Zum Start von Volker Schlöndorffs Film Rückkehr nach Montauk fand auf tell eine Debatte zu Montauk und dem Problem der Authentizität in der Literatur statt. Dieser Essay knüpft daran an.

Max Frischs „Fragebogen“ aus dem Tagebuch 1966-1971 sind legendär. Frisch stellt seinen Lesern Fragen, deren Beantwortung neue Fragen provozieren. Frisch lehrt uns das Misstrauen gegenüber den eigenen Antworten, denn oft entspringen diese einem Denken in eingefahrenen Bahnen. Diese skeptische Haltung ist der Grund dafür, dass Frischs politische Überlegungen erstaunlich wenig Staub angesetzt haben.

Das Einmalige einer Begegnung

In Montauk geht es um die Möglichkeit und Unmöglichkeit menschlicher Beziehungen, vor allem geht es um die Liebe. Schon seine eigene Mutter habe ihm gesagt, so erfahren wir in dieser Erzählung, dass er von Frauen nichts verstehe. Frischs Skepsis gegenüber sich selbst offenbart sich in vorsichtigen, präzisen Formulierungen.

Ohne Zweifel, dass seine Zärtlichkeit sich auf Lynn bezieht, die junge Fremde, sein Gefühl vertauscht sie nicht mit anderen, wenn er ihren Körper küsst.

Das Einmalige einer Begegnung zweier Menschen drückt Frisch durch Negation aus: Zunächst wird der Zweifel ausgeräumt, dann wird festgestellt, dass seine Gefühle für Lynn nicht austauschbar seien, obschon ihm die Frau fremd ist. Dieses Argumentieren – die Bestätigung der zärtlichen Empfindung nach Abzug aller möglichen Einwände – schwächt zwar die sprachliche Energie des Textes, nicht aber die Logik der Aussage. Diese folgt dem Prinzip der Wissenschaft: Dort gilt bei einer Entweder-Oder-Konstellation das Widerlegen der Gegenannahme als Beweis.

Dass bei diesem Verfahren die beschriebenen Personen an Kontur verlieren, hat der Autor vielleicht bewusst in Kauf genommen. Lynn, die Hauptperson der Erzählung, wirkt wenig plastisch, ihre Charakterzüge sind schwer zu fassen, ihre Erscheinung bleibt vage. Aber vielleicht geht es Frisch nicht darum, existierende Personen kunstvoll in Literatur zu verwandeln (genau das wurde ihm immer wieder vorgeworfen, vor allem von den Vorbildern seiner Figuren). Vielleicht suchte er in Montauk nach dem größten gemeinsamen Nenner, in dem zwei Personen, trotz aller Missverständnisse, zusammenfinden können. Frisch nimmt in Montauk Aufrichtigkeit für sich in Anspruch. Verspricht er damit, dass er die Genauigkeit, mit der er seine Gefühle gegenüber der Geliebten schildert, nicht einer guten Geschichte opfert? „Du sollst Dir kein Bildnis machen“,  auch nicht von einem Menschen; diese Forderung findet sich in Frischs erstem Tagebuch. Weil er Lynn gerade nicht zu einer literarischen Figur formt, lässt er ihr auch im Leben die Autonomie. Dabei gibt der Schriftsteller auch seinen Heimvorteil auf: den geübten Umgang mit der Sprache. Er unterhält sich mit der Fremden in gebrochenem Englisch.

Liebe ohne Schuld

So formuliert Frisch den Wunsch nach einer Liebe fürs Leben:

Eine wird die letzte Frau sein, und ich wünsche, es sei Lynn, wir werden einen leichten und guten Abschied haben.

Früher hieß es einmal „bis dass der Tod euch scheidet“, doch inzwischen wissen wir, dass das nicht realistisch ist. Die Erwartungen und Hoffnungen hat Frisch heruntergeschraubt. Was bleibt, ist ein Wunsch.

Denn auch der permanente Zweifel setzt eine Gegenkraft voraus: die Möglichkeit einer Utopie, oder wenigstens den Wunsch danach. Der Autor muss dem Leser klar machen, warum er das Buch fertiggeschrieben hat und warum es sich lohnt, es zu Ende zu lesen. Doch gerade, weil man als Leser dieses Trotz-Alledem erwartet, wird man misstrauisch, wenn es erscheint. Es droht das Absehbare, der Kitsch, der tröstende Silberstreifen am Horizont, mit dem man am Ende des Buchs entlassen wird wie nach einer Kirchenpredigt.

Gibt es eine Möglichkeit, dass sich zwei Menschen begegnen, ohne dass es in einem Desaster endet?

Lynn wird kein Name für eine Schuld.

Auch dieser Lichtblick wird ex negativo definiert: durch die Abwesenheit von Schuldgefühlen. Denn Schuldgefühle dominieren alle anderen Liebesgeschichten, die Frisch in Montauk erzählt. Keine Schuldgefühle zu haben, schafft einen Freiraum. Kann der Leser diesen Raum mit Leben füllen, mit Möglichkeiten, die ihm der Autor nicht vorschreiben will?

Ein langer, leichter Nachmittag.

Keine Liebesnacht, in der die Zeit angehalten wird. Der Nachmittag hat sich in die Länge gezogen, die Übergangszeit. Der alternde Mann löst sich von der Bedeutungsschwere seiner Gedanken. Er fühlt sich leicht.

Als Leser bin ich bereit, ihm das zu glauben.

Beitragsbild:
Montauk Point Lighthouse (2012)
Via Wikimedia
Bearbeitung: Anselm Bühling

Lizenz: CC-BY-SA 3.0
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Von Tomas Bächli

Pianist und Musikschriftsteller, lebt in Berlin.

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