Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.
Im ersten Satz begegnen wir gleich dem stilistischen Hauptmerkmal dieser Seite 99, dem Prinzip Aufzählung:
Zitat 1
Émile Brunfaut ging in sein Arbeitszimmer und stellte fest, dass der ‚Atlas‘-Ordner mit
- dem Einsatzbericht,
- den ersten Vernehmungsprotokollen,
- den Tatort-Fotos und
- dem Obduktionsbefund
von seinem Schreibtisch verschwunden war.
Zitat 2
Das Aktivitätenprotokoll, alles, was diesen Fall betraf, war gelöscht –
- wann der Einsatzbefehl zum Hotel Atlas gekommen war,
- welche Einsatzwagen wann am Tatort eingetroffen waren,
- welche Beamten Dienst hatten,
- der erste Bericht der Spurensicherung,
alles fort, der Fall hatte sich in Luft aufgelöst.
Zitat 3
- Er schnaufte,
- drückte seinen Bauch nach unten, um die Lunge zu entlasten,
- atmete tief ein,
- öffnete den Gürtel und den Knopf am Hosenbund.
Aufzählungen und Listen sind in der Literatur ein beliebtes Stilmittel, William H. Gass hat darüber sogar einen Essay geschrieben, „I Have a Little List“. Das Internet ist voll von Listicles. Wir lieben Listen, denn sie machen die Welt übersichtlich. Doch zugleich sind Aufzählungen auch riskant, weil sie so bequem sind. Dinge aufzuzählen kostet nichts, es ist viel schwieriger, Dinge und Worte in einer Aufzählung aufzuladen, als sie nur zu benennen. Es sei denn, die bloße Aneinanderreihung ergebe in der Summe einen Mehrwert, wie es beispielsweise bei Eliot Weinbergers „What I Heard About Iraq“ der Fall ist: Hier wird die Aufzählung zur Erzählung, es entsteht ein Zusammenhang, der uns die Augen öffnet.
Auch auf der Seite 99 von Die Hauptstadt ist die Aufzählung keine Bequemlichkeit, sondern sie hat Methode. In Zitat 1 übersetzt sie die wachsende Irritation von Émile Brunfaut. Er inventarisiert, was verschwunden ist, Schritt für Schritt. Eine Abfolge, die strukturell wie eine Aufzählung wirkt, habe ich bei den Zitaten unterschlagen: Als erstes bemerkt er, dass der „Atlas“-Ordner von seinem Schreibtisch verschwunden ist, dann sieht er zweitens, dass auch auf dem Computer der betreffende Ordner verschwunden ist, und drittens sucht er im virtuellen Papierkorb.
Die Auflistung der einzelnen Posten in der erlebten inneren Rede des Protagonisten lässt uns teilhaben an seiner Bestandesaufnahme des Desasters. Die Aufzählung in Zitat 3 zeigt seine körperliche Reaktion – hier entspricht die Aufzählung auch einer zeitlichen Abfolge, der Autor lenkt unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf andere Weise auf das Befinden der Figur. Wir sehen die Panik, die durch den mysteriösen Verlust in Émile Brunfaut aufsteigt, wir sollen es spüren.
Zitat 4
- Er starrte auf den Bildschirm (…)
- Er merkte, dass er nicht mehr auf den Bildschirm schaute, sondern sich selbst beobachete: Wie würde er reagieren?
- Er wusste es nicht.
- Er sah sich selbst dasitzen wie eine auf dem Stuhl zusammengesunkene Leiche.
Wenn man diese Sätze fortlaufend liest, nimmt man die Abfolge “Er starrte – Er merkte – Er wusste – Er sah” wohl kaum bewusst war, hier wirkt es als Rhythmisierung. Die aufgebaute Spannung löst sich, weil der nächste Satz anders beginnt:
Da trommelten seine Finger wieder auf der Tastatur, er googelte:
Für einen Moment reißt uns dieser Satz aus der Perspektive der inneren Rede. Wir sehen Brunfaut von außen, doch im nächsten Satz sind wir wieder in seinem Kopf.
Welches Stichwort auch immer er eingab,
- nichts,
- kein Resultat.
- In keiner Zeitung hatte es einen Artikel gegeben.
- Der Mord hatte nicht stattgefunden.
Hier dient die Aufzählung einer Steigerung, und sie gipfelt im letzten Satz: Nicht nur die Beweise sind verschwunden, die Brunfaut offenkundig gesammelt hatte, sondern auch das Ereignis selbst.
Er sah auf und bemerkte erst jetzt, dass auch sein Flipchart gesäubert worden war: Das Blatt auf dem er bei der letzten Besprechung mit großen Buchstaben HOTEL ATLAS Pfeil SCHWEIN und fünf Fragezeichen geschrieben hatte, war abgerissen worden.
Möchte ich weiterlesen? Unbedingt!
Allerdings hoffe ich, dass das Spiel mit den Aufzählungen nicht das alleinige Organisationsprinzip des Erzählens sei. Denn dann würde ich mich als Leserin wohl doch ein wenig an die Leine genommen fühlen.
Die Hauptstadt
Roman
Suhrkamp 2017· 459 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-518-42758-3
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