Einmal im Monat wird hier ein Gedicht vorgestellt, reflektiert, gelobt, kritisiert. Berühmte und zu Unrecht vergessene, alte und nicht ganz so alte – durchweg Gedichte, die etwas sagen, was man anders nicht sagen kann.

Wenn Sie am Sonntag morgen Ihre Zeitung aufschlagen, und manchmal sogar auch mitten in der Woche, finden Sie in einer Beilage meistens rechts oben oder links unten etwas, das durch gesperrten Druck und besondere Umrahmung auffällt, es ist ein Gedicht. Es ist meistens kein langes Gedicht, und sein Thema nimmt die Fragen der Jahreszeit auf, im Herbst werden die Novembernebel in Verse verwoben, im Frühling die Krokusse als Bringer des Lichts begrüßt, im Sommer die mohndurchschossene Wiese im Nacken besungen, zur Zeit der kirchlichen Feste werden Motive des Ritus und der Legenden in Reime gebracht (…). Mit diesen Gedichten der Gelegenheit und der Jahreszeiten wollen wir uns nicht befassen, obschon es durchaus möglich ist, daß sich gelegentlich ein hübsches Poem darunter befindet. Aber ich gehe hiervon aus, weil dieser Vorgang einen kollektiven Hintergrund hat, die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht.

(Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, SA V p. 9)
Gottfried Benn: Probleme der Lyrik (1951)

Gottfried Benns Darstellung von 1951 gilt nach meinen Beobachtungen auch heute noch: Genau so stellen sich die meisten Leute das mit den Gedichten vor. Gedichte reimen sich, drücken Stimmungen aus, sind eine Sache melancholischer Jünglinge oder überkandidelter junger Damen und im Übrigen ziemlich unerheblich.

Selbst literarisch Interessierte ziehen meistens einen Roman, eine gute Theaterinszenierung einem Gedichtband vor. Sobald die Zeilen nicht über die ganze Seite laufen, so Enzensberger, sei auch der fetzigste Titel für die Katz. Und Rühmkorf konstatierte, Gedichte seien kein öffentliches Thema.

Doch Gedichte sind, wie jede Kunst, jede Literatur, für alle da! Und müssten folgerichtig auch allen etwas zu sagen haben. Also: Ich möchte Sie anfixen für Gedichte! Gedichte gehören zu den bewusstseinserweiternden Drogen und eröffnen eine Welt nach der anderen, die meisten davon auch noch ohne jeden Zweck.

Einmal im Monat wird hier jeweils ein Gedicht vorgestellt, reflektiert, gelobt, wird ein Gedicht kritisiert, analysiert und eingeordnet, sofern sich so etwas Unordentliches wie Gedichte denn einordnen lässt. Berühmte und zu Unrecht vergessene, alte und nicht ganz so alte – immer aber Gedichte, von denen ich glaube, dass sie etwas auf ganz eigene Art ausdrücken und in ihrer Schönheit einfach Freude machen.

Mein Zugang zur Welt des Gedichts ist anarchistisch: werkimmanent, literatursoziologisch, kulturhistorisch, rezeptionsästhetisch, (post)strukturalistisch, autobiografisch und, warum nicht, vielleicht einfach nur plaudernd. Jeder dieser Ansätze hat uns etwas zu sagen. Literaturwissenschaftliche Fingerübungen wird man hier (hoffentlich) nicht lesen. Luschern (im Lamping, im Gelfert, im Anz, im Sowinski, Kayser, Arndt und gottweißwo) ist aber erlaubt. Als Anregung zum Weiterlesen haben wir eine Lektüreliste erstellt. Demnächst wird, nach und nach, auch ein kleines Lyrik-Glossar hinzukommen. Das braucht man nicht unbedingt – Sie können Gedichte auch lesen und genießen, ohne zu wissen, was ein Daktylus ist. Aber schaden wird es auch nicht.

Und da wir uns im Web aufhalten: Machen Sie mit! Fragen Sie, korrigieren Sie den Kolumnisten, diskutieren Sie, hängen Sie sich aus dem Fenster – dazu ist die Kommentarfunktion da.

Vor allem: Lesen Sie doch einfach mal ein paar Gedichte. Die tun Ihnen nichts. Und hat es Sie dann einmal erwischt, sind Sie dem Gedicht einmal verfallen mit Haut und Haar, ist es gottseidank sowieso zu spät.


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Von Hartmut Finkeldey

Jobber, Autor, Kolumnist

Ein Kommentar

  1. Endlich mal ein charmanter Fixer! Ich bin dabei – sofern ich etwas Konstruktives beizutragen habe. Danke.

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