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Die Debatte um Simon Strauß ist nur deshalb entflammt, weil der Debattenbetrieb auf einen wie ihn gewartet hat. Alles passt: Als Sohn seines Vaters ist Simon Strauß von vornherein verdächtig, in seinem Buch Sieben Nächte findet man die richtigen Schlüsselreize, dann kommt auch noch der Name Götz Kubitschek ins Spiel – und schon lassen sich solche Sätze formulieren, die nicht ganz falsch sind und doch tendenziös:

Ebenso wie ­Kubitschek sehnt sich Simon Strauß nach dem Gegenentwurf, nach Unversöhnlichkeit, nach echter Trauer und echtem Zorn. Und ebenso wie Kubitschek will Simon Strauß Geschichte wieder als Schicksal, als Kampf, als Konfrontation und Elend, als Größe und Zusammenbruch begreifen.

So steht es in dem Artikel von Alem Grabovac, der die Debatte in der taz losgetreten hat; der Guardian hatte schon im November 2017 auf ein Revival der Romantik in der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur hingewiesen.

Dass Simon Strauß dem Phantombild des neurechten bösen Buben nicht entspricht, hat sich inzwischen herumgesprochen. Doch um Simon Strauß geht es in der Debatte gar nicht: Er ist nur ein Pappkamerad zum Draufhauen, also Anlass dafür, dass endlich wieder einmal alle Gelegenheit haben zu sagen, was sie immer schon einmal sagen wollten. Das kannten wir bisher vor allem von der anderen Seite: Man schwadroniert etwa von Feministinnen, die angeblich das Recht der Frau auf Vollverschleierung einfordern, um sich dann so richtig darüber aufregen zu können.

Ich muss gestehen, dass Simon Strauß für mich bis zu seinem Auftritt als Pappkamerad eher ein Gerücht war. Natürlich hatte ich mitbekommen, wie Sieben Nächte im letzten Sommer als das neue heiße Ding durch die Feuilletons gereicht wurde:

  • Ein „grandioses Debüt, der Generationenroman der aktuellen Endzwanziger schlechthin“ (Der Freitag)
  • „Strauß ist mit diesem literarischen Aufruf ein überaus großer Wurf gelungen.“ (Berliner Zeitung)
  • „Schon wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, spürt man, dass es für Furore sorgen wird.“ (Die Zeit)
  • Sieben Nächte ist eine Suche nach dem guten, wilden Leben, ein Manifest wider den Zeitgeist.“ (Spiegel Online)

Immerhin die SZ relativierte: Es fehle „an den sprachlichen Mitteln, um über die bloße Behauptung hinauszureichen“.

In solchen Fällen werfe ich gern einen Blick in die Kundenrezensionen auf Amazon. Hier kommt das Buch auf 3,2 Sterne. Unter den 1- und 2-Stern-Rezensionen finden sich Aussagen wie diese:

  • „Das Buch hat erschreckend wenig zu sagen.“
  • „Liest sich, als hätte ein lauwarmer Fruchtzwerg beschlossen, Autor zu werden.“
  • „Unfassbare inhaltliche Langeweile.“
  • „So plätschert das Buch mal peinlich, mal belanglos vor sich hin.“

Muss man dieses Buch gelesen haben, um mitreden zu können?


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Als erstes fällt der lockere Satzspiegel ins Auge: Selbst für die 144 Seiten musste der Text offenbar gestreckt werden.

Auf der Seite 99 beginnt ein Kapitel. Wir platzen in eine unheimliche Szenerie hinein, düster geradezu. Der Ich-Erzähler begegnet zwei Männern im Anzug,

die Hände hinter dem Rücken verschränkt wie griechische Philosophen […].

Kein Mensch weiß, ob die Peripatetiker bei ihren Wandelgängen die Hände hinter dem Rücken verschränkten, auch nicht der Altphilologe Simon Strauß. Der Vergleich dient einem Zweck: Der Ich-Erzähler will uns damit zeigen, dass er einer ist, der, wenn er zwei Männer mit hinter dem Rücken verschränkten Händen sieht, an griechische Philosophen denkt.

Im Weiteren haben diese Männer dann nichts Philosophisches mehr an sich:

sie tragen schwarze Masken und der Schweiß steht ihnen auf der Stirn.

Dass ich an Darth Vader denke, dürfte im Sinne des Autors sein. Ich soll mich gruseln. Gruseln geht nur im Dunkeln, und dunkel ist denn auch das Treppenhaus, durch das die beiden Männer den Ich-Erzähler geleiten. Es geht durch „einen Hinterhof ohne Katzen“, bis zu einer alten Holztür mit Milchglasfenster.

„Dreimal klopfen, bitte – viel Vergnügen.“

Das verheißt nichts Gutes. Eine Frau öffnet die Tür (lächelnder Mund, berechnender Blick):

Ihre weiße Haut spiegelt den flackernden Kerzenschein, es kommt mir vor, als ob sie zittere.

Und dann ein Blick in die nahe Zukunft, der Grusel-Trick par excellence:

Aber später, am Ende, wenn sie neben mir auf der Tischpyramide liegt und die Hand über meinen Hinterkopf gleiten lässt, wird das Zittern vorbei sein. Dann ist da nur noch Ruhe und Glück.

Was – nur über den Hinterkopf gleitet diese Hand? Ich dachte, ich hätte mich verlesen. Jetzt möchte ich aber wirklich wissen, was sich auf den nächsten Seiten abspielt. Und was wohl eine Tischpyramide sein soll?

Leider sind wir am Ende der Seite angelangt. Der letzte Satz ist vollends rätselhaft:

Ein dunkler Garten aus Pailletten und Samt, Irrlichter, ein Idyll des Rauschs und der Musik.

Ein Garten aus Pailletten und Samt, ein Garten der Lüste also, in dem schlanke Maiden wachsen, gewandet in Blütenblätter aus Pailletten und Samt? Ein „Idyll des Rauschs“, ein „Idyll der Musik“? Das ist purer Theaternebel. Mir fällt der fiese Spruch eines Schauspielers über einen Regisseur ein: „Wenn ich nicht mehr weiter weiß: Trockeneis, Trockeneis.“ Das einzige ehrliche Wort in diesem letzten Satz ist „Irrlichter“.

Fazit:

Dieser Text ist viel zu unscharf geschrieben, als dass man unter der Lupe des Page-99-Tests etwas sehen könnte: Alles verschwimmt.

Auf 54books hat Katharina Herrmann eine Stilanalyse des ganzen Texts unternommen (in der zweiten Hälfte des sehr langen Beitrags); die Autorin distanziert sich zwar eingangs von ihrer Rezension, doch der Befund hält stand.


Ein Kind seiner Zeit

Seit ich weiß, wie Sieben Nächte entstanden ist, wundere ich mich nicht mehr über den Stil:

Buchblogs - Interview mit Simon Strauß

Eine Art Challenge: Der Verlag stellt seinem Autor an sieben Abenden jeweils eine Überraschungsaufgabe, indem er Ort und Zeit nennt, wo sich der Autor der betreffenden Todsünde aussetzen soll (Steakhouse, Swinger-Club, Trabrennbahn etc.). Am nächsten Morgen um sieben liefert der Autor dann sieben Seiten Text zu seiner Sünden-Erfahrung ab, hinterherredigieren gilt nicht. Hier soll die nackte, rohe Erfahrung eingefangen werden, direkt vom Bauch (der Seele, dem Unbewussten) aufs Papier bzw. den Bildschirm.

Ich gestehe, dass ich das Buch nicht zu Ende gelesen habe. Eine Erschütterung, die man bestellt, ist keine. Immer seichter, weicher und harmloser werden die Sünden, während der Autor sich im Wollen, Sehnen, Reden erschöpft. Dieser autofiktionale Ich-Erzähler ist halt auch nur ein Kind der Zeit, an der er leidet.

Mich wundert kein bisschen, dass einer so etwas schreibt. Mich wundert, dass ein Verlag so etwas druckt. Noch mehr wundert mich, dass so etwas zum Hype des Tages wird (5. Auflage!). Und am allermeisten wundert mich, dass sich alle im larger-than-life-Modus darüber aufregen.

Das allerdings wollte ich schon immer einmal sagen.

Angaben zum Buch
Simon Strauß
Sieben Nächte
Blumenbar 2017 · 144 Seiten · 16 Euro
ISBN: 978-3351050412
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

5 Kommentare

  1. Ich finde ja, dass Danilo Scholz’ Kritik in der taz die einzige ist, die man überhaupt lesen muss (seltsam, dass Du die gar nicht erwähnst): http://www.taz.de/!5433643/ (und ich habe das ganze Buch gelesen, S. 99 ist allemal repräsentativ).

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  2. Gelingt es heute noch, eine Eintagsfliege als zeitgemäßen Popliteraten zu lancieren? Immerhin ist der Widerstand beachtlich: tell, Perlentaucher, Amazon-Rezensenten, TAZ, NZZ und überhaupt der Umstand, im Internet blitzschnell an kritische Stimmen zu gelangen.

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  3. Danke, dass es mal jemand sagt, warum dieses Buch überhaupt gedruckt wurde. Schrecklich belanglos.

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  4. Durch die ganze Diskussion um die Person Strauß habe ich es mir doch tatsächlich geholt – aus der Bib – und ich muss sagen, ich hätte auf mein Gefühl hören sollen, das ich vor der Lektüre schon hatte: es lohnt nicht. Denn es kommt nichts rüber. Wenn man weiß, dass das Ganze als Challenge angelegt war, dann mag das Ganze einen gewissen Hintergrund haben, aber dennoch keinen Sinn ergeben. Schade um die vielen Bäume … und der Satz: “Eine Erschütterung, die man bestellt, ist keine.” trifft es haargenau. Danke.

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  5. Irene Ittekkot 7. März 2018 um 14:10

    Ich habe mich ja sehr über die Tischpyramide belustigt und sie mir vorgestellt: Auf einem großen Tisch steht ein kleinerer, darauf ein noch kleinerer usw. und auf dem obersten Tisch liegt der Ich-Erzähler ruhig und glücklich (wenn auch vermutlich eher unbequem). Den Rest des Romans kann man sich wohl schenken.

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