Der Migrant Ilija Trojanow gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellern deutscher Sprache. 1971 kam er als Sechsjähriger mit seinen Eltern aus Bulgarien, zuerst nach Deutschland, dann nach Kenia, wo der Vater eine Arbeitsstelle fand. Später lebte er unter anderem in Bombay, heute in Wien. Sein Buch Nach der Flucht ist seinen Eltern gewidmet, „die mich mit der Flucht beschenkten“.

Was ist Flucht, was Heimat?

Nach der Flucht ist weder Essay noch Erzählung, sondern eine Sammlung von Bewusstseinssplittern. Die Zeugnisse und Gedanken dieser Collage stammen aus weit verstreuten Quellen. In kurzen Kapiteln – manchmal ist es nur ein Satz – sehen wir in Köpfe, wir hören Stimmen von Flüchtlingen, manchmal ist es wohl auch der Autor selbst, der seine Erfahrung weitergibt, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wäre. Im Hintergrund dieser Einwürfe stehen die Fragen unserer Zeit. Es sind Fragen, die jeder Mensch anders beantwortet. Was bedeutet Flucht, was Heimat? Was für Folgen hat die Flüchtlingskrise für die Welt, in der wir leben? Und in welcher Welt leben wir überhaupt?

Bei Trojanow erscheint diese Welt nicht als ein Ort des Mangels und des Wettkampfs, sondern als Ort der Fülle und der Gemeinschaft, Flucht erscheint nicht nur als Schicksal und Verhängnis. Die Rede ist vom „Glück, sich häuten zu dürfen“, und das Fremde ist eine Ressource.

Die Gefahr ist nicht, dass wir überfremdet werden, sondern dass uns die Fremde ausgeht.

Eine solche unausgesprochene Weltsicht nennt man heute „frame“. Wie die Linguistin Elisabeth Wehling darlegt, können wir die Welt gar nicht wahrnehmen ohne Deutungsrahmen: Ob wir uns Autoritäten unterordnen oder Freiheit fordern, ob wir ein Bedürfnis nach Grenzen haben oder Offenheit wünschen, hängt etwa damit zusammen, ob wir die Welt als einen feindlichen oder einen freundlichen Ort wahrnehmen.

Das Potenzial der Flucht

Der Deutungsrahmen, den Trojanow uns in seiner Stimmensammlung anbietet, steht in markantem Gegensatz zu der Weltsicht der gegenwärtigen US-Regierung, die von zwei Beratern des US-Präsidenten in einem Gastkommentar des Wall Street Journal so formuliert wird: „Der Präsident hat seine erste Auslandsreise mit der klaren Haltung angetreten, dass die Welt keine ‚globale Gemeinschaft‘ ist, sondern vielmehr eine Arena, in der Staaten, Nicht-Regierungs-Akteure und Firmen um ihren Vorteil kämpfen. […] Wir ziehen es vor, diese grundlegende Natur internationaler Beziehungen zu bejahen, anstatt sie zu leugnen.“

Obwohl Trojanow gegen die Ignoranz anschreibt, mit der wir den Geflüchteten oft begegnen, verfällt er nicht ins Predigen. Das ist das Besondere an diesem schmalen, dialektisch angelegten Buch, das im ersten Teil „von den Verstörungen“ handelt, im zweiten „von den Errettungen“. Auf die Zumutung der Flucht folgt die Frage nach ihrem Potenzial. Allein durch seine fragmentarische Form zeigt das Buch bereits, dass die Wirklichkeit kompliziert ist und die Dinge nicht sind, wie sie scheinen.

Geh zurück, wo du hergekommen bist! Würde der Geflüchtete diesen Satz ernst nehmen, müsste er in die Vergangenheit reisen. […]

Gelegentlich begegnet der Flüchtling Menschen, die Angst vor ihm haben. Er würde sie gern berühren, ihren Arm ergreifen oder seine Hand auf ihre Schulter legen und ihnen zuflüstern: Aber ich bin doch derjenige, der Angst hat. […]

Das Leben nach der Flucht ist für manchen wie Schrumpfen, wie Verschwinden. In dieser Fremde sterbe ich, und du merkst es nicht… Ein Ausharren im Wartesaal der Wiedergeburt.

Widersprüche sichtbar machen

Neben solchen Aphorismen, Gedanken und anonymen Erzählfragmenten begegnen wir Zitaten aus Zeitungen und Büchern.

Unsere Heimat ist da, wo wir gern gesehen sind, wo wir Arbeit und Brot finden.

Ein alter Schuster, in: Ré Soupault, Katakomben der Seele

Wer bin ich?
Das ist eine Frage, die andere stellen.
Ich bin meine Sprache.

Mahmud Darwisch

But if you believe you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere.

Theresa May in einer Grundsatzrede im Oktober 2016

Was bedeutet Theresa Mays Absage an das Weltbürgertum? Der Weltbürger Trojanow enthält sich eines Kommentars. Er macht in seiner disparaten Sammlung von Gedachtem und Gesagtem die Widersprüche sichtbar, und er überlässt es den Lesern, ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Er hat es dabei gar nicht nötig, an unsere Menschlichkeit zu appellieren. Wir erkennen uns wieder in den Stimmen, die davon erzählen, wie man sich nach der Flucht neu einrichtet in der Welt.

Angaben zum Buch
Ilija Trojanow
Nach der Flucht
S. Fischer 2017 · 125 Seiten · 15 Euro
ISBN: 978-3103972962
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Beitragsbild:
„ankommen & bleiben“, Skulptur von Rupprecht Matthies im Projekt Kunst-Landschaft des Kunstvereins Springhornhof in Neuenkirchen
Von Frank Vincentz
Lizenz: CC BY-SA 3.0
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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. Beide Soehne im Ausland – und gut eingerichet. Arbeit und Liebe haben sie dort gefunden, ob sie spaeter die Heimat vermissen werden…?

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