Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan erkundet in Der Trost des Nachthimmels die Entstehung extremer politischer Gewalt. Zu den Hauptfiguren gehört der Erfinder des Selbstmordattentats: der Perser Hassan al-Sabah (1050-1124). Obwohl alle Welt heute vom islamistischen Terror und unserer Angst davor redet, hat dieser epochale Roman (Frühjahr 2016) bisher nicht ins literarische Gespräch Eingang gefunden. Es gab einen Verriss in der Süddeutschen Zeitung („Dieses Buch ist eine Dreistigkeit! Und zwar, weil es so gar nichts Dreistes hat.“) und eine weit ausgreifende Lobrede in der Neuen Zürcher Zeitung (“eine mächtige Arche Noah poetischer und philosophischer Welterkenntnis”). Ansonsten wurde das Buch vom Feuilleton weitgehend ignoriert.

Psychogramm eines Ideologen

Liegt es daran, dass Dževad Karahasan unsere Lesegewohnheiten unterläuft? Die 724 Seiten lassen sich nicht schnell lesen. Der Roman beginnt mit einem Mordfall. Wir befinden uns in Isfahan im 11. Jahrhundert; der angesehene Bürger Mirchond wird vergiftet, und der Mathematiker, Dichter und Arzt Omar Chayyam, ein Freund der Familie, soll ihn retten. Nachdem ihm dies misslingt, erhält er den Auftrag herauszufinden, wer Mirchond ermordet hat. Das Whodunit jedoch ist nur ein Augenzwinkern in Richtung Krimi, denn der Mord dient dem Autor lediglich als Vorwand dafür, uns in das Denken von Omar Chayyam (1048–1131) einzuweihen (sowie in die Absichten und Hintergedanken aller Beteiligten). Rein der Logik nach, so erkennt Chayyam, hätte jeder im Haus ein Motiv für den Mord gehabt, denn außergewöhnlich ist nicht der Mord, sondern das Gegenteil. Chayyam fragt sich:

„Warum morden wir dann nicht so viel, wie es die Vernunft von uns erwartet?“

Wir lesen von Mord und Totschlag und werden Zeuge gesellschaftlicher Umbrüche: Die Perser entdecken das, was man später Nationalismus nennt, radikale Bewegungen verbreiten Angst und Schrecken. Die meisten Figuren sind historisch – und doch handelt es sich nicht um einen historischen Roman. Denn Karahasan schlägt kein erzählerisches Kapital aus Zeitenferne und Exotik. Was den Roman trägt, ist die Entfaltung von Ideen, die Erforschung der menschlichen Seele.

Kaum je sehen wir die Figuren handeln. Stattdessen lauschen wir ihren Gesprächen und den inneren Monologen des am Leben verzweifelnden Logikers Omar Chayyam oder des Großwesirs Nizam al-Mulk, der staatlichen Utopien nicht abgeneigt ist und zugleich seine Macht konsolidieren will. Vom genialischen Hassan al-Sabah wiederum heißt es:

Große Fähigkeiten gehen oft mit großen Charakterschwächen einher.

Hassan ist anfangs ein Schützling von al-Mulk und ein Weggefährte von Chayyam. Doch dann radikalisiert er sich, schließlich geht er als Anführer der „Assassinen“ in den Untergrund.

Er genießt nicht und liebt nicht, er freut sich nicht und weiß nicht, was er mit sich, mit den anderen, mit der Welt anfangen soll, außer sie seinen Vorstellungen entsprechend zu verbessern und anzupassen.

Hassan ist selbst dem Leben entfremdet, nun verführt er andere dazu, sich für seine „Wahrheit“ zu opfern. Das ist das Psychogramm eines Ideologen – im 11. wie im 21. Jahrhundert.

Eine entschleunigte Welt

Die Figuren sind Typen, und nicht alle werden beim Lesen als Charaktere lebendig. Man mag das bemängeln, doch vielleicht ist dies hier ein falsches Kriterium. Der Trost des Nachthimmels ist kein Thesenroman. Die Figuren sind nicht Sprachrohr ihres Autors, sondern exemplarisch und damit zeitlos: Sie repräsentieren Traditionen, die weit über den Einzelnen hinausreichen. In die Köpfe seiner Figuren hat Dževad Karahasan sein umfassendes Wissen über die Philosophie des mittelalterlichen Islam gepackt, eine Philosophie, die das Denken der Antike weiterführt – und die uns weit weniger fremd ist als das, was wir heute im Westen als Islam wahrnehmen.

Diese weitläufigen Gedankengebäude überfordern einen beim Lesen gelegentlich. Doch die eigentliche Zumutung dieses singulären Werks besteht nicht in dem, was wir lesen, sondern in dem, wie es uns erzählt wird. Karahasans Stil bemächtigt sich unseres Zeitempfindens. Wer das Buch aufschlägt, betritt ein üppig geschmücktes Zelt, setzt sich auf Kissen und Teppiche, „man bewirtet Menschen mit Gespräch und Gesellschaft“, heißt es gleich auf den ersten Seiten. Wir sind Zuhörer in einer entschleunigten Welt.

[…] diese Leute ließen die Worte ihrer Gesprächspartner verklingen, damit die Luft, durch die sie gingen, sich völlig beruhigte und die Leute, die zuhörten, zumindest ein wenig darüber nachdachten.

Dževad Karahasans Sätze schwingen weit aus. Sie bieten allen Wörtern Raum, und zugleich füllen die Wörter den Raum des Satzes bis in den letzten Winkel, angeordnet nach den Regeln der Logik, die letztlich ein Spiel ist. Chayyam hat es mit der Therapie des kranken Mirchond nicht eilig, denn „eine falsche Therapie töte sicherer als jede Krankheit, und alle Therapien seien falsch außer der einzig richtigen“. Ins Alltagsdeutsche übersetzt: Bevor man nicht weiß, welche Therapie dem Patienten nützt, macht man lieber nichts! Diese Binsenweisheit verwandelt Dževad Karahasan in ein Bijoux aus ziselierten Widersprüchen: Eine Therapie kann nicht nur heilen, sondern auch töten, und zwar „sicherer“ als jede Krankheit, und alle Therapien sind falsch – außer der einzig richtigen. Dass wir diese Feinheiten auch im Deutschen  genießen können, verdanken wir der Übersetzerin: Katharina Wolf-Grießhaber hat den Rhythmus, das Hin- und Herschwingen der Gedanken und die Wahl der genau richtigen Worte großartig ins Deutsche übertragen.

Dialektik und Paradox

Die Funktion der Sprache als Informationsträger sei ihre unwichtigste Funktion, sagt Dževad Karahasan im Interview auf der Verlagsseite. In seinem Roman unterhält uns Karahasan nicht mit dem Gesagten, sondern mit der Form, dabei reizt er die Dialektik aus und lässt sich kein Paradox entgehen.

Als trauerte er um etwas, was er schon lange unwiederbringlich verloren hatte, womöglich sogar vor der Geburt, worauf er aber nicht verzichten und was er nicht vergessen konnte, oder als schmerzte ihn sein Aufenthalt in der Welt.

Der grüblerische, am Leben leidende Chayyam trauert um etwas, das er nicht verloren haben kann, weil er es nie besessen hat, denn es war bereits verloren, als er noch nicht existierte – die erste logische Windung. Er kann es nicht kennen, weil er es nie besessen hat, und trotzdem – zweite Windung – kann er nicht darauf verzichten, ja er kann das, was er nie besessen hat – dritte Windung – nicht einmal vergessen. Nun folgt ein „oder“, auf dem das ganze Konstrukt balanciert: „oder als schmerzte ihn sein Aufenthalt in der Welt.“ Dieser kurze Rest des Satzes muss so viel Gewicht auf die Waagschale bringen, dass er mit dem dreifach verästelten Satzteil davor das Gleichgewicht zu halten vermag.

Das ist keine Spielerei. Es hat Tiefe, denn die Form verschmilzt mit der Bedeutung. Dževad Karahasan holt den Verlust selbst in die Sprache, er inszeniert ihn mit Verben des Verlusts: verloren, verzichten, vergessen – um dann den Satz zu öffnen für das, worum es im ganzen Buch geht: die Frage nach dem, was unser „Aufenthalt in der Welt“ bedeutet. Manchmal verliert der Weg dieser Gespräche sich in seinen Kurven, und man wird mit Dingen ermüdet, die man so genau gar nicht hat wissen wollen. Doch das gehört zum Risiko dieses Schreibens, vielleicht gar zu seiner Natur.

Angst als Herrschaftsinstrument

Der Trost des Nachthimmels handelt, nebst anderem, von der Wahrnehmung. Chayyams Frau Sukayna, Trägerin des weiblichen Wissens, erzählt vom Paradiesblick. Wer ihn hat, „fürchtet sich nicht vor der Welt und den Dingen ihr ihr und will sie nicht beherrschen“. Wer dagegen mit dem „Blick der Verbannten“ schaut, ist nicht „im Gespräch mit der Welt“, er hat Angst, deshalb will er die Dinge einordnen und beherrschen. Dževad Karahasan eignet sich schreibend diesen Paradiesblick an: ein unverwandt kontemplativer Blick auf die Schönheit der Welt – und auf ihren Schrecken.

Hier steckt eine weitere Provokation für moderne Leser. Karahasan zeigt Abgründe, doch er fällt kein Urteil. Er kritisiert nicht, sondern bedauert, denn letztlich glaubt er nicht daran, dass man das Böse aus der Welt entfernen kann. Was Hassan al-Sabah über die Angst als Herrschaftsinstrument sagt, gilt heute wie damals:

Deine Angst bestimmt, was dir im Leben wichtig ist und mit wem du Umgang pflegst, was du lernst und worüber du nichts erfährst.

Hassan kennt die Ambivalenz der Angst:

[…] der verängstigte Mensch schaukelt wie ein Ast im Wind und schwankt zwischen dem Wunsch, vor dem, wovor er sich fürchtet, zu fliehen, und dem Bedürfnis, sich ihm zu nähern und sich womöglich mit ihm zu vereinigen.

Durch Terror hat Hassan einen unsichtbaren und uneinnehmbaren Staat geschaffen. Wie eine Spinne sitzt er im Netz.

Wenn sich an allen Höfen die Angst ausbreitet, werden wir die Herren sein.

Dies alles steht in einem Brief, den Hassan am Ende seines Lebens seinem früheren Freund Chayyam schreibt (dessen Frau Sukayna er höchstwahrscheinlich hat ermorden lassen). Ein weiteres Augenzwinkern in Richtung Krimi, denn die brieflichen Ausführungen entsprechen der Beichte, die der überführte Übeltäter im Krimi vor dem Detektiv abzulegen pflegt.

Selbstverständliche Spiritualität

Dževad Karahasan kritisiert seine Figuren nicht – und doch ist sein Schreiben ein kritisches. Die Kritik (griech: Unterscheidung) bezieht sich nicht auf menschliche Handlungen, sondern auf die Bedingungen unseres Seins. Der Trost des Nachthimmels behelligt uns mit Metaphysik, und damit verletzt dieser Roman die Konventionen der westlichen Literatur noch mehr als mit dem Aushebeln unseres Zeitempfindens. Weil Karahasan das Geschehen in eine vormoderne Zeit entrückt, kann er so tun, als sei Spiritualität etwas Selbstverständliches. Genau danach sehnen sich viele, doch zugleich ist es uns suspekt.

Chayyam findet im Nachthimmel Trost, weil die Bewegungen der Sterne Gesetzen folgen, die alles in einen Zusammenhang stellen. Chayyam folgert daraus, dass auch auf der Erde nichts zufällig geschieht, sondern alles sinnhaft verbunden ist. Es gibt in diesem Buch viele Sätze, die trösten. Über einen Menschen, dem nichts gelingt, heißt es etwa:

[…] das Unglück begleitet solche Menschen wie ihr eigener Rücken – er sieht es nicht, aber es ist ständig da.

Man könnte das auch mit psychologischen Begriffen ausdrücken, aber es wäre schade drum.

So viel konnten wir tun. Der Rest liegt nicht in unseren Händen.

Mit diesen Worten endet der Roman.

P.S.: Es folgen noch zwanzig Seiten, die mit dem literarischen Motiv des verschollenen Manuskripts jonglieren. Aufgeschrieben wurde die Geschichte von Chayyams Leben und Denken demnach im 12. Jahrhundert von einem reiselustigen Bosnier namens Vukac, der mit Chayyam vierzig Jahre zuvor ein (für ihn entscheidendes) Jahr verbracht hatte. Dieses Manuskript – in bosnischer Sprache und arabischer Schrift – findet der Student Juso Podžan Livnijak irgendwann zwischen 1975 und 1985 in der Bibliothek von Sarajevo, und er transkribiert es aus der arabischen Schrift. Im August 1992 wird die Bibliothek von serbischen Phosphorgranaten in Brand geschossen, beide Manuskripte verbrennen. Im Jahr 2008 rekonstruiert nun dieser ehemalige Student, inzwischen im norwegischen Exil, das zerstörte Manuskript aus dem Gedächtnis in einer dritten Niederschrift.
Das Buch hat diese aufwändige Verpackungsfiktion nicht nötig. Wollte der Autor sichergehen, dass wir die orientalische Geschichte im Hinblick auf unsere Gegenwart lesen?

Angaben zum Buch
Dževad Karahasan
Der Trost des Nachthimmels
Roman
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber
Suhrkamp Verlag 2016 • 724 Seiten • 26,95 Euro
ISBN: 978-3518425312
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Bildnachweis
Beitragsbild: Große Moschee von Isfahan
Diego Delso [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons

Buchcover: Suhrkamp Verlag
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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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