Mona Sarkis: Herr Abouzahr, Sie haben 2015 im Internet „Lughatuna“ („Unsere Sprache“) lanciert, ein Online-Lexikon, in dem man nach arabischen Wörtern und Bedeutungen suchen kann – und zwar sowohl nach hocharabischen Worten, als auch nach Ausdrücken im ägyptischen oder levantinischen Dialekt. Wie kam es dazu?
Hossam Abouzahr: Ich bin halb Libanese, halb Amerikaner und in den USA aufgewachsen. Das Hocharabische habe ich mir selbst beigebracht. Irgendwann dachte ich mir, andere im Ausland aufwachsende Araber könnten ähnliche Probleme haben, sich dieser Sprache zu nähern. Und erst recht natürlich alle Nicht-Araber – deshalb kann man auch englische Begriffe in die Suchmaschine eingeben. Das Grundproblem ist ja: Einerseits gibt es das Hocharabische, mit seinem immensen Wortschatz und seiner hochkomplizierten Grammatik. Sich das anzueignen, ist schon schwierig genug. Wer soweit vorgedrungen ist, wird aber entnervt feststellen, dass er sich deshalb noch lange nicht mit den Arabern im Alltag verständigen kann. Die sprechen nämlich von Region zu Region derart unterschiedliche Dialekte, dass sie einem beinahe wie verschiedene Sprachen vorkommen. Und all diese Dialekte weichen ihrerseits stark vom Hocharabischen ab. Umgekehrt gilt dasselbe: Wer durch den Umgang mit Einheimischen den tunesischen, ägyptischen oder jemenitischen Dialekt beherrscht, kennt keineswegs automatisch die entsprechenden hocharabischen Ausdrücke.
Bevölkerungsexplosion und Bildungsmangel
In Ihrem kürzlich erschienenen Artikel „Standard Arabic is on the Decline“ befürchten Sie, dass das Hocharabische ganz hinter die Dialekte zurückfällt. Nur das Hocharabische verfügt über eine allseits verbindliche Schriftsprache: Man kann zwar auch im Dialekt schreiben, aber im Prinzip nur nach Gusto, denn für die dialektalen Phoneme existiert keine Schrift. Doch die Lesebereitschaft und die Buchproduktion tendieren in den arabischen Ländern beinahe gegen Null. Laut einem Bericht der Frankfurter Buchmesse von 2013 hat der gesamte Mittlere Osten mit seinen 360 Millionen Einwohnern im Jahr 2011 gerade einmal 17.000 Titel produziert. Genauso viele wie Rumänien mit 21 Millionen Einwohnern.
Es gab viele Diskussionen wegen meines Artikels, und ich muss zugeben, dass es problematisch ist, einen definitiven Rückgang des Hocharabischen postulieren zu wollen. Die Gegenfrage würde ja lauten: Gab es je ein goldenes Zeitalter, in dem jeder Araber seine Hochsprache perfekt beherrscht hat?
Ein gewisser qualitativer Abwärtstrend ist aber durchaus festzustellen: In den fünfziger Jahren saßen in einer Universitätsvorlesung etwa vier Studenten. Heute platzen die Säle aus allen Nähten. Doch das Bildungssystem in den arabischen Ländern hat mit der Bevölkerungsexplosion und der raschen Urbanisierung keineswegs Schritt gehalten. Offensichtlich beunruhigt die Obrigkeit schon die bloße Vorstellung, dass Straßenkinder anfangen könnten nachzudenken.Die Dozenten sind überfordert, oft sind sie selbst mangelhaft ausgebildet, und sie unterrichten nach veralteten Methoden: Schüler und Studenten müssen hauptsächlich auswendig lernen – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stoff ist nicht gefragt.
Natürlich existieren Statistiken, die diesem Gesamtbild zu widersprechen scheinen, weil sie in fast allen Ländern einen beachtlichen Rückgang des Analphabetismus verzeichnen. Aber was besagt das? Nur weil jemand einen kurzen Artikel in der Zeitung lesen kann, ist er noch lange nicht des Hocharabischen mächtig. Die Qualität dessen, was die meisten Printmedien – oder noch schlimmer: das Internet – produzieren, ist dazu viel zu schlecht. Zudem wurde mir von einer lokalen Organisation berichtet, dass vielerorts getrickst oder bestochen wird, um die Alphabetisierungs-Tests zu bestehen.
Wie stark hängt die Qualität der arabischen Erziehungssysteme mit dem Unwillen der Diktaturen zusammen, in ihre Bevölkerungen zu investieren?
Sie investieren durchaus! Zumindest Geld. Laut einem diesjährigen Bericht der UNESCO stecken die Regime 10 bis 20 Prozent ihres Jahresbudgets in den Erziehungssektor. Das Schulnetz ist in allen Staaten gut ausgebaut, und der Besuch der Institutionen – teilweise sogar der höheren – ist fast überall kostenlos. Gerade Mädchen profitieren davon. Aber Quantität allein ist keine Lösung. Es fehlt an Qualität und an Nachhaltigkeit.
Andererseits stimmt es, dass für die Regime eine kritisch denkende, proaktive Bevölkerung eine Bedrohung wäre. Erst jüngst wurden unter Abdel Fattah el-Sisi in Ägypten zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen, die Straßenkinder unterrichteten. Offensichtlich beunruhigt die Obrigkeit schon die bloße Vorstellung, dass Straßenkinder anfangen könnten nachzudenken.
Englisch bedeutet Prestige
Voraussichtlich werden diese Kinder kaum imstande sein, fünf zusammenhängende hocharabische Sätze zu artikulieren, sie sprechen nur den eigenen Dialekt oder Slang. Paradoxerweise können das aber auch nur die wenigsten Absolventen der Eliteuniversitäten in den reichen Golfstaaten.
Das Phänomen ist hier anders gelagert. In den Golfemiraten – etwa an der Universität von Qatar – wurde das Hocharabische zeitweise sogar ganz aus dem Curriculum gestrichen. Viele Emiratis streben Karrieren in internationalen Unternehmen an, und um hier zu bestehen, benötigt man Englisch. Das kommt den Golfarabern ohnehin entgegen, denn sie wachsen mit dieser Sprache auf – allein schon, um sich mit den zahllosen nicht-arabischen Arbeitsmigranten in ihren Ländern zu verständigen.
Soweit klingt also alles pragmatisch. Aber natürlich existieren noch ganz andere Motive: Viele versprechen sich vom Englischen ein Prestige, welches das Hocharabische ihres Erachtens nicht mit sich bringt. Alles ist unglaublich aufgeladen. Viele junge Araber wollen diese Zwänge abschütteln.Und das hat mit Identität zu tun. De facto kann man in arabischen Staaten kein Araber sein, ohne sich zu einer bestimmten Politik und bestimmten religiösen Lesarten zu bekennen.
Lassen Sie es mich so veranschaulichen: Mein Vater ist als Libanese in den siebziger Jahren vor dem Bürgerkrieg in die USA geflohen. Er begann alles zu hassen, was ihm in seinem Herkunftsland als Identität angetragen wurde. Letztlich hasste er den Islam, den Arabismus, den ganzen Mittleren Osten. Ich hingegen wuchs in den USA auf, wo mir kein Mensch sagte, was arabische und muslimische Identität bedeuten oder welchem Religionsgelehrten ich folgen muss. Stattdessen habe ich so gebetet, wie ich wollte, bis zu dem Punkt, dass mein eigener Vater mich um meine Unbekümmertheit beneidet hat. Denn in einem arabischen Land hast du keine Chance, frei zu entscheiden, sondern wirst sofort in eine Ecke gedrängt: „Bist du ein Muslimbruder?“ „Was denkst du über Kopten?“ „Über Kurden?“ „Bist du Nationalist?“ „Wieso bist du nicht in der Gemeinde dieses oder jenes Scheichs?“
Alles ist unglaublich aufgeladen. Viele junge Araber wollen diese Zwänge abschütteln. Und da ihr Hochschulzeugnis ihr gesamtes künftiges Leben bestimmt, vernachlässigen sie ihr Hocharabisch und vertiefen sich, sofern sie Mittel und Möglichkeiten dazu haben, in Fremdsprachen, um Arbeitsstellen mit globalen Marktchancen zu ergattern.
Die im Westen gängigen Assoziationen von Islam mit Rückständigkeit oder Gewaltbereitschaft tragen das Ihrige bei zu dieser Flucht vieler vor „dem Arabertum“.
Natürlich. Aber dass so viele Einheimische ihren Dialekt kultivieren und dem Hocharabischen abwehrend gegenüberstehen, hängt in erster Linie damit zusammen, dass sie ihre Regime ablehnen. Das kann unbewusst geschehen oder auch ganz bewusst wie etwa bei dem Ägypter Ahmad Fuad Negm (1929-2013), der als Volkspoet und lebenslanger Revolutionär galt und alles im ägyptischen Dialekt verfasst hat. Seine Autobiografie ist ein einziger erhobener Mittelfinger gegenüber den arabischen Führern. Während der Revolution von 2011 zitierten viele ägyptische Demonstranten aus seinem Gedicht „Wer sind die, wer sind wir?“
Wer kontrolliert die Sprache?
Weil das standardisierte Hocharabische der einzig reibungsfreie Kommunikationsweg zwischen allen 360 Millionen Arabern ist, wird es von Politikern, Religionsführern und Medien eingesetzt. Also: von „denen“. „Wir“, das Fußvolk, haben ohnedies nichts zu sagen – weswegen wir uns kurzerhand auf unsere dialektalen Planeten zurückziehen. Ist das die unbewusste Überlegung, die viele Araber anstellen?
Ich denke schon.
Aber wie erklären Sie sich dann den Stolz und die Selbstverständlichkeit, mit der arabische Normalverbraucher aus Werken von Klassikern wie Ibn Arabi, al-Mutanabbi oder Zeitgenossen wie Mahmud Darwisch und Nizar Qabbani zitieren? Ich persönlich kenne jedenfalls keinen deutschen Gemüsehändler, der ganze Passagen von Goethe, geschweige denn von Gottfried Benn oder Elfriede Jelinek aus dem Ärmel schütteln kann. Hat die Liebe der Araber zu ihren Dichtern auch etwas mit dieser Selbstverweigerung gegenüber ihren Politikern zu tun? Nach dem Motto: Wir sprechen nicht euer Hocharabisch – wohl aber das der genuin großen Araber.
Natürlich spielt der Stolz auf diesen Geist eine Rolle, wie etwa im Fall von Mahmud Darwisch als dem Verfechter der palästinensischen Sache, und viele mögen seine Worte durchaus begriffen und verinnerlicht haben. Dass das Hocharabische lebt, sieht man allein daran, dass ständig neue Begriffe entstehen.Allerdings denke ich, dass Dinge oft aus ihrem Kontext losgelöst und einfach aufgesagt werden. Das ist auf das Auswendiglernen zurückzuführen, das alle arabischen Schulsysteme von klein auf antrainieren. Was den Arabern fehlt, ist die Fähigkeit, selbst zu produzieren. Sie können zu wenig in ihrer eigenen Sprache lesen, schreiben und daher denken. Ich bin überzeugt, dass viele, die Darwisch zitieren und meinen, ihn zu kennen, keinerlei Gefühl dafür haben, wie meisterlich er die Regeln der Grammatik befolgt und sie genau dort bricht, wo er es benötigt und so, dass es dennoch Sinn ergibt.
Die Beziehung der Araber zum Hocharabischen steht demnach auf durchaus tönernen Füßen. Zugleich haben Sie Ihrem Online-Lexikon einen interessanten Namen gegeben: „The Living Arabic Project“. Welches Arabisch lebt denn Ihres Erachtens?
Sie werden lachen: nicht zuletzt das Hocharabische. Dass es lebt, sieht man allein daran, dass ständig neue Begriffe entstehen. Oder längst vergessene Begriffe in neuem Kontext auftauchen. Auch die Spielräume um die potenzielle Bedeutung von Worten sind heiß umkämpft, etwa in punkto Religion. Extremistische Gruppierungen versuchen, das Plündern zu rechtfertigen, indem sie bekannte Begriffe in neue, selbst erfundene Kontexte setzen und ihnen so andere Bedeutungen verleihen. Insofern steht das Hocharabische keineswegs auf einem Abstellgleis. Die Frage ist nur, wer die Kontrolle über die Sprache erlangt. Charismatische Scheichs in den Moscheen? Oder nicht so charismatische Politiker im Fernsehen? Meinem kleinen Sohn, der parallel zum levantinischen Dialekt das Hocharabische erlernt, versuche ich jedenfalls immer einzuschärfen: Du kannst vieles kontrollieren. Aber nur, wenn du deine Sprache kontrollierst.