I. Vereinsamt

Die Krähen schreiʼn
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei’n. –
wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist Du Narr
vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt – ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr
dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schreiʼn
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schneiʼn. –
weh dem, der keine Heimat hat!

II. Antwort

Daß Gott erbarm!
Der meint, ich sehnte mich zurück
ins deutsche Warm,
ins dumpfe deutsche Stuben-Glück!

Mein Freund, was hier
mich hemmt und hält ist dein Verstand,
Mitleid mit dir!
Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!


Über Nietzsches Philosophie gibt es einen Mythos: Nietzsche sei ein rationaler Philosoph, sein Perspektivismus, sein Plädoyer für multiple Welten und infolgedessen multiple Identitäten mache ihn zum Protagonisten der fröhlichen Postmoderne, des ästhetisch begründeten Verhältnisses zu Selbst und Welt. Erst der philologisch verantwortungslose Umgang mit seinem Nachlass habe aus ihm einen Vordenker faschistischer Ideologie gemacht. Speziell das Kompendium aus dem Nachlass mit dem Titel Der Wille zur Macht, verbrochen von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche, zeige eine Willens- und Machtmetaphysik, die Nietzsche so nie intendiert habe.

Dem entgegen steht eine andere Deutung, die wesentlich auf Georg Lukács zurückgeht: Nietzsche sei sehr wohl als Vorläufer des europäischen Faschismus anzusehen.

Auflösung der Romantik

Das Gedicht liefert Belege für beide Deutungen. Als es 1894 veröffentlicht wurde – Nietzsche war bereits seit fünf Jahren krank und nicht mehr ansprechbar –, wurde lediglich der erste, längere Teil publiziert, unter dem Titel „Vereinsamt“. Und so ist es in die Anthologien eingegangen, als eines der großen Herbstgedichte deutscher Sprache.

Formal variiert das Gedicht auf brillante Weise Strophenformen der Romantik. Auch die Bildlichkeit orientiert sich am romantischen Naturerleben, doch sie nähert sich bereits dem reinen Symbol. Sowohl formal wie bildlich betreibt der Dichter die Auflösung der Romantik mit ihren eigenen Mitteln.

Im Sinn der Romantik wäre etwa dies:

Ich hör‘ die Krähen nochmals schreien
sie ziehen vor mir her zur Stadt
Bald wird es immer tiefer schneien
Ob jeder jetzt noch Heimat hat

Die Romantik antwortete auf den Abgrund, der sich seit 1789 auftat und den sie sehr wohl wahrnahm, von dem her sie sich überhaupt erst etablierte, mit poetischer Aufladung:

Romantisieren heißt, dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben.

(Novalis)

Wenn wir Romantik ganz konventionell als Sehnsucht nach der Blauen Blume charakterisieren, also als Sehnsucht nach Heimat, nach Versöhnung, dann verweist diese Sehnsucht, erstens, auf einen Mangel, dem, zweitens, nur noch virtuell abgeholfen werden kann. Die romantische Sehnsucht, den Riss von Ich und Welt noch einmal zu versöhnen (wenn auch nur als bewusster „Schein“), wird von Nietzsche zerstört. Jetzt gilt es, erst einmal diesen Riss auszuhalten.

Wüste als Befreiung

Und wie viele doppelte Böden sich unter diesem Riss auftun! Der Winter, die Stadt, das, was Heimat ist, gilt dem Sprecher gerade nicht als „Welt“. Und auch mit dem Begriffspaar warm/kalt spielt Nietzsche ein faszinierendes Spiel. Eine ‚normale‘ Metaphernfolge wäre in etwa so organisiert: Der Einsame verlässt die warme Stube (das sichere, bürgerliche Leben) und begibt sich todesmutig in eisige Höhen (geistige Abenteuer).

Aber so ist es hier gerade nicht. Die Kälte (von der aber gesichert ist, dass sie qua Abfolge der Jahreszeiten auch wieder endet) und die bürgerliche Wärme sind aufeinander bezogen und ergeben erst in der Summe jene Schein-Welt bürgerlicher Solidität, von welcher der Sprechende sich abwendet. Diesem quasi bürgerlichen Winter „entflieht“ der Sprechende nicht in die warme Stadt (im Gegensatz zu den Todesvögeln), sondern in „die Welt“ – die sich als Tor zu tausend Wüsten entpuppt. Der Wanderer, der Freigeist, der Selbstbefreier, er gleicht dem Rauch, der „stets nach kältern Himmeln sucht“ – eine fantastisch kühne, paradoxe Metapher, vielleicht die erste moderne Chiffre, ein starkes Bild für Auflösung, für das Schmelzen alles fest Gefügten. Die Wüstenerfahrung hat etwas Befreiendes.

So könnte man „I. Vereinsamt“, tatsächlich rein ästhetizistisch lesen: als Ausdruck einer Befreiung zu stil- und lustvoll ausgelebtem selbstwidersprüchlichem Perspektivismus, zu multiplen „Ichs“ im Plural bis zur Auflösung, mithin zu dem, was wir heute unter „Postmoderne“ verschlagworten.

Nun ist diese postmoderne Deutung nicht falsch. Sie übersieht allerdings, dass das Gedicht zwei Teile hat. Literarisch fällt der zweite Teil stark ab – Polemik statt Lyrik –, doch er ist zentral. Der Sprecher in „II. Antwort“ ist identisch mit dem in „I. Vereinsamt“: „II. Antwort“ ist eine Antwort auf Einwände, die nicht zur Sprache kommen, die wir aber erschließen können. Der abwesende Gesprächspartner, dem im zweiten Teil des Gedichts geantwortet wird, ist der Romantiker par excellence. Der Freigeist würde sich noch nach seinem Wüstenritt in die Stuben zurückwünschen. Nietzsche jedoch will nicht zurück ins deutsche Stubenglück, um Himmels Willen nicht („Daß Gott erbarm“). Im Gegenteil: Nietzsche will die Stube auf Vordermann bringen!

Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechtum,

heißt es in Die Fröhliche Wissenschaft.

Wohin will er dann, der Sprecher, den wir hier getrost mit Nietzsche identifizieren dürfen? Das Gedicht sagt es uns nicht. Aber Nietzsches Werk sagt es uns in verstörender Eindeutigkeit.

Priester und Krieger

Die Wüste spielt in Nietzsches Bilder- und Gedankenwelt eine wesentliche Rolle. Seit Herodot ist die Wüste für Europa nicht Teil der Welt, sondern Symbol für das Andere, Fremde, Bedrohliche. Bei Nietzsche ist sie ein „Hunger, der nach Leichen scharrt“ (Nachlass der 1880er Jahre), also ein lebensfeindliches Prinzip. Der Priester lernt in der Wüste die Entsagung, die er fortan predigt. Ganz anders aber verändert sich der Freigeist in ihr: In den berühmten drei Verwandlungen in Zarathustra geht das Kamel beladen in die Einsamkeit der Wüste, um dort seine Lasten abzulegen und sich in einen Löwen zu verwandeln. Der Löwe schafft keine neuen Werte – er nimmt aber den Kampf mit der „Sklaven-Moral“ auf. Dem „du sollst“ setzt er sein „ich will“ entgegen. Erst danach wird er zu einem Kind, das in aller Unschuld neue Werte etabliert. Die Wüste spielt also eine wesentliche Rolle bei der Selbstfindung der beiden Kasten, die Nietzsche als Träger der Geschichte sieht: die Priester und die Krieger.

Den Krieger hat die Wüste zum Gesetzgeber gemacht. Es gilt, neue Regeln zu finden gegen alle „Sklaven-Moral“, also gegen den (für Nietzsche erniedrigenden) Gedanken, alle Menschen hätten identische Rechte: Die schwachen Sklaven würden per Gleichheitsbegriff Macht ausüben wollen – dies ist ein nietzscheanischer, sozialdarwinistischer und heute wiederkehrender Topos. Nietzsche votiert für die Differenz von Herr und Sklave, für das Vorrecht zur Gewalt, für den Renaissance-Menschen, den Nietzsche gegen alle „Entartung“ der Moderne rehabilitieren wollte. Die „großen Affekte“ der Kriegerkaste – „Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu kommandieren“ (Nachlass der 80er Jahre / Der Wille zur Macht) – das ist es, was der Krieger auf seinem Wüstenritt erfährt und wozu er sich enthemmt. Und genau so hat ihn die völkische deutsche Rechte immer wieder gelesen – von den ‚Meisterdenkern und -dichtern‘ der konservativen Revolution (Niekisch, Spengler, George, Jünger, zeitweilig Benn) bis hin zu Goebbels, der Nietzsche in Leitartikeln gerne zitierte, und Rosenberg, der erklärte, Nietzsche stünde heute „an unserer [der Nazis] Seite“; „wir [die Nazis] grüßen ihn als nahen Verwandten“. Auch heute beruft sich die intellektuelle deutsche Rechte häufig auf Nietzsche. Sie liegt damit nicht falsch, wenn sie den Philosophen meint, der den Krieger preist und die Moral [heute: „Gutmenschentum“] als Hemmnis allen besseren Lebens ansieht – eine „Sklaven-Moral“, die „Mißrathene“ erzeuge und nach der „Europa zu stinken beginnt“ (in Genealogie der Moral).

Ein postmoderner Rassist?

Nietzsches Apologeten (ziemlich unkritisch: Michael Tanner, kritischer: Volker Gerhardt) argumentieren, Nietzsche habe sich wiederholt gegen stumpfes völkisches Gerede gewandt. In der Tat wollte Nietzsche von Bärenhäuter-Germanismus nichts wissen, über biologistische Rassereinheitsgedanken hat er wiederholt seinen Spott ausgeschüttet. Die Apologeten übersehen aber, was nicht zu übersehen ist: dass Nietzsche sehr wohl von einer „Reinheit der Rasse“ (in Morgenröte) träumte, wobei er, wie man heute sagen würde, einen kulturalistischen Begriff von „Rasse“ im Sinn hatte, keinen biologischen. Die Reinheit der höheren Rasse war ein Projekt. So verstanden, war bereits Nietzsche ein postmoderner Rassist, oder gar ein kulturalistischer Postrassist, also das, was heute bei den Rechtsintellektuellen en vogue ist.

Es ist unredlich, wenn man von Nietzsche allein die fröhlich-postmoderne Seite sieht, sozusagen nur „I. Vereinsamt“ – und die Augen verschließt vor „II. Antwort“. Die Erfahrung lehrt: Irgendwann ist der Riss in der Welt dann doch nicht mehr auszuhalten. Irgendwann will dieser Riss gewaltsam gekittet sein. Irgendwann überschreitet einer die Grenze von der Welt, die nur ästhetisch erfahren werden kann, hin zu jener ungeheuren „Energie der Größe“, die man gewinnen müsse, „um, durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft“ (Nachlaß der 80er Jahre, ganz ähnlich u.a. Genealogie der Moral).

Die Probleme dieser Welt gewaltsam zu lösen, indem man den neuen Menschen schafft (oder „züchtet“, wie Nietzsche es nennt) – das war im 20. Jahrhundert die große Verführung für Intellektuelle und Künstler. Der Schritt von der „Artisten-Metaphysik“ zur Rechtfertigung der Barbarei ist klein. Nietzsches Werk hat ihn ausgemessen.


Literatur:

Nietzsche, Friedrich:

KStA (Colli/Montinari), 1967-77, 2te 1988ff
Nietzsche, Friedrich, Der Wille zur Macht, (Förster-Nietzsche, Elisabeth / Gast,Peter, Hg.) Stuttgart, 1964 u.ö.

Gerhardt, Volker: Pathos und Distanz, Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988

Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/Main 1989

Schönert, Jörg: Friedrich Nietzsche: „Der Freigeist“, in: Schönert, Jörg, u.a., Lyrik und Narratologie Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin – New York 2007

Tanner, Michael: Nietzsche, Freiburg/Basel/Wien o.J.

Taureck, Bernard: Nietzsche und der Faschismus, Leipzig 2000 (zuerst Hamburg 1989)

Bildnachweis:
Beitragsbild: Radar Transect South Dome
via Wikimedia Commons
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Von Hartmut Finkeldey

Jobber, Autor, Kolumnist

2 Kommentare

  1. Ja jetzt aber, wirklich, mit Romantik-Kritik und Ideen von einem höheren Menschen ist einer noch kein Rassist. Nietzsche hat das Deutschtum wiederholt scharf kritisiert, die Abstammung seiner Familie aus Polen (?) ist doch auch ein Zeichen dafür, dass N. eben nicht deutsch-national dachte, sondern in seinem Werk an vielen Stellen den europäischen Gedanken auch immer wieder hervorholte und sich Gedanken darüber machte.
    Natürlich ist der “höhere Mensch” im Sinne Nietzsches ein kultivierterer Mensch und nicht ein Barbar, wie das dann der Nazi wurde.

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  2. Hallo, lieber Rudof Weiler, Entschuldigung, ich habe Ihren Kommentar erst heute wahrgenommen (ich guck nicht alle zwei Stunden, ob etwa…)

    Ja, sicher, ich denke, das habe ich auch so gesagt. Nietzsche war gegen edelarische Bärenhäuterei. Das bedeutet aber nicht, m.E., dass man seine Denkbewegungen nicht auch kritisch sehen kann.

    Die attraktive Seite Nietzsches habe ich mit keinem Wort bestritten. Problem: Allzu häufig, so nehme ich es wahr, ist dieser fröhliche Ästhetizismus dann der Freibrief für banale Niedertracht.

    In dem Spannungsfeld, das ich zwischen den beiden Teilen des Gedichts wahrgenommen habe, bewegen sich ja heute noch viele Diskussionen: Hüben der moralinbefreite Ästhetizismus – die coolen Jungs -, drüben besteht man auf moralischen Standards, sehr unsexy, schmallippig. Und vor solch einem Labeling warne ich denn doch – auch, wenn mich manche moralinsauren Veranstaltungen (Gomringer-Gedicht etwa, Sie werden sich erinnern) ebenfalls schwer enervieren.

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