Wer Bücher schenken will, hat die Wahl zwischen 90 000 Neuerscheinungen und den unzähligen Büchern, die den Test der Zeit bestanden haben. Dieses Jahr haben wir deshalb zwei Listen mit Weihnachtstipps zusammengestellt: eine Liste mit Neuerscheinungen und eine mit Klassikern.
Hier finden Sie die Liste mit den Neuerscheinungen.


Eine Zeit im Kriegsfieber

Ein Weihnachtstipp von Herwig Finkeldey

Als Klassiker für die Zeit zwischen den Jahren empfehle ich Thomas Manns Roman Der Zauberberg. Es handelt sich bei den Erlebnissen Hans Castorps, des „Sorgenkinds des Lebens“, um einen „Zeitroman im doppelten Sinne“, wie der um Selbstkommentare nie verlegene Mann schrieb.

Zum einen handelt es sich um eine Analyse der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, und damit um eine Analyse der Kriegsursachen. Zum anderen ist die Zeit selbst Gegenstand der Betrachtung und Grundgerüst des Romans. Die Zeit beschleunigt sich zunehmend: Geschildert wird ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr, bis der gleichförmige Ablauf der Tage keine zeitliche Ordnung mehr erkennen lässt.

Venusberg und tuberkulöse Todesnähe haben die Bewohner des Bergs bis zum großen Knall des Kriegsausbruchs längst die Zeit vergessen lassen. Bis diese sich zurückmeldet und sich ihrerseits krankschreiben lässt. Denn auch die Zeit unten im Flachland hat „Fieber bekommen“. Dieses Kriegsfieber hängt mit der erhitzten Atmosphäre auf dem Zauberberg, der „großen Gereiztheit“, eng zusammen.

Ob die sieben Tage zwischen den Jahren dem Leser Zeit genug sein werden, um den Roman zu bewältigen, ist ungewiss; doch: „Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein.“

Angaben zum Buch
Thomas Mann
Der Zauberberg
Roman
Fischer Verlag · 1008 Seiten · 15 Euro
ISBN: 978-3103481280
Bei mojoreads oder im lokalen Buchhandel.

Ein doppelter Klassiker

Ein Weihnachtstipp von Sieglinde Geisel

Kann ein Buch, das vor erst vor zehn Jahren erschienen ist, bereits als Klassiker gelten? Noch dazu, wenn es nicht mehr lieferbar ist (was ich für einen Skandal halte)?

Wenn der Autor Peter von Matt heißt: ja! Denn erstens schreibt Peter von Matt Literatur über Literatur. Marcel Reich-Ranicki fand bekanntlich, er hätte dafür den Büchnerpreis verdient. In seinen Monografien über Liebesverrat, Generationenkonflikte oder Küsse erzählt Peter von Matt die gesamte Literaturgeschichte anhand eines Themas, das uns alle angeht. Die Literatur, in der er sich auskennt wie kaum ein anderer, verbindet er dabei mit dem Leben, mit dem wir uns alle auskennen.

Auf der ersten Seite von Die Intrige findet sich dieses Zitat:

Was lebt, muß Leben töten. Daher ist, was lebt, selbst immer in Gefahr, getötet zu werden, und sucht sich zu schützen. Das Töten wird dadurch schwieriger. Also muß, was lebt, Wege finden, das lebenerhaltende Töten einfacher zu machen.

Von dieser Beobachtung über das Leben ausgehend, kommt von Matt auf die Literatur zu sprechen, die von der Hinterlist erzählt, mit der wir Menschen versuchen, (meist metaphorisch) andere zu töten – oder dem Töten der anderen zu entkommen.

Jeder Satz in dem obigen Zitat ist ein Kunstwerk. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass man dieses  Buch, wie alle anderen Bücher von Peter von Matt, auch in fünfzig und hundert Jahren noch lesen wird. Peter von Matt macht in seinem Erzählen von Literatur die Klassiker so lebendig, dass man sich dann diesen gleich als nächstes zuwendet.

Dehalb ist Peter von Matt ein doppelter Klassiker: Seine Klassiker sind ihrerseits voll von Klassikern, und sie haben die Kraft, die Klassikermuffel unter uns davon zu überzeugen, dass die Klassiker nicht veralten, sondern, in den Worten von William H. Gass, unsere „permanenten Zeitgenossen“ sind.

Angaben zum Buch
Peter von Matt
Die Intrige
Theorie und Praxis der Hinterlist
Hanser Verlag · 504 Seiten
Nicht mehr lieferbar; erhältlich über booklooker oder in Antiquariaten.

Ein Kriminalroman auf engstem Raum

Ein Weihnachtstipp von Anselm Bühling

Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche ist eigentlich ein psychologischer Kriminalroman auf engstem Raum: Im Milieu eines armen westfälischen Dorfs, dessen Bewohner ihre elende Lage mit Holzdiebstählen aufzubessern versuchen, kommt es zu einem Mord. Droste-Hülshoff entfaltet die Vorgeschichte dieses Verbrechens. Sie schildert das Beziehungsgeflecht zwischen den Dorfbewohnern: das Nebeneinander von Gleichgültigkeit und Fürsorglichkeit, die Doppelmoral, das Schweigen über Gewaltausbrüche betrunkener Männer. Durch die knappe, präzise Sprache und die scheinbar distanzierte Berichtsform tritt das Beschriebene umso stärker hervor:

An einem solchen Tage – keinem Sonntage mehr – sah man sie abends aus dem Hause stürzen, ohne Haube und Halstuch, das Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet niederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich um sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und damit langsam wieder dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Es hieß, an diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an sie gelegt, obwohl das Bekenntnis nie über ihre Lippen kam.

Die Erzählung hat nichts Altmodisches an sich; das ländliche Westfalen des 18. Jahrhunderts und seine Bewohner werden so lebendig, als befände man sich mitten unter ihnen. Und zwischendurch blitzt immer Ironie auf:

Auf der Tenne ward getanzt, das heißt: wer zwei Fuß Raum erobert hatte, drehte sich darauf immer rundum und suchte durch Jauchzen zu ersetzen, was an Bewegung fehlte. Das Orchester war glänzend, die erste Geige als anerkannte Künstlerin prädominierend, die zweite und eine große Baßviole mit drei Saiten von Dilettanten ad libitum gestrichen; Branntwein und Kaffee in Überfluß, alle Gäste von Schweiß triefend; kurz, es war ein köstliches Fest.

Angaben zum Buch
Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche
Eine Geschichte aus dem gebirgichten Westfalen
Insel Verlag · 108 Seiten · 6,50 Euro
ISBN: 978-3458362418
Bei mojoreads oder im lokalen Buchhandel.

Magischer Realismus in Neapel

Ein Weihnachtstipp von Agnese Franceschini

In Nicola Puglieses Malacqua. Vier Tage Regen in der Stadt Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht entdecken wir ein Neapel fernab von Stereotypien und Vorurteilen. Ein Neapel, erzählt zugleich mit dem introspektiven Stil von James Joyce’s Ulysses und der evokativen Kraft des magischen Realismus‘ der südamerikanischen Literatur.

Pugliese erzählt von vier Tagen unaufhörlichen Regens in Neapel. Das Wasser steigt aus den Abwasserkanälen und dem Meer auf, schwemmt Gebäude, Straßen und Menschen mit sich, es säubert nicht, sondern macht alles grau, und es unterdrückt die Bevölkerung. Die Menschen warten auf etwas, das eine Katastrophe sein könnte oder ein Sinneswandel:

Und selbst die Gedanken waren nass und gestreift, und zutiefst gezeichnet von diesem feinen vertikalen Regen, der in Wasserfäden, die sich verwirrten, fiel und weiterfiel und sich mit dem bereits gefallenen Regenwasser vermischte und mit dem, das noch fallen würde, denn das Bewusstsein war jetzt vorhanden, brutal und umfassend und grausam und sagte, dass dieser Regen weitergehen würde, so lange, ja, so lange, bis das Geschehen allen klar, solange bis die letztendliche Bedeutung auch in den naiveren und langsamer arbeitenden Köpfen klar und offensichtlich geworden wäre.

Die Personen werden zuerst mit dem Nachnamen, dann mit dem Vornamen benannt, wie man es von der Bürokratie, dem Militär und dem Krankenhaus kennt.  Dies erzeugt einen Verfremdungseffekt. Das Warten auf etwas Außergewöhnliches – auf ein erlösendes Ereignis? – wird mit ironischem Pathos beschrieben.

Denn es ist sinnlos, weiter um den heißen Brei herumzureden, es ist absolut sinnlos: wir warten hier alle darauf, dass etwas geschieht.

Nicola Puglieses Roman wurde von Italo Calvino 1977 entdeckt und  erschien damals im renommierten Verlagshaus Einaudi, doch dann wurde er vergessen. Eine Neuauflage lehnte Nicola Pugliese bis zu seinem Tod im Jahr 2012 ab. 2013 wurde das vergessene Meisterwerk in Italien neu herausgebracht, nun wurde es erstmals ins Deutsche übersetzt.

Angaben zum Buch
Nicola Pugliese
Malacqua
Vier Tage Regen in der Stadt Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht
Aus dem Italienischen von Barbara Pumhösel
Launenweber Verlag · 262 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3947457069
Bei mojoreads oder im lokalen Buchhandel.

Gustave Flaubert und Reiner Kunze

Zwei Weihnachtstipps von Hartmut Finkeldey

Zwei Klassiker im Taschenbuchformat seien für Weihnachten empfohlen – als Mitbringsel, als kleine Freude obendrauf, vielleicht auch als kleine Selbstbelohnung.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen

Flauberts Trois Contes, Drei Erzählungen, liegen als gelbes Reclamheftchen vor, übersetzt und fundiert herausgegeben von Jürgen Rehbein. Flauberts Universum, seine Religionskritik, seine Dekonstruktion des Helden, des Außergewöhnlichen, seine Darstellung verkümmerten und verkümmernden Lebens kommen hier, im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Werk, noch einmal pars pro toto zum Ausdruck.

„Herodias“, Frucht seiner Orientreise (das war für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert das, was eine Italienreise im 18. Jahrhundert für deutsche war), erzählt die Geschichte von Johannes dem Täufer. Flauberts Erzählung darf als ironische, religionskritische Brechung des damals noch für sakrosankt geltenden Stoffes gedeutet werden (als drei Urchristen schließlich mit Jochanaans Kopf abziehen, müssen sie ihn abwechselnd tragen, denn er ist „sehr schwer“).

In der Legende von Sankt Julian destruiert Flaubert die mittelalterliche Legende vom heiligen Julian.

Am eindringlichsten aber ist die bekannteste der drei Erzählungen, die in Flauberts Gegenwart spielt: „Ein schlichtes Herz“ – ein zugleich ironisches wie erschütterndes Stück Literatur über ein völlig verfehltes, ja ein regelrechtes Nicht-Leben. Félicité ist die Protagonistin, eine Magd, gedemütigt, vergewaltigt (ihre „Liebesgeschichte“, wie Flaubert sarkastisch notiert), ausgelacht, sie hat ihre Unterwerfung so sehr verinnerlicht, dass ihr im Gegensatz zu Emma Bovary nicht einmal im Tod eine Revolte in den Sinn kommen kann, und sei es als Desillusionierung. Ihr Glücksbegehren verschwendet sich an einen Papagei bzw. nach dessen Tod an seinen ausgestopften Kadaver, in den sie all ihre Träume projiziert. Noch im Tod „glaubt sie“, die immer geglaubt und deswegen nie gelebt hat, „im Himmel einen riesigen Papagei zu sehen“. Wer Flaubert kennen lernen, aber auch, wer zwischen den Jahren einfach nur Weltliteratur lesen will, ist mit diesem Reclam-Bändchen gut beraten.

Angaben zum Buch
Gustave Flaubert
Drei Erzählungen
Herausgegeben und übersetzt von Jürgen Rehbein
Reclam Verlag · 191 Seiten · 5 Euro
ISBN: 978-3150089729
Bei mojoreads oder im lokalen Buchhandel.

Reiner Kunze: Die wunderbaren Jahre

„Ich war elf, und später war ich sechzehn.
Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre.“
(Truman Capote, Die Grasharfe)

Auch Reiner Kunzes Die wunderbaren Jahre von 1976 – dort sei „keine einzige Zeile zufällig und so auch keine einzige Zeile überflüssig“, lobte Heinrich Böll gleich bei Erscheinen – darf inzwischen als Klassiker gelten. Dieser Kurzprosaband ist teils Literatur, teils Dokument – viele Geschichten wurden Kunze zugetragen.

Der Band zeigt eindringlich und in vielen Varianten, welchen Repressionen DDR-Jugendliche ausgesetzt waren, die einen letzten Rest an Eigensinn bewahren wollten. Das fängt mit einem Ordnungsgeld von 10 Mark wegen Störens des sozialistischen Zusammenlebens an („Spielen mit Gitarre“), geht über zum Schulverweis wegen oppositionellen Verhaltens („Seines nächsten Freundes nahm sich der Klassenlehrer an: ‚Wenn Sie den von unserer Seite abgebrochenen Kontakt zu N. aufrecht erhalten sollten, können wir ganz leicht den Kontakt zu Ihnen abbrechen.‘“) und endet beim Selbstmord in Haft nach missglückter ‚Republikflucht‘ (“Urne”). Immer wieder taucht die „Tochter“ auf („Infolge ihres oftmals eigenwilligen Verhaltens erfüllt sie nicht immer die Normen, die an eine Schülerin einer erweiterten Oberschule gestellt werden müssen“ – Zeugnis vom 30.6.1972). Ähnlichkeiten mit Marcella Kunze sind weder zufällig noch beabsichtigt, sondern unvermeidlich.

Im zweiten Teil geht es dann um die Literaturszene, etwa um Jürgen Fuchs, und deren Ausspitzelung durch die Stasi („Jürgen und der aufdringliche Typ, der neulich bei Biermann aufgetaucht war…“), dann auch um den Prager Frühling. Kunze, verheiratet mit einer tschechischen Ärztin, übersetzte viel tschechische Lyrik, und er kannte sie alle: Jan Skácel, Antonin Bartušek, Ludvík Kundera; einige ihrer Gedichte sind dem Band beigegeben. 

In Bartušeks „Diese paar Jahre“, in der Übersetzung Reiner Kunze, lesen wir:

Du willst nicht aufgeben.
Noch hoffst du.
Bewahrst die fingerabdrücke auf
aller katastrophen.
Sehnst dich, sie bei der tat zu ertappen.
Der schnee fällt doppelt.
Mit einem mal haben wir graues haar
beide.

Hermann Kant höhnte Kunze, der nach der Veröffentlichung des Bandes im Westen 1977 zur Ausreise gezwungen wurde, einen seiner bösesten Sätze hinter her: „Kommt Zeit, vergeht Unrat.“ Der Kurzprosaband ist mitnichten vergangen. Er ist noch heute eines der eindringlichsten literarischen Zeugnisse aus einem zu recht untergegangen Land. Auch die trotz mancher filmästhetischer Bedenken sehenswerte Verfilmung von 1979 sei hier empfohlen, als Dokument und darüber hinaus.

Angaben zum Buch
Reiner Kunze
Die wunderbaren Jahre
Prosa
Fischer Verlag · 128 Seiten · 10 Euro
ISBN: 978-3596220748
Bei mojoreads oder im lokalen Buchhandel.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Sieglinde Geisel
Buchcover: Verlage

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Von Redaktion

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