Dieser Text basiert auf einem Vortrag vom 24. März 2018 auf der Tagung „Der Umweg ist das Ziel“ zum 250. Todestag von Laurence Sterne im Literaturhaus Berlin.
Die erste Begegnung mit Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman ist in jedem Lese-Leben eine Zäsur. Nach Tristram Shandy ist man beim Lesen auf alles gefasst. Man hat am eigenen Leib erfahren, was Ezra Pound mit seinem Diktum meinte, bei Literatur handle es sich um „news that stays new“: Kein Text ist zu alt, um modern zu sein.

Als erstes fällt einem das auf, was allen als erstes auffällt: die Gimmicks. Yoricks Grabplatte mit schwarzer Vorder- und Rückseite, die berühmte Marmor-Imitation als Sinnbild für das „buntscheckige“ Wesen des ganzen Buchs, und die weiß gelassene Seite, auf der sich jeder Leser seine eigene Witwe Wadman malen kann, Objekt von Onkel Tobys Liebeswerben. Der Ich-Erzähler gibt uns (resp. den männlichen Lesern unter uns) detaillierte Anweisungen:

Um dies recht zu begreifen, – laßt Euch Feder und Tinte bringen – hier habt Ihr Papier schon bei der Hand. –– Setzt Euch, Sir, malt sie ganz nach Euerm Sinn –– Eurer Geliebten so ähnlich als möglich –– Eurer Gattin so unähnlich, als Euer Gewissen es Euch erlauben will – mir gilt’s gleichviel –– macht Euch nur ein Plaisier daraus.

So spektakulär die Wirkung dieser buchgestalterischen Aufreger, so rasch verpufft sie. Diese Gimmicks liegen an der Kreuzung, auf der sich alle Leser treffen, sind also trivial. Würde Laurence Sternes Innovation sich darin erschöpfen, wäre sein Werk längst nicht mehr neu.

Ein unzuverlässiger Erzähler

Was Laurence Sterne zu einem permanenten Avantgardisten macht, sind intimere Dinge. Gleich auf den paar ersten Seiten warnt er uns:

Soll­tet Ihr, mein teurer Freund und Weggenoß’, der Mei­nung sein, ich käme auf unserem ersten Ausflug mit meiner Erzählung nur spärlich vom Fleck, – so habt Geduld mit mir, – und laßt mich fortfahren und meine Geschichte auf meine Weise erzählen.

Dass der Ich-Erzähler die Geschichte auf seine Weise erzählt, heißt: Er erzählt sie gar nicht. Ständig unterbricht er sich und uns, bevor wir die Chance haben, irgendwie in Fahrt zu kommen. Er gibt sich als Ungeborener aus und schwadroniert doch daher wie ein alter Mann, er zieht den Vorhang auf unserer Lesebühne nach Belieben auf und zu, und er macht sich über Dinge lustig, die es noch gar nicht gibt: Tristram Shandy liest sich wie eine vorauseilende Parodie auf den Bildungsroman. Dazu kommt, dass Laurence Sterne exakt so schreibt, wie er denkt – und dabei den stream of consciousness entdeckt, 200 Jahre vor James Joyce. Überdies ist er der Erfinder des bei Germanisten so beliebten „unzuverlässigen“ Erzählers: Wenn ihn je gab, dann in Gestalt dieses Tristram, der uns einen Bären nach dem anderen aufbindet.

Das Entscheidende ereignet sich jedoch auf der Mikro-Ebene, in der unmittelbaren Begegnung zwischen Leser und Erzähler. Tristram Shandy ist ein interaktiver Text, so können wir es heute sagen. Hier redet einer mit uns, und zwar in einem unverschämt vertraulichen Ton. Er packt uns am Schlafittchen, verspricht uns erst dieses und dann jenes, nur um uns dann mit etwas Drittem zu foppen. Im Proseminar haben wir gelernt, dass man Autor und Erzähler nicht verwechseln darf. Doch dass dieser Ich-Erzähler erfunden ist, glauben wir keine Sekunde, dazu ist er viel zu unberechenbar. Er macht vor keinem Einfall Halt, schaut sich dabei ständig selbst über die Schulter, und er weiß einfach zu viel für einen bloßen Erzähler, vor allem weiß er viel über uns Leser, über alle Menschen eigentlich. Laurence Sterne unternimmt in Tristram Shandy Verhaltensstudien, wie man sie auch bei William Gaddis findet: So blöd reden wir tatsächlich daher.

Rollentausch zwischen Autor und Leser

Auf ein solches Erzählen gibt es keine Vorbereitung. Bei der ersten Begegnung mit Tristram Shandy sind alle Leser nackt. Mein Erstkontakt mit diesem Erzählen fand im Deutschen Seminar in Zürich statt, während meines Germanistik-Grundstudiums. Siebenkäs und Flegeljahre standen auf der gefürchteten Akzessliste zur Auswahl. Als ich allmählich verstand, dass es bei Jean Paul nichts zu verstehen gibt, war ich hell entsetzt. Mein Über-Ich-gesteuertes, erbsenzählerisches Lesen lief ins Leere, mein ganzes neu erworbenes Germanistenwerkzeug war stumpf. Der Name Tristram Shandy trat dann erst ein paar Jahre später in mein Bewusstsein, kurz nach der Wende. Ich hatte ihn von Durs Grünbein aufgeschnappt. Ich musste nochmal fragen, wie man das schreibt, und Grünbein konnte es, als bildungsversessener Ostler, nicht fassen, dass wir im Westen Tristram Shandy nicht alle längst gelesen hatten.

Wenn ich sage, vor Tristram Shandy sind wir alle nackt, dann meine ich damit, dass wir noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Laurence Sterne, Jean Paul, Denis Diderot und ihre Brüder im aufgeklärten Geiste beließen es nicht beim bloßen Experiment. Sie kündigten die Arbeitsteilung zwischen Autor und Leser, und ich glaube, es ist dieser Rollentausch, der mich damals schon bei Jean Paul so verstört hatte. Wir Leser werden hier nicht bedient, wir haben mit anzupacken. Statt manierlich am Tisch zu sitzen und sich vom Autor auftragen zu lassen, müssen wir uns selbst auf die Jagd machen, sonst gehen wir leer aus. Wer am Tisch sitzen bleibt, erlebt, dass der Autor ihm den Teller vor der Nase wegzieht: Den Kuchen gibt’s später, doch wenn überhaupt, wird es dann kein Kuchen mehr sein.

Beim Lesen scheitern

Nicht zufällig bin ich bei der Ess-Metaphorik angelangt. Lesen hat mit essen zu tun, es ist eine nährende Tätigkeit. Davon zeugen viele Redewendungen, vom Bücherverschlingen bis zum Lesefutter sowie den literarischen „Kostproben“ und „Leckerbissen“. Doch Tristram Shandy und sein Autor wollen uns nicht füttern. Die beiden wollen ihren Spaß mit uns haben! Für die meisten Erstleser ist das eine Zumutung, umso mehr, wenn sie sich, wie ich damals, zu den gelernten Lesern zählen und glauben, mit Studieren, Analysieren und Interpretieren könnten sie diesem Ding beikommen. Keine Chance. Dieses Ding hält nicht still.

Mit anderen Worten: Tristram Shandy ist zwar Literatur, doch man kann dieses Buch nicht einfach lesen. Diese Erfahrung des Scheiterns ist es, die Shandy-Leser von Shandy-Nichtlesern trennt. Shandy-Leser lesen, obwohl es keine Geschichte gibt. Letztlich glimmt in jedem von uns die Hoffnung, in einem Buch auf eine Geschichte zu stoßen. Geschichten trösten uns, weil sie einen Anfang und ein Ende haben. Geschichten sind dazu da, dass wir uns einen Reim auf sie machen, damit wir uns in der Illusion wiegen, wir bekämen das Leben für einen Moment zu fassen an dem Henkel, den uns der Autor reicht. Laurence Sterne reicht uns keinen Henkel, im Gegenteil, er zieht uns die Geschichte ständig unter den Füßen weg. Wir erleben, live und in Farbe, dass es auf die Geschichte gar nicht ankommt, sondern nur auf die Art und Weise, wie sie uns erzählt wird. Laurence Sterne (bzw. sein Tristram) erzählt uns nicht eine Geschichte. Er erzählt uns das Erzählen selbst, indem er aus der kürzesten Distanz von A nach B den längsten Umweg macht, der sich denken lässt.

Ein permanentes Störmanöver

Literatur sei die Aufladung von Sprache mit Bedeutung, hat Ezra Pound in ABC des Lesens gesagt, und er hat Autoren, die die Literatur mit Energie versorgen, in Kategorien eingeteilt: Es gibt die Erfinder, die Meister und die Verwässerer. Sterne gehört zweifellos zu den Erfindern. Er hat entdeckt, dass der Leser ein Spielgefährte sein kann, und er hat einen Ich-Erzähler erfunden, der beim Erzählen das Erzählen ständig neu erfindet. Alles könnte auch anders sein, alles könnte auch anders erzählt werden. Was dabei herauskommt, ist das am weitesten entfernte Gegenteil von Trivialliteratur, über die Thomas Harlan einmal sagte: „Alles ist mit dem Leser abgesprochen. Da gibt es kein Wort mehr, das ihn stört.“ Tristram Shandy ist ein permanentes Störmanöver, und jeder Leser liest die Mehrdeutigkeiten und Überraschungen anders.

Klingt anstrengend? Oh ja. Es ist eine Lektüre, die man nicht konsumieren kann, und es hat durchaus seine Richtigkeit damit, dass solche Turbo-Spielereien in der Literatur die Ausnahme sind. Sie sind mehr als nur eine Ausnahme, sie schaffen sich gleich selbst ab: Tristram Shandy ist nicht wiederholbar. Wir brauchen keinen modernisierten, erneuerten, weiter entwickelten Tristram Shandy. Hier gibt es nichts zu erneuern, im Gegenteil: Das Ding ist nicht totzukriegen.

Deshalb sind alle Leser eingeladen zum Mitspielen, egal in welcher Zeit sie leben.

Angaben zum Buch
Laurence Sterne
Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
Roman · Aus dem Englischen von Michael Walter
Mit einem Nachwort von Wolfgang Hörner
Galiani Verlag 2015 · 868 Seiten · 24,99 Euro
ISBN: 978-3869711195
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Beitragsbild:
Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman: Aus Band VI, Kapitel XL

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. […] in vollen Zügen nach. Auch ich habe hier darüber schon geschrieben. Tell Review ergründet die Faszination von Laurence Sterne, Lustauflesen berichtet von neuen Entwicklungen im Ulysses-Übersetzungs-Streit. Wissenswertes rund […]

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert