Wenn wir uns gedankenlos getrunken haben
aus einem langen Sommerabend
in eine kurze heiße Nacht
wenn die Vögel dann früh
davonjagen aus gedämpften Färbungen
in den hellen tönenden frischgespannten Himmel

wenn ich dann über mir in den Lüften
weit und feierlich mich dehne
in den mächtigen Armen meiner Toccata

wenn du dann neben mir im Bett
deinen ausladenden Klangkörper bewegst
dich dumpf aufrichtest und zur Tür gehst

und wenn ich dann im ersten Licht
deinen fetten Arsch sehe
deinen Arsch
verstehst du
deinen trüben verstimmten ausgeleierten Arsch
dann weiß ich wieder
daß ich dich nicht liebe
wirklich
daß ich dich einfach nicht liebe.

Copyright:
Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2014

Karin Kiwus‘ Im ersten Licht ist eines der bekanntesten Gedichte der 1970er Jahre. Es wurde erstmals 1976 veröffentlicht (Suhrkamp), und es findet sich in so gut wie jeder relevanten Anthologie. Auch in Ulla Hahns Stechäpfel, einem Band mit 300 Gedichten von Frauen (ein Gedicht pro Dichterin), ist Karin Kiwus mit Im ersten Licht vertreten.

Doch Freundinnen und Freunde der Lyrik sind rar gesät; ich unterstelle, dass die meisten von Ihnen das Gedicht noch nicht kannten. Die Kennerinnen und Kenner bitte ich, bei dem folgenden Gedankenexperiment mitzumachen: Nehmen wir einmal an, wir würden das Gedicht heute Abend bei einem Poetry Slam hören, als ein im Jahr 2017 verfasstes Gedicht, in Konkurrenz mit Gedichten etwa von Xochil A. Schütz.

Wären Sie überrascht?

Nicht wirklich, oder? Das Gedicht ist, in seiner ganzen Kunstart, ein typisches Slam-Gedicht, und wegen seiner Qualitäten wäre es – hoffentlich – der Sieger des Abends. Das Gedicht sagt sozusagen „du“ zu uns, vielleicht auch „Ey, du“. Jedenfalls ist sein Klang vertraut. Das hat Gründe, stil- und literaturgeschichtliche, aber auch allgemeingeschichtliche.

Nach dem Rausch

Verständnisschwierigkeiten sollten sich vorderhand nicht einstellen. Ein Paar erlebt eine Sommernacht und verliert sich in ihr, hat Sex, und im ersten Licht gewinnt die Frau sich wieder, nachdem sich beide in der Liebesnacht noch „gedankenlos getrunken haben“. Ihr erster klarer Gedanke nach dem Rausch ist: Nein! Dieser hier ist es nicht. Kein glückliches Lallen, sondern ein präzises Benennen von Defiziten. Keine Sehnsucht nach dem schönsten Tag im Leben einer Frau, sondern ein sachliches, selbstbewusstes und anrührend unverschämtes Bewerten und Aussortieren.

Was noch? Einiges! SIE hat die Toccata (eine ausgeschriebene Improvisation) komponiert, in deren „mächtigen Armen“ sie sich dehnt, SIE bespielt IHN, nicht umgekehrt, er ist ihr Instrument! Und am Ende hat sie ihn gewogen und für zu leicht befunden. Sein „Klangkörper“ bürgt wenig für Harmonie – „trübe“, „dumpf“, „verstimmt“, „ausgeleiert“ ist sein „Arsch“. Aber nicht nur das lyrische Frauen-Ich macht hier im wahrsten Sinn des Wortes die Musike – auch die Autorin Karin Kiwus dreht die etablierte Rollenverteilung um: ER ist IHRE Muse, wird zu einem großartigen Gedicht vernutzt, und dann auch noch zu einem, das ihm einigermaßen herzlos den Laufpass zustellt.

Metaphern der Alltagslyrik

Das Gedicht darf als eine Ikone der „Neuen Subjektivität“ gelesen werden. Der Begriff wurde von keinem Geringeren als Marcel Reich-Ranicki geprägt und meint Literatur, die das Sujet „Alltag“ mit scheinbar alltäglichen sprachlichen Mitteln zum Ausdruck bringt. Die Rede ist auch von „Alltagslyrik“, in ihr ging es um (ich tippe das Wort vor Kühnheit zitternd) Authentizität. Die Betonung aber lag immer auf „scheinbar“. Einer der Protagonisten der Alltagslyrik war Jürgen Theobaldy.

„Der metaphysische Zauber, hervorgerufen mit Sprache, ist sowenig das Poetische schlechthin wie Poesie an sich einen Wert darstellt. Viel Mißtrauen in ihr Geschick und in ihre Zukunft ist nötig, will man sich nicht in einen Winkel begeben, aus dem nur mehr poetische Posen hervorkommen. Ich benutze die gewöhnlichen Wörter, wie sie in den Pausen gesprochen werden, in Kneipen, in möblierten Zimmern und in zu engen Wohnungen.“

Das schreibt Jürgen Theobaldy in der Nachbemerkung zu seinem Gedichtband Zweiter Klasse, erschienen 1976 – sozusagen DAS Glaubensbekenntnis der Alltagslyrik. Wie Rudolf Drux 1981 feststellte, beruht Theobaldys These, die Alltagslyrik sei eine quasi metaphernfreie Lyrik, auf einem Selbstmissverständnis. Drux‘ kühler Nachweis, wie metaphernreich Theobaldys Gedicht Ein Bier, bitte in Wahrheit sei, ist vor diesem Hintergrund heute noch ziemlich witzig zu lesen.

Und so auch hier: Karin Kiwus‘ Gedicht spielt den Metaphernbereich der Musik(alität) konsequent durch und verwebt ihn mit Körperlichkeit. Das ist alles andere als bloßes Dokumentieren eines beendeten Liebesspiels. Das sind keine Fakten, das sind nicht bloße Subjektivismen, das ist  hochartifiziell, gerade im Gegensatz zu Karl Krolows irrigem Diktum des „Fehlen[s] von artifiziellem Kalkül“ (so Krolow 1980 im damaligen Standardwerk Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart). Wir haben hier nicht „keine Metaphern“, sondern Alltagsmetaphern, es geht um das Auffinden poetischer Bezüge im Alltag, zugleich aber auch um den Bruch dieser Alltagsbezüge durch „Popeffekte“ (ein Wort von Heinz Piontek, bereits 1972!). Dies sind die Stilaxiome jener Alltagslyrik, die sich (mit Vorläufern in den 1960ern) in den 1970ern etabliert hat und bis heute nachwirkt. Wenn ich sagen müsste, wo ich das Alltagsgedicht seit 1970 stilgeschichtlich ansiedeln möchte, würde ich, neben den üblichen Verdächtigen (Neue Sachlichkeit, Lakonie der Short Story, Brinkmanns ACID-Anthologie), auf ein Bild verweisen: Richard Hamiltons ikonisches „What is it what makes today’s home so different, so appealing?“ Stil- und literaturgeschichtlich ist das Alltagsgedicht schlicht und einfach Pop-Art. Und das meint ja wohl: Moderne, die um ihre Modernität weiß und mit ihr spielt. Also Postmoderne.

Hyggelige Prosa?

So verstanden ist auch das mit der neuen Authentizität cum reichlich grano salis zu verstehen: Im ersten Licht ist nicht authentisch, was immer das sei, sondern reflektiert, also witzig, gemein, verspielt, lakonisch. Zweifellos gibt es seit den 1970ern unzählige Alltagsgedichte, die einfach nur gefühlige Prosa – neuerdings sagt man wohl hyggelig – per beliebigem Zeilensprung zum Gedicht veredeln wollen, und die literarisch natürlich nicht in Betracht kommen. Hier soll man sich nichts vormachen: Auch Kristiane Allert-Wybranietz‘ gut gemeinte „Verschenk-Texte“ gehören zum Alltagsgedicht:

Anfangs warst du ein Stern,
einer von von vielen,
an meinem Himmelszelt.

Inzwischen bist du
ein Mond geworden
mit einer
unheimlich starken
Anziehungskraft.

Sie sind dessen konsumierbare Zerrbilder, also undialektisch. Das spricht aber so wenig gegen das Alltagsgedicht, wie ‚gefühlige‘ neoromantische Filmmusik gegen Schumann oder Mendelssohn-Bartholdy sprechen könnte.

Ein feministisches Liebesgedicht?

Die 1960er und 1970er Jahre waren von einer ungeheuren Dynamik geprägt. Die Innovationen, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg von der Avantgarde ausformuliert, gefordert und ansatzweise im eigenen Kreis auch verwirklicht wurden, sickerten in den Alltag ein. Kiwus‘ lyrische Klage über das Scheitern einer (der?) Liebe liest sich kaum anders als bei den Klassikern, von Goethes Rastlose Liebe über Heines Asra bis zu Benns Astern. Mit einem Unterschied: Hier grenzt sich niemand mehr ab. Der Alltag, der „kleine“ Mann, die „einfache“ Frau, sind nicht mehr die Hintergrundfolie, nicht mehr bloße Staffage, vor der ein Werther oder ein Hanno Buddenbrook noch aufleuchteten. Der Mann und die Frau sind vielmehr selber Gegenstand des Gedichts. Es geht nicht mehr um die oder den andere/n, es geht um alle. Und als Gedicht einer Frau – das Gedicht wurde publiziert als Gedicht einer gewissen „Karin Kiwus“, ist also wohl das Gedicht einer Frau, was immer man jetzt über sex und gender sagen mag – agiert das Gedicht männlich, besser noch: androgyn, wenn es am Ende kühl den Daumen senkt.

Bei Caroline von Günderrode hieß es noch:

Drum leb ich, ewig Träume zu betrachten

Karin Kiwus‘ lyrisches Ich lebt nicht mehr, ewig Träume zu betrachten. Es lebt, sie lebt, sie artikuliert Bedürfnisse und handelt danach, punkt.

In einem Interview wurde Karin Kiwus die Frage gestellt: „Ihre Gedichte sind oft so düster…warum schreiben Sie nicht auch einmal über das Glück?“

Die Antwort von Karin Kiwus:

Weil es so schwierig ist. Weil die Sprache, die man herkömmlicherweise dazu verwenden würde, von der Unterhaltungs- und Werbebranche seit langem unsäglich trivialisiert, kommerzialisiert und verbraucht worden ist. (…) Es gibt aber noch einen anderen Grund. Und der ist, daß das Glück eine Befindlichkeit innerer Ruhe und sicherlich freudiger Ausgeglichenheit ist. (…) In Zeiten innerer Unruhe oder gar Verzweiflung glaube ich, wird der Impuls, sich zu artikulieren, viel dringender sein. (…) „Das Glück allein ist heilsam für den Geist“, hat Proust gesagt, „die Kräfte des Geistes jedoch bringt der Schmerz zur Entfaltung.“

(in: Klaus Pankow, s.u.)

Insofern ist dieses Liebesgedicht natürlich auch ein feministisches Gedicht, aber eines, das Emanzipation nicht fordert – nicht als Kampfruf und schon gar nicht als Bitte –, sondern vorführt. Genau deswegen ist dieses über 40 Jahre alte Gedicht eines von heute.

Angaben zum Buch
Karin Kiwus
Das Gesicht der Welt
Gedichte · Mit einem Nachwort von Mirko Bonné
Schöffling-Verlag 2014 · 352 Seiten · 22,95 Euro
ISBN: 978-3895615016
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

Literatur:

Karin Kiwus: Im ersten Licht. In: Karin Kiwus, Von beiden Seiten der Gegenwart. Gedichte. Frankfurt am Main 1976

Drux, Rudolf: Vom Pragmatismus in Lyrik und Politik, in: Jordan, Lothar/Marquardt, Axel/Woesler, Winfried (HG) – Lyrik von allen Seiten. Frankfurt/Main 1981, S. 204 – 218

Krolow, Karl: Die Lyrik in der Bundesrepublik seit 1945, in: Lattmann, Dieter (Hg), Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart – Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland II, aktualisierte Ausgabe 1980. Frankfurt/ Main, 1980

Pankow, Klaus (Hg): Das Erscheinen eines Jeden in der Menge – Lyrik aus der BRD, Lyrik aus Westberlin seit 1970. Leipzig 1983

Piontek, Heinz: Vorwort, zu: Piontek, Heinz (HG), Deutsche Gedichte seit 1960 – Eine Anthologie. Stuttgart 1972

Bildnachweis
Beitragsbild: Nana – Engel in Zürich HB – Von JoachimKohlerBremen
Lizenz: CC-BY-SA 4.0, via wikimedia Commons
Buchcover: Schöffling & Co.
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Von Hartmut Finkeldey

Jobber, Autor, Kolumnist

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