Am Donnerstag, den 24. Februar 2022, hat eine jener Epochen begonnen, in denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Über allem, worüber wir reden und über allem, was wir tun, hängt ein „eigentlich“: Angesichts der Katastrophe in der Ukraine scheint auf einmal alles müßig.

Der Ernstfall

Der Ausnahmezustand erreicht unser Bewusstsein, auch wenn wir nicht dazu verurteilt sind, ihn zu leben. Den meisten von uns dürfte dieser Zustand nicht ganz unvertraut sein, sei es wegen der Pandemie oder, viel grundlegender und schon viel länger, angesichts der Erderwärmung. Apokalyptisch anmutende Waldbrände in den USA, Sibirien, Griechenland, Überschwemmungen und Dürre, der Verlust von Grönland-Eis und Regenwald – es verstört nicht nur mich, dass all das bisher nicht genügt hat, um den Ernstfall auszurufen.

Seit diesem verfluchten Donnerstag, den 24. Februar 2022, sitzt uns der Ernstfall in den Knochen. Es war ein Ernstfall, mit dem wir nicht rechnen wollten, trotz der furchtbar präzisen Vorhersagen der Geheimdienste. Dass eine Atommacht einen Krieg vom Zaun brechen könnte gegen ein Land, von dem keinerlei militärische Bedrohung ausgeht, überforderte unsere Vorstellungskraft. Nun sind wir aus dem “Nie-wieder-Krieg-Dornröschenschlaf” erwacht, wie es meine Freundin Stephanie Jaeckel auf ihrem Blog ausdrückt.

Niemand kann sich Macht nehmen

„Putin is small and pale, so cold as to be almost reptilian”, notierte sich Madeleine Albright nach ihrer ersten Begegnung im Jahr 2000. Wie kann es sein, dass so ein kleiner Mann, emotional verkrüppelt und paranoid, das Schicksal Europas in der Hand hat? Niemand kann sich Macht nehmen. Sie wird ihm gegeben, und behalten kann er sie nur solange, wie andere tun, was er sagt. Jede Rakete, die in Kiew einschlägt, wurde von jemandem bedient, der tut, was man ihm sagt. Den atomaren Sarkophag von Tschernobyl hat nicht Putin „erobert“, sondern seine Handlanger. Es sind Handlanger, die wissen, was sie damit möglich machen (noch etwas, was wir uns lieber nicht vorstellen wollen).

Was tun? Man müsste Putin das Handwerk legen – das schreibt sich so leicht hin und scheint doch so unmöglich. Erstaunlicherweise gibt es einen Text, der dafür eine Anleitung liefert. Er stammt aus dem 16. Jahrhundert und wurde von dem damals wohl kaum 18-jährigen Étienne de la Boétie verfasst: Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft. Michel de Montaigne war vier Jahre mit Étienne de la Boétie befreundet, bevor dieser mit 32 Jahren starb, wahrscheinlich an der Ruhr. Mit seinem Essay „Von der Freundschaft“ setzte Montaigne dem Freund ein Denkmal und rettete ihn damit für die Nachwelt, für uns.

Den Tyrannen verdorren lassen

In den Trump-Jahren wurde de la Boéties Anleitung zur Subversion wieder ausgegraben: Angesichts von Trumps Präsidentschaft drängte sich die Frage auf, warum Wählerinnen und Wähler ihre Stimme einem Herrscher geben, der gegen ihre eigenen Interessen arbeitet und ihre Werte zerstört. (Stoßseufzer: Immerhin ist Trump nicht mehr der mächtigste Mann der Welt, sonst würde er nun den zweitmächtigsten bei seinem Krieg anfeuern und unterstützen.)

Über die Tyrannen schreibt de la Boétie:

je mehr sie zerstören und plündern, je mehr man ihnen gibt und je mehr man ihnen dient, desto stärker und kraftvoller, alles zu zernichten und zu zerstören, werden sie; aber sobald man ihnen nichts mehr gibt, sobald man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie, ohne dass es weiterer Gewalttätigkeit bedarf, nackt und kraftlos da und sind nichts mehr und dörren ab, gleich der Pflanze, welcher man die Feuchtigkeit und Nahrung entzogen hat.

Druck von außen und von innen

Es wäre suizidal, einen mutmaßlichen Psychopathen, der über Atomwaffen verfügt, militärisch von außen zu bekämpfen. Umso wichtiger ist es, den nicht-militärischen Druck von außen maximal zu erhöhen und auch vor Sanktionen nicht zurückzuschrecken, deren Folgen wir selbst zu spüren bekommen: die Abhängigkeit von russischer Energie beenden (auch abrupt), Russland aus dem SWIFT-System werfen, russische Konten in der Schweiz sperren.

Druck von außen wird Putin nur dann weh tun, wenn er auch uns selbst wehtut. Und er wird allein nicht genügen. Um Putin die Macht zu nehmen, braucht es nicht zuletzt die, die sie ihm bisher gegeben haben: die eigenen Untertanen, seine Soldaten, Köche, Ärzte, Geheimdienstler, sein eigenes Land. Nur sie können seine Energiequellen trockenlegen und ihn verdorren lassen.

Auch wenn wir uns in einer komfortablen Position befinden, sind wir durchaus nicht nur Zuschauer: Es geht um die Freiheit in der Ukraine, in Russland, und letztlich auch bei uns. Wir können nur gemeinsam dafür kämpfen, und wie beim Klimawandel gilt auch hier: Je länger wir den Kampf aufschieben, desto höher der Preis.

Verweigerung

Es erfordert immensen Mut, sich von innen gegen dieses Regime zu stellen, das immer noch von so vielen loyalen Handlangern getragen wird. Doch die Proteste in den russischen Städten, die offenen Briefe von Celebrities und Wissenschaftlern richten sich auch ans Ausland: Der Druck nach innen steigt, wenn sie von der Welt zurück gespiegelt werden. Die Verbreitung dieser Botschaften gehört erst noch zu den Maßnahmen, die nichts kosten.

Man muss den Tyrannen gar nicht töten, es reicht, ihm nichts mehr zu geben, das ist die gute Nachricht aus dem Text von de la Boétie. Sie könne es vor ihrem Gewissen nicht verantworten, von einem solchen Staat weiterhin ein Gehalt zu beziehen – mit dieser Begründung ist Elena Kovalskaya als Direktorin des Meyerhold-Theaters zurückgetreten. Sie liefert damit ein Vorbild für den gewaltfreien Widerstand. Er könnte eine Macht entfalten, der mit Gewalt nicht beizukommen ist.

Bildnachweis:
Beitragsbild: © Jan Buchholz
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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

11 Kommentare

  1. Psychopaten neigen dazu,
    andere mit in den Abgrund zu reißen…

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  2. Ich finde das alles sehr gut gedacht und auch sehr gut gemeint. Fraglich ist nur, wie realitätsnah es war, ist und sein wird, und dies nicht nur, weil der erwähnte Autor in einem voratomarer Jahrhundert gelebt hat. Wenn ich mich recht erinnere, ist das Ende des Despotismus zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt im Regelfall gleichzusetzen gewesen mit dem Ende des Despoten. Das heißt nicht, dass ich zur Tötung Putins aufrufen will. Er aber hat sicher schon die Ermordung des bewundernswert tapferen ukrainischen Präsidenten Selenskyj befohlen. Darin liegt vermutlich das Ziel des Treffens an der belarussisch-ukrainischen Grenze morgen, Montag, dem 28.2.2022, denn über was dort eigentlich verhandelt werden sollte, ist ja niemandem klar. Ich frage mich die ganze Zeit über, ob Putin vielleicht nichts mehr zu verlieren hat, ob er eine tödliche Krebsdiagnose erhalten hat, denn bei allen Planungen von langer Hand müsste doch auch mitgedacht worden sein, dass er selbst Ziel einer todbringenden Attacke werden könnte. Putin hat in seinem ersten und in seinem bislang letzten statement mit dem atomaren Krieg gedroht. Sein belarussischer Vasall Lukaschenko lässt die Verfassung des eigenen Landes ändern, so dass dort demnächst russische Truppen und atomare Waffen dauerhaft stationiert werden dürfen. Heute morgen hat Friedrich Merz in seiner Rede auf der Bundestag-Sondersitzung durchblicken lassen, dass er eine bessere Ausrüstung der Bundeswehr wichtiger findet als die Friedensgebete seiner eigenen Partei. Ich bin anderer Ansicht: Sollte es einen Gott des Atomzeitalters geben, dann hoffe ich inbrünstig auf seine Gnade. Putin wird uns, soweit es in seiner Macht liegt, möglicherweise nicht gnädig sein.

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  3. Dr. Dieter von Münster-Kistner 28. Februar 2022 um 11:54

    Bei Psychopathen besteht die Gefahr, wenn sie zu sehr in die Enge getrieben werden erst recht reagieren. ER könnte dann auch zum “Letzten Mittel” greifen = Atomare Waffen! Das wäre eine absolute Katastrophe. Das Droh-Zehnario baut er ja bereits auf. Man muss ihm, auch wenn es schwer fällt die Möglichkeit geben, ohne großen Gesichtsverlust aus der Sache raus zu kommen. Wie das aussehen kann, das ist Diplomatie, die im Moment aus westlicher Sicht nicht zu sehen ist. Oder man bringt seine eigenen Leute dazu, die Sache zu erledigen.

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  4. Oh, welch erbauliche Sichtweise 😔 Recherchieren sie manchmal auch Hintergründe, oder begegnen sie Krisen immer mit solcherlei unvergleichlich lösungsorientierten Vorschlägen?

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  5. Hans Bolfing 9. März 2022 um 16:03

    Friedensgebete als Gegenmittel gegen Schurken? Und dann wird sich Putin in seinen Palast am Kap Idokopas zurück ziehen und meditieren, im Swimmingpool seine Muskeln stählen und sich auf ein glückseliges Jenseits vorbereiten?
    Ich habe immer gedacht, den Schurken ginge es um Machtmissbrauch (manchmal nennen sie es Verantwortung) und Geld. Eigentlich ganz irdische Dinge.

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    1. Wo lesen Sie in meinem Beitrag etwas über Friedensgebete? Es geht um Befehlsverweigerung.

  6. Hans Bolfing 9. März 2022 um 16:54

    Nicht in Ihrem Beitrag, aber im Kommentar von Elke Heinemann, wo sie auf Gottes Gnade hofft.

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  7. “Und er wird allein nicht genügen. Um Putin die Macht zu nehmen, braucht es nicht zuletzt die, die sie ihm bisher gegeben haben: die eigenen Untertanen, seine Soldaten, Köche, Ärzte, Geheimdienstler, sein eigenes Land. Nur sie können seine Energiequellen trockenlegen und ihn verdorren lassen.”
    Ein interessanter Gedanke, aber wenn das in der Realität funktionieren würde, gäbe es auf der Welt längst keine Diktaturen mehr. Und was die Sanktionen betrifft; das wird seit acht Jahren gemacht und hat bisher nichts gebracht, außer bei uns die Preise zu erhöhen. Der Putin verkauft sein Öl, sein Gas usw dann einfach an die über eine Milliarde chinesen, oder die Inder, die Iraner, die Mongolen, die Kasachen usw usw.

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  8. Das Problem sehe ich im “man”, das sich leicht sagen läßt, niemand Bestimmten und zugleich alle zu meinen vorgibt.
    Dahinter verbirgt sich ein Dilemma der conditio humana schlechthin: wenn jemand von >manIchIchmanmanZeitmeinensagen<
    Sie ist eine, die dem Sprechen immanent ist (und worauf bereits Hegel und später Wittgenstein sehr detailliert hingewiesen haben).
    Die Form des adäquaten Widerstand gegen einen Tyrannen läßt sich daher vorab nie verallgemeinert sagen, weil nicht "meinbar": sie obliegt dem Chaos der keinem Ziel und Zweck geschuldeten Historie.

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    1. Das stimmt natürlich. Ich sehe in de la Boéties Aufsatz eher ein Gedankenmodell. Es kann helfen, im Chaos der Historie eine Entscheidung zu fällen. Der Gedanke allerdings bleibt verführerisch: Wenn Marina Owsiannikowa in den russischen Staatsmedien Nachahmer:innen findet, ist es mit Putin rasch zu Ende…

  9. […] Quasi (m)eine persönliche Linkschleuder, vor allem für Lesenswertes zu aktuellen Sachlagen in Politik und Zeitgeschehen. Ich lese im Web viel und auch thematisch vielfältig. Kleines Beispiel? Heute morgen verschickte ich diesen Link: tell-review.de/die-macht-der-verweigerung. […]

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