Dem Karneval hat der Ukrainer Juri Andruchowytsch schon immer gefrönt. Eigentlich sind, mit Ausnahme der Essays, alle seine Schriften ausgesprochen karnevalesk. Mit der fröhlich-subversiven Umwertung aller Werte konnten die Schriftsteller im sowjetischen Imperium erträumen, was die KPdSU stets für bereits vollendet erklärt hatte: die Revolution. Schon Andruchowytschs erster Roman aus dem Jahr 1992, der nun erstmals ins Deutsche übersetzt wurde, trägt den Mummenschanz im Titel: Karpatenkarneval erzählt von einem „Fest des Auferstehenden Geistes“ im entlegenen ukrainischen Tschortopyl. Jung und Alt, seltsam gestrig wirkende Bürgerliche und Adlige reisen ebenso zu diesem Fest wie die dichterische „Blüte der Nation“. Sie tragen allerlei Fahnen und kommen zu Fuß, im Zug oder auch mit einem Chrysler-Oldtimer. Organisiert wird die Mischung aus Woodstock und Geisterbeschwörung, Konzert und Dichterlesung, Performance und Drogentrip von einem „ORGKOM“, garniert mit der Unterschrift von Federico Fellini. Oder war es die von Alfred Hitchcock? Egal, Überraschungen sind hochwillkommen, und Hochstapelei ist bei Festen dieser Art ohnehin unerlässlich.

Kunst bannt Gespenster

Das Treiben in den Karpaten lässt sich hinreichend präzis mit Sex, Drugs & Poems umschreiben, es ist erst freudig, dann schreckenerregend. Insbesondere die Drogen führen in eine Vergangenheit, in der die Bürger der von der Unabhängigkeit träumenden Ukraine eine heitere Zukunft vor sich wähnten. Bevor sie dann, das ist die Alptraumvariante, eine gewaltsame Okkupation von Osten befürchteten. Beide Varianten werden von diesem Stationenroman heftig parodiert, beide erweisen sich allerdings  als inszenierte Bestandteile des Festes – schon in diesem ersten Roman, entstanden während eines zweijährigen Aufenthalts am Moskauer Schreibinstitut Maxim Gorki Anfang der 90er Jahre, setzt Andruchowytsch also auf die Kunst. Sie soll die Gespenster bannen und dem Land und nicht zuletzt den Vasallen der Kunst das Tor zu einer lichten, von Alp und Nostalgie befreiten Zukunft öffnen.

Sehr verklausuliert kommt dieser Erstling nicht daher. Seine Scherze sind eher deftig-rau, und die Erfindungs- und Kombinationskraft Andruchowytschs läuft noch nicht so hochtourig rund, sie ist noch nicht so weitläufig europäisch wie in den späteren Romanen. Die vier wackeren Dichter, die für die nicht unerhebliche Macht der Dichtung einstehen, sind mit breitem Strich gezeichnet und halb karikiert: Der Dichterstar Martofljak lässt sich hofieren; er hat bereits ein US-Visum in der Tasche und reist mit seiner Ehefrau Marta an, die zurückhaltend als „Sexbombe“ beschrieben wird. Chomskyi ist ein Leningrader mit schillernder sexueller Orientierung, womit er den ukrainischen Machos gleich doppelt als Außenseiter erscheint. Und dann gibt es noch Hrytsch und Nemyrytsch, was nicht zufällig wie Pat und Patachon klingt. Mit ihnen sind die Gespenster der nationalen Unabhängigkeit präsent: Hrytsch, dessen Eltern unter Stalin nach Kasachstan deportiert wurden, lässt sich die langen Haare zur Kosakenlocke scheren und erhält im Tausch für seine „Marmorjeans“ die Uniform der Ukrainisch-Galizischen Armee, die als Teil der Waffen-SS gegen die Rote Armee kämpfte. Nemyrytsch jedoch wird von einem im Chrysler angereisten ukrainischen Emigranten ein Frack zur Verfügung gestellt, damit er auf einem Ball mit adligen und bürgerlichen Honoratioren um sein Leben spielen kann. Ansonsten steht den Dichtern der Sinn nach Alkohol und Frauen, weshalb sie ihre Poeme nur selten zu Gehör bringen. Glücklicherweise, muss man sagen.

Burleske, Balagan und Buffonade

Dem lyrischen Quartett mit Sexbombe fehlt in Tschortopyl ein Gefährte, ein gewisser Andruchowytsch. Er, so wissen die vier Dichterfreunde, schreibe jetzt Prosa, was natürlich furchtbar viel Zeit koste. Selbstreferenzielle Scherze dieser Art sind häufig in Karpatenkarneval: Unter den Teilnehmern des Festes befinden sich, neben Gottesengeln, Zigeunern, Kosaken und Bären, auch Bubabisten. Unter dem Namen BuBaBu veranstaltete Andruchowytsch ab 1985 mit zwei Freunden lyrische Performances; BuBaBu steht für Burleske, Balagan (Jahrmarktsbude) und Buffonade. Mit der Prosa, die der einstige Drucker und erfolgreiche Performer dann zu schreiben begann, wurde er auch außerhalb der Ukraine bekannt. Andruchowytsch spricht fließend Deutsch und verfügt über erheblichen Charme, damit machte er in den 1990er Jahren sein Land, dessen Literatur und gleich noch einige bildende Künstler fast im Alleingang bekannt. 2004 nahm er an der Orangen Revolution auf dem Maidan teil, ein Jahr später erhielt er den Leipziger Preis für europäische Verständigung. In den letzten Jahren ist es, zumindest im deutschen Sprachraum, ruhig um ihn geworden. Karpatenkarneval ist nicht mehr als eine hübsche, raue Fingerübung aus den Anfängen, ohne die amüsante Hochtourigkeit und die Vergnüglichkeiten späterer Romane dieses Meisters der Postmoderne, jedoch ein hochwillkommenes Lebenszeichen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Ukrainischer Bandura-Spieler, gemeinfrei via pxhere
Buchcover: Verlag

Juri Andruchowytsch
Karpatenkarneval
Roman · Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr
Suhrkamp Verlag 2019 · 171 Seiten · 16 Euro
ISBN: 978-3-518-46941-5

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Von Jörg Plath

Jörg Plath ist Kritiker und Literaturredakteur bei Deutschlandfunk Kultur. (Foto: © Fotostudio gezett)

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