Bislang hatte ich irre Jesusse für einen Witz gehalten. Oder zumindest für eine reißerische Übertreibung. Wer sich selbst für den Gottessohn halte, müsse wirklich komplett einen an der Waffel haben. So blöd, dachte ich, könne man doch gar nicht sein. Mittlerweile bin ich eines Besseren belehrt. Und schlimmer: Heute Jesus zu sein, ist wahrscheinlich eine der schlimmsten Torturen überhaupt. Das ganze Elend der Welt! 24 Stunden non stop durch alle Kanäle, man selbst mittendrin, immer gemeint, von allen gekannt, an jedem manisch aufgeheizten Nerv getroffen, wie Thomas Melle es in seinem Buch Die Welt im Rücken beschreibt:

Ein fast schon tragischer Bonus der Krankheit ist in meinem Falle, dass so vieles plötzlich erklärbar schien: die Verstocktheit der Leute, die Hemmungen auf beiden Seiten, die Unschärfen, die Affronts. Meine Beziehungen zu anderen Menschen waren vorher derart verkeilt gewesen, meine Grundkonstitution so einsam, dass mit den neuen, kranken Rahmendaten endlich verständlich wurde, was schieflief. Wer konnte unter diesen Umständen ein normales Verhältnis zu mir haben!

Tatsächlich ist es auch um das Verhältnis zwischen Autor und Leser schwer bestellt in Thomas Melles Buch Die Welt im Rücken. Schon im „normalen“ Leben sind selbst die besten Freunde schnell weg, wenn jemand von einer bipolaren Störung oder – wie das Leiden früher hieß – von einer manischen Depression befallen wird. Wie sollen Leser, die den Autor gar nicht kennen, ihm in den Wahn folgen?

Reise ins Unbekannte

Drei Mal ist Thomas Melle bislang durch diese Hölle gegangen. Zum ersten Mal 1999 für drei Monate, dann 2006 für ein Jahr und 2010 schließlich für fast anderthalb Jahre. Nach dem manischen Wahn kommt der Absturz in die Depression, nach der Zerstörung die Auslöschung und danach das Aufwachen in den Trümmern des eigenen Lebens. Manisch-depressiv zu sein, bedeutet eine lebenslange Behinderung, und Thomas Melle ist an der schwersten Variante „Bipolar I“ erkrankt. Möchte ich das als Leserin wirklich miterleben?

Ja, denn hier tritt einer eine Reise ins völlig Unbekannte an. Und ich will mit, weil ich die Ränder dieses Unbekannten selbst kenne, wie wahrscheinlich die meisten von uns. Der selbstverliebte Kick, von anderen gemeint zu sein, der Wunsch, Sex mit Madonna (oder mit David Bowie) zu haben, das befreiende Wissen, wie alles mit allem und mir mittendrin zusammenhängt – und dazu diese nicht zu bremsende Energie.

Oder die Depression. Dieses Gefühl von Sinnlosigkeit in einer endlos gedehnten Zeit, in der man einzig und allein von seinem Atem in den nächsten Tag gebracht wird, wie Melle es ausdrückt. Dass es eine Steigerung gibt, ahnte ich stets. Und begriff beim Lesen, dass ich wohl nur durch Zufälle und Glück nicht anfällig für diese Krankheit bin. Ich will – auf scheinbar perverse Art verdreht – das Leiden Christi verstehen. Nicht, weil dieser eine und besondere Menschensohn für mich gelitten hat, sondern an meiner Stelle: Während Thomas Melle leidet, führe ich in Seelenruhe mein kleines beschauliches Leben weiter. Sein Leiden beschränkt sich nicht auf die manischen und depressiven Phasen.

Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder minder durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu unverbundenen Flächen und Fragmenten. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein.

Anker für die Existenz

Für Thomas Melle ist es der Verlust seiner Bibliothek und seiner Plattensammlung, der am schmerzhaftesten seine temporäre Unzurechnungsfähigkeit offenlegt. Der Titel Die Welt im Rücken ist eine Anspielung auf diese Bibliothek als Anker für die eigene Existenz. Ein Bild, das ich zunächst falsch verstanden habe. Ich las den Titel in etwa wie Die Welt im Nacken oder Mit dem Rücken zur Wand, bis ich begriff, dass hier jemandem die geschriebene oder gesungene Welt als Versicherung gegen das Leben beisteht. Nach den drei manisch-depressiven Episoden ist von dieser Welt nichts mehr übrig. Was Melle nach seiner Explosion ins Besondere retten konnte, war die nackte Existenz. Dennoch setzt er auf neue (alte) Bücher, Platten und CDs, um sich das Leben wieder zurück zu erobern:

Die Bibliothek ist verloren auf immer, aber in meinem Rücken wächst derzeit langsam, ganz langsam eine neue heran. (…) Ich war ein altmodisches Exemplar, auf gewisse Weise, trotz aller Internetaffinität ein Typ, der einen anderen, älteren Begriff von Literatur hatte, mit einer Bibliothek im Rücken und Alkohol im Atem. Ich bin gescheitert als einer, der überkommen war. Dieses Fossil gibt es nicht mehr. Jetzt kann alles neu beginnen. Eine Freiheit erwächst daher.

Auch dieses Buch, das Thomas Melle nun seiner neuen Bibliothek hinzufügen kann, ist in Welt verwandeltes Leben. Kein Buch, das im Alltag hilft, aber vielleicht eins, das den Autor im schlimmsten Fall einer erneut ausbrechenden Manie wie ein schamanisches Heilmittel ins Leben zurückholt. So zumindest seine Hoffnung. Und die Leser? Melle selbst schlägt eine Lektüre als „negative Mini-Kulturgeschichte“ vor, als „Anti-Bildungsroman“, der im bodenlosen Absturz die Konturen der menschlichen Existenz als fragiles Gebilde neu definiert und der einen mitreißt – was die Lektüre zur Knochenarbeit macht. Da, wo der Autor irre wird, muss auch ich mit, so sicher ich zu Hause auf dem Sofa sitze. Selbst hier bin ich nicht gefeit vor der Intensität seines manischen Furors. Oder wie lässt es sich erklären, dass ich kurzzeitig der Illusion verfalle, nur ich könne Thomas Melle vor einem neuerlichen Schub retten?

Angaben zum Buch
Thomas Melle
Die Welt im Rücken
Rowohlt Verlag 2016 · 352 Seiten · 19,95 Euro
ISBN: 978-3871341700
Bei Amazon oder buecher.de
thomas-melle
Bildnachweis:
Beitragsbild: Vincent van Gogh: An der Schwelle zur Ewigkeit.
Lizenz: Gemeinfrei (via: wikiarts.org)
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Von Stephanie Jaeckel

Kunsthistorikerin und Kulturjournalistin, Autorin von Sach-Hörbüchern für Kinder.

Ein Kommentar

  1. […] ist zwar eine willkommene, letztlich aber willkürliche Aufteilung – werden doch sowohl Melles Die Welt im Rücken wie auch Knausgårds Min kamp-Reihe auf den jeweiligen Verlagsseiten als Roman rubriziert. Und bei […]

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