Der Staat, der uns die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir müssen sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab.
(Aus: In Stahlgewittern)
Anamnese:
Risikofaktoren in Jugend und Familie
Für knapp 3.300 Deutsche herrscht auch im Jahr 2017 Krieg. Als Bundeswehrsoldaten riskieren diese Männer und Frauen im Ausland nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre seelische Unversehrtheit. Allein im Jahr 2015 sind 235 Angehörige der Bundeswehr an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) neu erkrankt. Die Dunkelziffer ist hoch, nur 20 Prozent aller Fälle werden erkannt und behandelt. Zu den Symptomen der PTBS gehören unter anderem Panikattacken, Flashbacks, unkontrollierte Wutausbrüche und der Verlust des Glaubens an die Menschlichkeit – die Krankheit macht ein normales Leben unmöglich.
Ob jemand an einer PTBS erkrankt, hängt maßgeblich vom persönlichen Hintergrund ab. Das individuelle Risiko wird durch Faktoren wie Armut oder mangelnde Bildung erhöht. Ernst Jünger, geboren am 29. März 1895, zeigt bereits in der Jugend Merkmale, die ein späteres Trauma begünstigen können. Der Apothekersohn wird früh entwurzelt, die Familie zieht vier Mal um, bevor sie bei Hannover eine Villa beziehen. Auch die schulischen Leistungen Jüngers lassen zu wünschen übrig. Über die Schulzeit schreibt er später:
So war ich bereits dazu übergegangen, mich am Unterricht nicht mehr zu beteiligen und mich statt dessen in afrikanische Reisebeschreibungen zu vertiefen, die ich unter dem Pult durchblätterte. […] Ich war im Grunde nur als Stellvertreter eines fernen Reisenden anwesend.
(Aus: Afrikanische Spiele)
Die Sehnsucht nimmt bedenkliche Formen an: Mehr als zehn Mal muss Jünger die Schule wechseln. Statt mit Freunden zu spielen, sammelt er Käfer, träumt, liest und trinkt viel. Im Winter 1913 schließlich bricht er mit seinem Umfeld: Der 18-Jährige reißt von Zuhause aus und meldet sich zur Fremdenlegion, wo er auf der Stelle gemustert und nach Algerien verschifft wird. Dort will er desertieren und ein freies Leben führen. Nach zwei Monaten endet das Abenteuer – in Deutschland hat sein Vater die Entlassung verfügt.
Die letzten Wochen vor Beginn des Ersten Weltkrieges verbringt Jünger im alten Schultrott. Der Jugendliche wird später als distanziert und kühl, sogar empathielos beschrieben. Zeit seines Lebens sucht er das gesellschaftliche Abseits. Ausgerechnet im Krieg blüht Jünger auf. Endlich gilt es, sich zu beweisen und Abenteuer zu bestehen. Dass er so denkt, überrascht nicht – Zeitgenossen wie Thomas Mann, Hermann Hesse oder Franz Kafka haben sich den Krieg ungefähr so vorgestellt:
Trauma:
Kriegszittern an der Westfront
Die Straße war von großen Blutlachen gerötet; durchlöcherte Helme und Koppeln lagen umher. […] Ich fühlte meine Augen wie durch einen Magneten an diesen Anblick geheftet; gleichzeitig ging eine tiefe Veränderung in mir vor.
(Aus: In Stahlgewittern)
Im Sommer 1914 wird der „Kriegsmutwillige“, wie Jünger sich nennt, an die Westfront verlegt. Bis zur Kapitulation im Jahr 1918 wird er 14 Mal verwundet und daraufhin mit dem höchsten Orden des Deutschen Kaiserreichs dekoriert. Für den einfachen Frontsoldaten ist der Krieg ein Karriereschub, Jünger bringt es bis zum Kompanieführer. Trotzdem zweifelt auch er am Sinn des Schlachtens. In seinem Kriegstagebuch heißt es:
Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen, der wert war zu leben. Was soll das Morden und immer wieder Morden?
Erstmals zeigt sich der Krieg in seiner totalen Form. In vier Jahren sterben 10 Millionen Soldaten, weitere 20 Millionen werden verletzt oder verkrüppelt. Und die moderne Psychiatrie wird mit einem neuen Phänomen konfrontiert: der Kriegsneurose. Immer mehr Soldaten kehren seelisch gebrochen von der Front zurück. Weil die Belastungsstörung bei einigen Betroffenen auch zu körperlichen Symptomen führt – einem krampfanfallartigen Schütteln –, nennt man sie Kriegszitterer:
Die Behandlung der Kriegsneurotiker ist ein besonders düsteres Kapitel in der Geschichte der Psychiatrie. Sigmund Freud, der sich von den Methoden seiner Kollegen distanziert, berichtet von Elektroschocks, mit denen die Betroffenen gequält werden, um, so wörtlich, “das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst [zu machen]”. Wer die Behandlung überlebt, darf zurück an die Front. (Aus: Sigmund Freud, Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker)
Ob auch Ernst Jünger im Krieg traumatisiert wurde, kann heute nicht abschließend geklärt werden. Manche seiner Biografen entdecken deutliche Hinweise für eine seelische Verwundung im Leben des Schriftstellers. Er selbst hat sich nicht öffentlich dazu geäußert. In seinem Werk findet Jünger jedoch eindringliche Bilder für die Todesangst, der ein Soldat ausgeliefert ist:
Man stelle sich vor, ganz fest an einen Pfahl gebunden und dabei von einem Kerl, der einen schweren Hammer schwingt, ständig bedroht zu sein. Bald ist der Hammer zum Schwung zurückgezogen, bald saust er vor, dass er fast den Schädel berührt, dann wieder trifft er den Pfahl, dass die Splitter fliegen – genau dieser Lage entspricht das, was man deckungslos inmitten einer schweren Beschießung erlebt.
(Aus: In Stahlgewittern)
Hier ist sicherlich Ort und Gelegenheit, ergänzend an den Neurologen Hermann Oppenheim zu erinnern. Er hat als erster die Kriegsneurose oder “traumatische Neurose” (heute porttraumatische Belastungstörung) deskriptiv als das erfasst, was sie auch war und ist: Eine absolut adäquate Reaktion auf eine absolut irrsinnige Situation. Wenn auch seine damalige, pathophysiologische Erklärung noch unzureichend gewesen gewesen sein mag.
Dass ihm akademische Anerkennung versagt blieb, hatte v.a. mit seinem Unwillen zu konvertieren zu tun; und dann war es später wohl auch die Folge seiner Forschungen zu den Kriegszitterern. Nicht die “schwachen, undeutschen Nerven” des “unheldischen Versagers” waren schuld sondern die unheldische Situation Krieg? Das konnte ja nur von einem Juden kommen, so der damalige, deutschnationale Konsens. Die von ihm initiierte Gesellschaft Deutscher Nervenärzte wurde folgerichtig 1935 aufgelöst. Seine Erkenntnisse waren nicht gefragt. Und genau hier verflechtet sich sein Schiksal mit dem Ernst Jüngers. Denn hätte sich sein Konzept durchgesetzt, so mancher Jünger des Heldentums (der Kalauer sei mir erlaubt) wäre vielleicht bekehrt worden und hätte nicht wie Ernst Jünger seine posttraumatische Störung mit Hilfe von Drogen kuppieren müssen. Auch viele IS-Kämpfer, die aus Kriegsgebieten stammen, nehmen Drogen und sind was das Töten angeht abgestumpft. Das dürfte kein Zufall sein.
Abschließend fällt mir noch Heiner Müller ein, der über Jünger sinngemäß sagte, dass er vor den Frauen den Krieg erfuhr.
Ich fand in Ernst Jüngers Prosa zu viele Spuren für Bearbeitung, Umstellung, Herausstreichen, Verschweigen und Triumph, als dass ich seine Prosa für Zeugnisse von Erlebnissen lesen könnte, aus denen man etwas lernen könnte über Spuren von Krieg und Leid im Krieg. Als Offizier war Jünger privilegiert. Jünger war gern Soldat und suchte das Soldatenleben so sehr, dass er sogar zur Légion étrangère im Süden Frankreichs ging.