Die britische Historikerin Catherine Merridale hatte in den 1980er-Jahren ein Jahr in Moskau studiert und promovierte später in Cambridge über die KPdSU unter Stalin. Sie erzählt mit grundlegender Sympathie für Russland und die Sowjetunion:

Das Universum von Marx und Lenin war einmal mein eigenes.

Diesen Satz schreibt Merridale, ohne die Verbrechen des Sozialismus zu relativieren. Freilich macht sie auch die Unvermeidlichkeit der russischen Revolution angesichts des Krieges und seiner Folgen deutlich. Beim Lesen ihres ebenso lesbaren wie glänzend recherchierten Buchs entwickelt sich das Bild einer ungeheuerlichen Schachpartie: Agenten und Diplomaten wechseln dabei fast stündlich die Rolle von Spieler und Brettfigur, von handelndem Subjekt und Objekt.

Instabiles Zarenreich

Catherine Merridales Erzählung beginnt im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs. Nach den menschen- und materialfressenden Schlachten an der Westfront ist der deutschen Generalität klar, dass es einen Siegfrieden an zwei Fronten nicht geben kann. Oberstes strategisches Ziel ist folglich die Auflösung einer der beiden Fronten. Dafür scheint sich die Front im Osten gegen Russland anzubieten. Allerdings muss das Deutsche Reich als Kriegsgegner ohne diplomatische Vertretung in Russland indirekte Verbindungen knüpfen, um dort destabilisierenden Einfluss ausüben zu können. Die neutralen skandinavischen Länder sollen hierzu als Vehikel dienen.

Nicht nur den Deutschen ist die innere Instabilität des Zarenreiches bekannt, sondern ebenso den Mächten der Entente. Diese haben ein Interesse daran, dass der Krieg an der Ostfront möglichst lange dauert. Als Russlands Verbündete sind sie diplomatisch in Sankt Petersburg vertreten und damit im Vorteil. Unter den Diplomaten und Agenten finden sich auch Literaten wie William Somerset Maugham und Hugh Walpole. Für das Kerngeschäft der Agenten sind sie allerdings nur mäßig geeignet, wie Catherine Merridale anmerkt – der süffisante Ton zieht sich durchs ganze Buch:

Beide sammelten eine Menge Material für spätere Bücher, doch keiner machte große Fortschritte, was die russische Öffentlichkeit anging.

In scharfem Kontrast dazu steht Lenin, der russische Emigrant in Zürich. Er kann die Dialektik zwischen Gedanken und Tat in einer ganz anderen Spannung halten, und er beherrscht darüber hinaus den „Würgegriff des Proletariats“, so eine damalige Redewendung. Die Deutschen sondieren zunächst noch via Dänemark einen Sonderfrieden mit dem Zaren. Vergebens. Ihr zweiter Plan zielt auf nichts Geringeres als die Auflösung des Zarenreiches. Sie wollen einen Zustand herbeiführen, den man heute wohl als failed state bezeichnen würde – eine Taktik übrigens, die die Deutschen laut Merridale bereits anderswo versucht haben:

Schon vor Beginn des Krieges waren deutsche Provokateure von Irland bis Afghanistan intensiv tätig.

Protokoll einer Zugfahrt

Die Deutschen wissen, wen sie nach Russland entsenden müssen: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Und so beginnt am 09. April 1917 die berühmteste Zugfahrt der Weltgeschichte. Merridale protokolliert sie Tag für Tag, sie ist die Strecke für das Buch noch einmal abgefahren. Diese Zugfahrt zeitigt das erwartete Ergebnis: Lenins Konzept eines „Friedens ohne Annexion“ – so die damalige Formel – führt zum Friedensdiktat von Brest-Litowsk. Lenin vertrat dieses Konzept nicht exklusiv. Er hatte aber den propagandistischen Vorteil, dass er mit seinen Bolschewiki nicht zur Februarrevolution gehörte, die den Krieg weiterführte. So konnten sich die Bolschewiki als einzige Partei profilieren, die den Krieg bedingungslos ablehnte.

Entscheidend war nach Catherine Merridale jedoch Lenins Überzeugungskraft:

Während andere Gespräche führten und höfliche Zugeständnisse austauschten, wobei sie über den Pfad der Revolution staksten, als versuchten sie, nicht auf verborgene Minen zu treten, wusste Lenin genau, wohin er sich begeben sollte und warum.

Aber Merridale weiß auch, dass Lenins Triumph nicht allein auf Gewalt beruhte:

In erster Linie war er auf eine Wahrheit gestoßen, die zu hören die Menschen sich wünschten. Die Einzelheiten des konstitutionellen Wandels interessierten hungrige Arbeiter und ungeduldige Garnisonssoldaten nicht. […] die Menschen auf den Straßen machten Revolution, um sich Frieden, Arbeitsplatz und Brot zu sichern.

Parallelen zur Gegenwart

Um auf das Bild des Schachspiels zurück zu kommen: Lenin wurde als Bauernopfer ins Spiel gebracht, als reines Objekt – doch dann setzte er als handelndes Subjekt alle anderen matt, ganz en passant. Hier endet Merridales Bericht. Man könnte denken, es sei ein Bericht aus ferner Zeit, aber die Analogien in die Gegenwart hinein sind unübersehbar. Merridale schreibt:

Mit Schaudern betrachte ich die heutigen Konflikte in der arabischen Welt. Lenins Zug gehört nicht ausschließlich den Sowjets. Teils ist sie eine Parabel über Großmachtintrigen, und eine Regel besagt, dass Großmächte fast immer Irrtümer begehen.

Die „Irrtümer“ der Großmächte gibt es auch heute, und sie gleichen den Irrtümern von damals bis ins Detail. Der Glaube etwa, mit installierten Schachfiguren eine revolutionäre Situation von außen kontrollieren zu können, ist ungebrochen, wie sich im Nahen Osten zeigt.

Angaben zum Buch
Catherine Merridale
Lenins Zug. Die Reise in die Revolution
Sachbuch · Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Verlag S. Fischer 2017 · 384 Seiten · 25,00 Euro
ISBN: 978-3100022745
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

 

Bildnachweis:
Beitragsbild: Broschüre Fritz Platten: Die Reise Lenins
von Cherubino (Eigenes Werk) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Buchumschlag: S. Fischer Verlag
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Von Herwig Finkeldey

Ein Kommentar

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    Hartmut Finkeldey 19. April 2017 um 21:12

    Zwei Ergänzungen, besser Lektürempfehlungen, zum Essay meines Bruders:
    a) http://gutenberg.spiegel.de/buch/sternstunden-der-menschheit-6863/13 Stefan Zweigs historische Miniaturen sind nicht immer genau, aber lesenswert und inzwischen selber Quelle (“Der versiegelte Zug”: wie nahmen westeuropäische Intellektuelle in den 1920ern die Oktoberrevolution wahr).

    b) generell zum Thema: Barbara Tuchman, Die Torheit der Regierenden – von Troja bis Vietnam. Tucman sieht im Akzeptieren des trojanischen pferdes durch die Troier das Modell dafür, wie Mächte, indem sie besonders clever und realistisch zu handeln meinen, sich objektiv selbst schädigen.

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