fakes und der Junkie-Travestie von sich weisen, selbst wenn dieser Vorwurf für einen literarischen Entwurf noch so widersinnig erscheinen mag.
Und Knausgård?
Die Google-Foto-Wall gibt erste Aufschlüsse über Knausgårds Label: skandinavische Herbheit, ein von einem schreckdurchsetzten Leben gegerbtes Gesicht, eine fast schon machohaft starke Präsenz – und das alles in HD. In ihrem Gehalt sind Knausgårds Porträts imagologische Pendants zu seinem Schreiben. Auch dort wird unserem geistigen Auge mit gnadenlosem Stolz jede Pore, jede Geste, jeder Gemütszustand dargeboten.
Schonungslose Nähe
Und just deswegen muss diese ganze werbewirksame Volte irgendwann in sich zusammenstürzen. Von Knausgård, der für seine unprätentiöse Wahrheitsschau und seinen ehrlichkeitsdurchdrungenen Verzicht auf Erfindung gelobt wurde, gibt es fast keine Fotos, die nicht hergerichtet wären, um einen Effekt zu erzielen – nämlich denjenigen der Zoom-Authentizität und schonungslosen Nähe. Analog hierzu ist der Min kamp-Zyklus ein monumentaler Stilkniff, um den Eindruck des Authentischen auch im Schriftlichen herzustellen, ohne dass dies als handelsübliche Effekthascherei zu erkennen (und zu entlarven) wäre. Das ist das einzige, soghaft wirksame Axiom seiner Literatur.
Aber sieht die Google-Foto-Wall nicht bei jedem Autor so aus? Die Bilder variieren, je nach Alter, Geschlecht, Herkunft sowie Stellung innerhalb des Literaturbetriebs. Wahrscheinlich ließe sich anhand der Google-Foto-Wall sogar eine verknappte Geschichte der jüngeren Literatur schreiben.
Clemens Meyers Imagologie etwa unterscheidet sich beträchtlich von derjenigen Knausgårds:
…Vielleicht war es an der Zeit, den feministischen Literatur-Ansatz der 60-70er auch Männern zugänglich zu machen;)).
(Natürlich epischer und mehr grundsätzliches Leben & Sterben (& heuer auch wieder Beben, legitim wenigstens nach Drogenkonsum). Verlangen nach Realien & Ihrer Meisterung.
…Den großen Geburts- und dann Mutterschaftsroman haben wir noch nicht? (Außer W.C. Williams, der begann einen seiner Romane damit.:)
:))), Alexandra Trencséni