Beim Page-99-Test gehe ich vor wie eine Archäologin, die eine Scherbe in der Hand hält und herausfinden muss, worum es sich dabei handelt. Wo befinden wir uns? Wer spricht? Archäologen arbeiten mit der Lupe, was unfair ist, denn niemand schreibt einen Tausendseiten-Roman mit der Lupe. Es geht um einen Verfremdungseffekt, ein Spiel.
Der New-York-Roman City on Fire ist mit über tausend Seiten eines der vielen dicken Bücher dieses Frühjahrs, die ich nicht schaffen werde. Zu meinem Leidwesen, denn als ehemalige New-Yorkerin habe ich eine Schwäche für New-York-Romane.
Auf Seite 99 von City on Fire platzen wir in ein Party-Gespräch, eine Unterhaltung zwischen einer Frau (Regan) und einem Mann (Mercer).
„Bist du sicher, dass du das Geräusch nicht gehört hast?“, fragte er, bevor er die Fenstertüren zuzog. „Ich komme aus den Südstaaten. Wir kennen uns mit Waffen aus.“ Sie zuckte die Schultern. „Das hier ist Central Park West, Mercer. Wahrscheinlich nur der Auspuff eines Lastwagens.“
Offenbar ist vorher ein Knall zu hören gewesen. Kleine Anmerkung zur Übersetzung (Tobias Schnettler): „I’m from the South. We know guns.“ Klingt natürlich besser, als die deutsche Version, tám-tata-tám, tam-tam-tám, unwiderstehlich knapp, wie es leider nur im Englischen geht. Das Wort „Südstaaten“ ist eine Notlösung, um die man allerdings im Deutschen kaum herumkommt. Für mich liegen die Südstaaten flach auf der Landkarte, während ich bei South gleich etwas in der Nase habe (Cowboys, Sklaverei, Lynchjustiz). Mag sein, dass das nur mir so geht.
Drinnen wurden ihre Schritte entschlossener, mit jeder Türschwelle, die sie überquerten, als würde sie Kraft aus seiner Anwesenheit ziehen, oder aus der Droge, obwohl er nicht sicher war, ob es nicht bloß das verschwommene Tempo seines eigenen Kopfes war.
Worauf bezieht sich das „es“ im letzten Satzteil? Und kann ein Tempo verschwommen sein? Und kann ein Kopf ein Tempo haben? Und wenn ja, was hätte dieses verschwommene Tempo in Mercers Kopf damit zu tun, ob Regan aus seiner Anwesenheit Kraft zieht oder aus der Droge, die sie offenbar vorher genommen hat?
Wir sind mitten in der Party angekommen, in einer weiträumigen, opulent ausgestatteten Wohnung, denn andere Wohnungen gibt es an der Adresse Central Park West kaum.
Aus einem Gewirr von Körpern kamen Hände, die Flaschen umklammert hielten, Zahnprothesen, die bei wieherndem Republikanergelächter gebleckt wurden, Zähne, die in ihrer Perfektion merkwürdig aussahen, wie Kaugummidragees.
Dass Hände aus einem Gewirr von Körpern kommen, kann ich mir vorstellen. Aber: „Aus einem Gewirr von Körpern kamen Zahnprothesen“? Und dann gleich zwei sprachliche Klischees in einem Nebensatz:
- das wiehernde Gelächter, im Englischen „brays of laughter“, wörtlich „brüllendes Gelächter“, bray ist kein Wiehern, sondern Eselsgeschrei. Andererseits orientiert sich das deutsche Gelächter idiomatisch nun mal an Pferden und nicht Eseln
- die gebleckte Prothesen, was allerdings ganz hübsch ist. Plastikzähne, also eine nur simulierte Gefahr, man ahnt schon die Impotenz.
Die Übersetzung dieses Satzes leidet übrigens an der deutschen Sprache.
Out of a jumble of bodies came hands clutching bottles, dentures bared in brays of Republican laughter, teeth freaky in their perfection, like Chiclets.
Was im Englischen so elegant in Partizipien dahinsegelt, wird von der deutschen Grammatik in schwerfällige Relativsätze gezwungen, hier gleich drei Mal hintereinander:
Aus einem Gewirr von Körpern kamen Hände, die Flaschen umklammert hielten, Zahnprothesen, die bei wieherndem Republikanergelächter gebleckt wurden, Zähne, die in ihrer Perfektion merkwürdig aussahen, wie Kaugummidragees.
Natürlich ist es wirkungsvoller, am Ende den Markennamen zu verwenden statt des umständlichen und entlegenen Oberbegriffs „Kaugummidragees“. Aber Chiclets gibt es bei uns nun mal nicht.
Zurück zu unserer Republikaner-Party. Mercer erkennt:
Er war der einzige nichtweiße Gast – auch wenn er strenggenommen nicht eingeladen war.
Die Wendung „nichtweißer Gast“ entfaltet keine Wirkung. Unser Unbewusstes sieht nur Bilder, es versteht keine Negation, so habe ich im autogenen Training vor Jahren gelernt. Wenn man sich etwa sagt: „Ich bin nicht nervös“, versteht das Unbewusste nur „nervös“ und wird nervös. Die Formulierung „nichtweißer Gast“ verlangt vom Leser, dass er oder sie vor dem inneren Auge nicht etwas sieht, was ist, sondern etwas, was nicht ist. Wenn ich vor meinem inneren Auge überhaupt etwas sehe, dann eine durchsichtige Gestalt, einen Geist. Hätte Hallberg geschrieben: „Er war der einzige schwarze Gast“, sähe ich einen schwarzen Mann.
Unser nichtweißer Gast überlegt sich, wo ein weiter oben erwähnter William jetzt wohl sein könnte.
Lehnte er an einer Wand der Herrentoilette irgendeiner Bar, während ein blonder Kopf sich unten an ihm zu schaffen machte?
Schaut man durch die Lupe, wird das Entscheidende unscharf: In der Regel ist es nicht ein Kopf, der sich an fremden Geschlechtsteilen zu schaffen macht, sondern entweder ein Mund oder der Besitzer des betreffenden Kopfes.
Auf Mercers Mutmaßungen über William folgt eine Stilblüte, die man auch ohne Lupe erkennt:
Er schob die Vorstellung von sich, ließ sein Bewusstsein zu einem Strom werden, der über die Perserteppiche floss.
Kann man sein Bewusstsein zu einem Strom werden lassen? Wenn in einer Metapher abstrakte und konkrete Begriffe gemischt werden, hängt sie meistens schief. Die Wendung stream of consciousness funktioniert, weil der Akzent auf dem Bewusstsein liegt, dem die Eigenschaften eines Stroms zugesprochen werden. Doch hier geschieht eine veritable Transsubstantiation: Das Bewusstsein verwandelt sich in einen Strom, der tatsächlich fließen kann, nämlich über Teppiche. Wie soll sich unser Unbewusstes diesen Fluss vorstellen? Ist er aus Wasser? Hat er eine Farbe?
Ich höre schon jemanden in den Kommentaren einwenden, dass es eben nur ein Bild sei, das den Konflikt eines nichtweißen Bewusstseins mit dem weißen Central Park West-Reichtum zeigen soll. Uns wird an dieser Party ja die ganze abgefuckte New Yorker upper class vorgeführt, deshalb fließt dieses Bewusstsein auch nicht über irgendwelche Teppiche, sondern Perserteppiche.
Das mag stimmen. Und doch haben wir es hier mit einem grundsätzlichen Problem von Metaphern zu tun: Sie wirken nur, wenn man beim Lesen in dem Bild bleibt, das sie heraufbeschwören. Das Unbewusste liest mit, und unser Unbewusstes will Kino!
Fazit:
Ich bin nicht mehr so traurig darüber, dass ich diesen Wälzer nicht schaffen werde. Die kleinen Unsauberkeiten, die unter der fiesen Page-99-Lupe sichtbar werden, entziehen mir beim Lesen Energie. Für eine einzige Seite sind das eindeutig zu viele Verstöße gegen das literarische Handwerk: Dieses Buch will mehr, als es kann.
City on Fire
Roman
Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler
S. Fischer 2016 • 1080 Seiten • 25 Euro
ISBN: 978-3-10-002243-1
Bei Amazon oder buecher.de
Ich muss gestehen, dass ich vorsichtiger wäre. Der Page-99-Test mag in einer Buchhandlung funktionieren, um privat möglichen Lesestoff auszusortieren, für die Öffentlichkeit taugt er jedoch nicht. Mich würde privat bereits der Bestseller-Aufkeber bzw. -Aufdruck am Buch vorbeiführen, im Hinblick auf den Text wäre zu fragen, in welchem Zustand jenes Bewusstsein wäre, um derart empfinden zu können. Ich würde auf einen vorhergehenden Drogenkonsum tippen. Von Bewusseinsströmen war übrigens in der Nachkriegszeit ziemlich viel die Rede. Das Geschehen im Text hat es etwas von einer bildlichen Auflösung. Konkret assoziiere zu jenem Fließen, als werde auf den Perserteppich gepisst ;-) Aber egal: im Grunde will ich lediglich hervorheben, dass auch eine Page 99 in einem Kontext steht und dass Bilder und deren Auflösung viele Bedingungen haben können, abseits schlichter und autoritärer Maßgaben zu beurteilen wären.
Ich finde den Page-99-Test weiterhin klasse (zumal sorgfältig durchgeführt) und wünsche mir weiterhin mehr davon. Danke.
Freut mich, dass Dir dieses durchaus zweifelhafte Unternehmen gefällt!