Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Paris und Berlin. 2016 erschien ihr letzter Roman Eclipse auf Deutsch. Im selben Jahr erhielt sie den Prix de l’Académie de Berlin.

Frank Hahn: Nach der Krise des Romans sollten die Schriftsteller wieder mehr erzählen, sagen Sie in Ihrem Essay Für die Literatur. Das wirft sofort die Frage nach dem Wie auf. Wie unterscheidet sich Literatur von Journalismus? Wie politisch soll oder darf Literatur sein? Sie warnen davor, Literatur unter dem Druck der Ereignisse zu schreiben: Die Zeit der Dringlichkeit sei nicht die Zeit der Literatur.
Cécile Wajsbrot: Zwei Wochen nach den Anschlägen in Paris gab es ein Sonderheft von Le Monde, Schreiben gegen den Terror, man hatte Schriftsteller um einen Text zu den Anschlägen gebeten. Die Texte waren nicht gut, und ich habe mich gefragt, warum. Diese Schriftsteller hatten nichts zu sagen. Vielleicht hätten sie etwas schreiben können, wenn sie direkt dabei gewesen wären, aus dem Gefühl heraus. So haben sie versucht, etwas Literarisches zu verfassen, aber das ist ihnen nicht gelungen.
Unter dem Druck der Ereignisse kann man nichts Literarisches schreiben, oder jedenfalls nur sehr selten. Doch auch wenn wir es tun: Wir verwenden für solche Ereignisse andere Worte als die der Fernseh-Nachrichten. Wir können diese Worte finden, wenn wir lesen, was andere Schriftsteller in ihrer Zeit geschrieben haben. Auf ihren Schultern sozusagen können wir später, mit einem gewissen Abstand, über das schreiben, was wir selbst erlebt haben. Natürlich sind wir als Schriftsteller auch Bürger, und als Bürger können wir Sachen empfinden und denken – aber das ist nicht interessanter als das, was andere denken.

Das ist der Unterschied zwischen Literatur und Journalismus….
…genau. Literatur ist etwas anderes – man braucht erst einmal Abstand zu dem Geschehen, das gilt übrigens auch für private Themen, wenn es zum Beispiel um eine Liebesgeschichte geht oder eine Trennung. Wenn ein Autor dazu sofort etwas schreibt, ohne zeitliche Distanz, entstehen meist keine guten Bücher, es sind einfach Berichte, wie sie ein guter Journalist schreiben würde. Natürlich reicht zeitliche Distanz allein nicht, aber sie ist notwendig. Um politisch zu sein, muss man die Dinge nicht direkt angehen, sondern einen Umweg wählen. Es gibt natürlich Gegenbeispiele – Gedichte, wie sie in der Résistance zum Beispiel von Aragon geschrieben wurden, aber das sind kurze Texte. Mit einem Roman müsste man sich viel mehr Zeit nehmen.

Wodurch zeichnet sich literarisches Schreiben aus? Sie sprechen von einer Gleichzeitigkeit zwischen innen und außen, zwischen verschiedenen Zeitformen.
Es gibt die Zeit, in der die Ereignisse geschehen sind, über die man schreibt, und es gibt die Zeit des Schreibens selbst. Das sind unterschiedliche Schichten, und man braucht Zeit, um von einer Schicht in die nächste vorzudringen. Als Drittes hat man die Zeit, in der ein Buch erscheint – und das ist nicht unbedingt eine Zeit, die auf ein solches Buch wartet. Das Thema hat sich in den Zeitungen und im kollektiven Gedächtnis vielleicht schon erledigt. Wenn dann ein weiteres Buch hinzukommt – hat man dann noch Lust, ein solches Buch zu lesen? Nicht unbedingt. So überlappen sich verschiedene Zeiten.

Form durch Distanzgewinn

Ein Buch kann also gewissermaßen zu spät oder zu früh kommen, sowohl für den Leser als auch für den Autor. Sie haben sich lange mit dem literarischen Zeugnis über die Shoah beschäftigt und mit der Last auf den Schultern der nachgeborenen Schriftstellergeneration.
Die nachgeborene Generation, zu der ich gehöre, war mit der Zeitzeugenschaft konfrontiert und mit dem, was diese Zeitzeugen zu berichten hatten – Ruth Klüger, Jean Améry, Robert Antelme, Imre Kertész. Ihr Zeugnis war so enorm und beeindruckend, dass sie dazu kaum eine literarische Form suchen mussten. Robert Antelmes Menschengeschlecht beispielsweise ist keine Literatur. Ein beeindruckender, überwältigender Inhalt, aber ohne literarische Form. Im Vergleich dazu hatte meine Generation nichts zu sagen.

Haben wir es hier ebenfalls mit dem fehlenden Abstand zwischen dem Erlebnis und dem Schreiben zu tun? Gerade bei Antelme gab es diesen Abstand ja kaum.
Vielleicht ist das ein Grund. Was hingegen Primo Levi geschrieben hat oder Marguerite Duras mit La Douleur, das ist für mich Literatur. Ruth Klüger hat ihr Buch weiter leben spät geschrieben, und zunächst gefiel es mir, aber dann fand ich das Buch ein wenig hart und steif – es wurde schon allein des Themas wegen als Literatur eingestuft. So verschwimmt die Grenze zwischen Bericht und Literatur. Doch ich möchte das Werk dieser Autoren nicht schmälern. Nehmen wir Imre Kertész: Seine Essays sind ganz wunderbar, seine Romane allerdings finde ich weniger gelungen. Wir, die Nachgeborenen, sind gezwungen, Fiktion zu schreiben – wir sind zwar von dieser Geschichte geprägt, doch wir kannten sie nur vom Hörensagen. Wir hatten Narrative gehört, die wir nur in der Form des Romans weitertragen konnten.

Ist die Fiktion vielleicht sogar das eindringlichere Zeugnis?
Es gibt einen tschechisch-österreichischen Autor, H. G. Adler, der Theresienstadt überlebt hat, während seine Familie in Auschwitz ermordet wurde. Seine fiktionale Art des Schreibens bestätigt, was Sie mit Ihrer Frage ansprechen.

Offenbar besitzt die Fiktion diese besondere Kraft des Zeugnisses. Wie würden Sie den Unterschied in der Wirkung beschreiben, die H. G. Adlers fiktionales Schreiben gegenüber Kertész oder Klüger ausmacht?
Es gibt bei Adler etwas Geheimnisvolles, ein Mysterium – wie aus einem Traum geschrieben, einem Albtraum. In seinem Buch Eine Reise verwandelt sich die Realität – und das ist es, was Literatur tut. Klüger und Kertész dagegen beschreiben einfach, was geschehen ist. Sozusagen ohne diese dritte Dimension.

Manche Leute würden bei den Wörtern „Mysterium“ und „Verwandlung“ protestieren, weil sie eine Mystifizierung der Shoah befürchten. Doch darum geht es Ihnen natürlich nicht. Es geht um die Verwandlung des Lesers.
Die dritte Dimension zielt direkt auf unser Herz und unsere Emotionen. Um ein anderes Beispiel zu geben: Das beste Buch über die Auswirkungen des ersten Weltkriegs in Frankreich ist in meinen Augen Marcel Prousts Die wiedergefundene Zeit, der letzte Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Nach dem Krieg ist die Gesellschaft nicht mehr die gleiche. Aber das sagt Proust nirgends ausdrücklich. Er erklärt es nicht, wie ein Historiker es erklären würde. Der Leser ist in direktem Kontakt mit den Figuren, die er schon aus der Zeit vor dem Krieg kennt und nun danach erlebt. Wir verstehen die Welt nicht durch Erklärungen, sondern durch das Nacherleben.

Ein Roman muss reifen

Das Geheimnis, sagen Sie, sei entscheidend für die Literatur.
Man schreibt mit Worten. Diese Worte bedeuten etwas, und so ist man verpflichtet zu sagen, was man zu sagen hat. In der Musik ist das anders. Ein Komponist spürt ein Gefühl und kann dieses Gefühl übertragen, ohne explizit zu sein. Genau dies sollte man in der Literatur erreichen: nicht explizit zu sein. Verständlich schreiben, aber nicht buchstäblich oder wortwörtlich. Der Roman selbst hat ja eine Zeit des Entstehens, ein oder zwei Jahre. Während dieser Zeit des Schreibens entfaltet sich der Text in Richtungen, die aus dem Schreiben selbst hervorgehen und dem Autor nicht bewusst sind. Der Autor muss frei genug sein, um diesen unbewussten Abläufen Raum zu geben und nicht alles beherrschen zu wollen.

Aber er muss dabei den Unterschied zwischen der Zeit des Schreibens und der sogenannten Echtzeit in sich selbst wahrnehmen. 
Beim Schreiben ist man in einem besonderen Zustand. Wir beide sprechen miteinander und wissen, dass wir dabei im Café sitzen. Ich schreibe oft in Cafés, und während ich schreibe, kann ich die Leute ringsum wahrnehmen und auch den Tisch, an dem ich sitze. Aber gleichzeitig bin ich bei dem, was ich schreibe. Realität und Text stehen in einer Spannung. Der Romanist Ottmar Ette spricht vom „Zusammenlebenswissen“, und auch beim Schreiben gibt es eine Art des Zusammenlebens: Man lebt gleichzeitig im Roman und in der Welt.

In der Zeit, in der der Roman entsteht, verändert sich auch der Schriftsteller.
Es gibt eine Rohfassung, aber der Roman entsteht erst, wenn der Autor seinen eigenen Text liest, aus dem Abstand von einigen Monaten. Nur wenn ich zur Leserin werde, werde ich zur Autorin.

Kunst als Filter

Schreiben bedeutet, Zeugnis abzulegen. Heißt das auch, Zeugnis über das abzulegen, was sich erst am Horizont abzeichnet? Das Thema Ihres nächsten Buchs ist die Literatur selbst.
Seit zehn Jahren arbeite ich an einem Zyklus, der jetzt schon vier Bände umfasst; der bisher letzte Band Eclipse ist 2016 auch auf Deutsch erschienen. Es geht jedes Mal um eine besondere Kunstgattung: im ersten Band um neue Musik, dann um bildende Kunst und Video-Kunst, in Eclipse um Fotografie, aber auch um Songs. Thema ist also das künstlerische Schaffen. Warum? Es gab für mich zwei Gründe. Schon mein Roman Aus der Nacht war wie ein Abschied vom 20. Jahrhundert und ein Hineingehen in das 21. Jahrhundert. Danach dachte ich, dass Kunst ein guter Vermittler wäre, um unsere Zeit zu beobachten und etwas dazu zu sagen. Noch nie war Kultur so wichtig in der Gesellschaft, man muss Schlange stehen, um eine Ausstellung anzuschauen. Ich dachte, dies könnte etwas über unsere Zeit erzählen, es könnte vielleicht interessant sein, die Kunst wie einen Filter zu betrachten. Das war mein Ausgangspunkt. Doch dann wurden daraus Romane, keine kunstsoziologischen oder historischen Bücher.

Ist es ein Versuch, den Roman zu erneuern, als Autorin aus der „Generation der Schatten und Echos“, wie Sie sagen?
Es stimmt, dass wir bis heute mit einem Schatten hinter uns leben, obwohl die Gefahr vor uns liegt – und nicht nur hinter uns.

Was kann Literatur dazu beitragen, den Einzelnen so zu stärken, dass er diesen Gefahren besser begegnen kann?
Literatur kann als posthume Warnung auch nach vorn gerichtet sein. Mehr weiß ich nicht, aber das ist schon etwas.

Ich meine auch die inneren Kräfte des Einzelnen.
Literatur kann sicher nicht ein ganzes Land verändern, obwohl auch das schon geschehen ist, beispielsweise durch Upton Sinclairs Roman Der Dschungel. 1905 hat Sinclair darin die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Migranten in den Schlachthöfen in Chicago beschrieben, und auch die Finanzspekulation hat er für seine Zeit dargestellt. Die Gesetze wurden dann in den USA tatsächlich geändert, so wurde etwa die Dauer des Arbeitstages verkürzt.

Ist das dann nicht doch Journalismus?
Ja, das kann man sagen. Um den Einzelnen zu stärken, wäre es einfach wichtig, seine Wahrnehmung zu erweitern.

Durch die Verwandlung der Wirklichkeit in der Literatur wird auch der Leser verwandelt?
Ja, das ist wie in der Alchimie. Man hat Blei und bekommt Gold.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Pieter Bruegel der Ältere – Der Alchimist (1558). Als Kupferstich von Philipp Galle
via Wikimedia Commons

Portrait Cécile Wajsbrot. © Cécile Wajsbrot
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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

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