Im Sommer 2015 hatte Wolfram Schütte auf dem Perlentaucher mit seinem Essay “Über die Zukunft des Lesens” eine Debatte über Literaturkritik im Netz angestoßen. Angesichts des schwindenden Platzes in den Printmedien forderte Schütte ein neues Literaturmedium im Netz:

ein sich selbst regelmäßig journalistisch regenerierender Ort literarischen Lebens, der zentrale Umschlagbahnhof für alle literarischen Waren.

Während sechs Wochen beteiligten sich 25 Kritiker und Blogger an einer Diskussion: Die Zeit schien reif für ein neues Medium, und deshalb gibt es jetzt tell.

Der Niedergang der Literaturkritik wird beschworen, seit es sie gibt. Doch hat sich mit der Feststellung, dass etwas schon immer so war, die Diskussion erledigt? Eben nicht, es handelt sich vielmehr um eine Auseinandersetzung, die in regelmäßigen Abständen immer wieder neu geführt wird. So sind auch die Argumente, die in der Perlentaucher-Debatte genannt wurden, keineswegs neu. Man findet sie etwa in Elizabeth Hardwicks Essay On the Decline of Book Reviewing, abgedruckt 1959 in Harper’s Magazine. Ein Text, der damals heftig diskutiert wurde und der eine Inspiration für die Gründung der New York Review of Books war, vier Jahre darauf.

Elizabeth Hardwick

Elizabeth Hardwick

Ein Sonntagmorgen mit Buchkritiken sei „oft eine trostlose Angelegenheit“, schreibt Elizabeth Hardwick. Im amerikanischen Rezensionswesen kritisiert sie

  • eine allgemeine, leicht stumpfsinnige Gefälligkeit
  • flaches Lob und matte Einwände
  • fehlende Anstrengung und Mühe

Ätzende Kritik, so Hardwick, gebe es nur noch als Erinnerung:

Schlichte Berichterstattung hat offenbar über das Drama der Meinungen gesiegt.

Homestorys, Porträts und Interviews sind als Alternative zur klassischen Rezension also längst nicht so neu, wie wir oft glauben, und schon immer waren sie von der Befürchtung begleitet, dass sie das kritische Handwerk gefährden könnten. In der Tat erlauben diese Textsorten es dem Kritiker, über Literatur zu schreiben, ohne ein Urteil zu fällen. Und damit nicht genug: Die Nähe zum Autor führt zu einer Beißhemmung – oft ohne dass dies dem Kritiker bewusst wird.

In der Perlentaucher-Debatte gibt es, über ein halbes Jahrhundert später, erstaunliche Parallelen zu Hardwicks Analyse.

Echo auf Perlentaucher:
Wolfram SchütteMichael Hasin
„Immer häufiger verdrängen Berichte von literarischen Veranstaltungen, Autorenporträts oder -beiträge Rezensionen & Kritiken, deren spezifischer Platz einmal die „Buchseite“ gewesen ist.“ 
„Die Literaturkritik hat das Streiten verlernt, das Streiten darüber, was ein guter Text ist und was nicht.“

Elizabeth Hardwick zitiert in ihrem Essay eine Untersuchung aus dem Jahr 1956. Die Wayne University hatte anhand des Book Review Digest die Wertungen von Kritiken ermittelt:

  • favorable: 51%
  • non-committal: 44,3%
  • unfavorable: 4,7%

Hardwick nennt es „our old faithful, the eternally <favorable review>“. Die wohlwollende Kritik, „die sich wacker hält, mit all der Ausdauer, die wir von ihr zu erwarten gelernt haben“.

Ob die Statistik in Deutschland heute anders ausfallen würde?

 

Echo auf Perlentaucher:
Dana BuchzikEkkehard Knörer
„Am Ende steht also: die Gefälligkeitsrezension. Die fehlende ehrliche Auseinandersetzung mit dem Text wird durch selbstgefällige Assoziationsketten kompensiert, durch vergeistigte Geschichten, die der Kritiker dem eigentlichen Textgegenstand Buch überstülpt, bis dieser nicht mehr erkennbar ist. Überzuckert wird das Ganze mit pathetischen Nullsätzen, die nur zu gern auf dem Buchrücken oder wenigstens in der Presseschau des Verlags landen möchten. Da ist auch der tausendste Wenderoman noch ein ‚Parforceritt‘ durch die deutsche Geschichte, und der zehntausendste Dachbodenfund erzählt ‚verstörend‘ und ‚ergreifend‘ davon, ‚dass man einen anderen Menschen nie wirklich kennen kann‘.“
angesichts einer Buchbeilage mit Sommer-Lektüreempfehlungen der Zeit: „Die Literaturkritik in der Zeit ist – mit den Krautreportern zu sprechen – kaputt. Häppchentexte, die Empfehlungen sein mögen, aber mit Analyse von Sprache, Gehalt, Form wenig bis nichts zu tun haben.“

Kritiker mit Charakter

Elizabeth Hardwick vermisst bei ihren Kollegen eine bemerkenswerte Liste von Eigenschaften:

  • Engagement
  • Leidenschaft
  • Ernsthaftigkeit
  • Geistige Unabhängigkeit
  • Charakter
  • Exzentrizität
Echo auf Perlentaucher:
Michael HasinNikola RichterJörg Sundermeier
„Kritik braucht Glauben, nicht an Gott, aber an die Literatur. Kritiker und Kritikerinnen müssen Literatur lieben und müssen daran glauben, dass Literatur Bedeutung hat.“
wünscht sich „mehr Mut zu eigener Meinung, zur Einordnung. Weniger Kaufempfehlungen als Kontextualisierung.“
wundert sich über den „inflationären Gebrauch der Adjektive und und die zugleich oft so restlos fehlende Beschreibung der Machart der Texte“. Sein Desiderat: „mündige Kritikerinnen und Kritiker“.

Mündige Kritiker – Kritiker mit Charakter, um mit Hardwick zu sprechen – erkennt man daran, dass sie die Kritiken ihrer Kollegen nicht lesen, bevor sie ihre eigene geschrieben haben. Wäre diese Abstinenz die Regel, käme es nicht zu den wiederkehrenden Feuilleton-Hypes: Helene Hegemann, Daniel Kehlmann, der allseits gefeierte Büchnerpreisträger Rainald Goetz, Ralf Rothmanns Im Frühling sterben.

Würden die empfehlenden, wohlwollenden, lobpreisenden Kritiken den Büchern gerecht, dann hätten wir das große Glück, in einer Goldenen Ära der Literatur zu leben. In einer Ära also, in der Sturgeon’s Law – „ninety percent of everything is crap” – nicht gilt.

Interessanterweise tun sich viele Kritiker mit dem pauschalen Verdammen so leicht wie mit dem pauschalen Loben. Mal wird die mangelnde „Welthaltigkeit“ der Gegenwartsliteratur kritisiert, mal beklagt man, sie hätte das Erzählen verlernt. Mal fordert man von den Autoren Realismus, mal wirft man ihnen eben diesen vor.

Was lernen wir daraus? Dass wir nicht in einer außergewöhnlichen Epoche der Literatur leben, sondern in einer Epoche ganz gewöhnlicher Literaturkritik.

Was braucht es, um Literaturkritik (wieder?) aufregend zu machen?

Wie sagt Elizabeth Hardwick:

It does matter what an unusual mind, capable of presenting fresh ideas in a vivid and original and interesting manner, thinks of books as they appear.
(Es ist in der Tat von Belang, was ein außergewöhnlicher Kopf, der neue Ideen lebendig und originell und interessant formulieren kann, über soeben erschienene Bücher denkt.)

Bilder: Fotograf unbekannt (Elizabeth Hardwick), Newsroom der New York Times 1942 – Marjory Collins (Header)

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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