Niemand will dabei erwischt werden, dass er Triviales mit Kunst verwechselt. Deshalb hätten wir gerne eindeutige Kriterien. Doch wie der „Satz-für-Satz“-Beitrag Trivialliteratur (I) gezeigt hat, ist die Frage, woran man Trivialliteratur erkennt, keineswegs trivial. Die Grenzgänger (u. a. Harry Potter, Stephen King, Star Wars und viele TV-Serien) machen uns die Unterscheidung schwer.

Umso verführerischer sind einfache Lösungen, zum Beispiel der Umkehrschluss: Kunst ist alles, was Trivialliteratur nicht ist (z. B. experimentell). Und alles wiederum, was auf Trivialliteratur zutrifft, kann keine Kunst sein (z. B. die eindeutige Scheidung in Gut und Böse). Oder man nimmt gleich das Genre als Kriterium, als wären Krimis, Thriller, Arztromane per se trivial. In der Unterhaltungs­branche hat sich der Begriff der „Genre-Literatur“ durchgesetzt, so sehr sind wir kollektiv davon überzeugt.

Doch so bequem sie sind – Umkehrschlüsse schaffen keine Ordnung, sondern Missverständnisse.

Irrtum Nr. 1:

– Trivialliteratur ist realistisch.
– Realistische Literatur muss trivial sein.

Ich hatte beim Schreiben Lehrer, die mir erzählten, es sei nicht länger möglich, Geschichten zu erzählen. Ähnlich der Hochmoderne in der klassischen Musik. Keine Melodien mehr!

Mit diesen Worten wird Jeffrey Eugenides in einem Artikel über amerikanische Gegenwartsliteratur zitiert.

Wenn es heißt, dass Autoren (insbesondere deutsche) „wieder erzählen können“, gehen manche Kritiker gleich in Deckung. In letzter Zeit war Elena Ferrantes Meine geniale Freundin ein prominentes Beispiel für diesen Vorbehalt gegenüber dem Erzählen. Ferrantes Buch sei „eins zu eins erzählt, ohne jeden Bruch“, keine Szene habe ihn überrascht, so Maxim Biller im Literarischen Quartett. Auch für Thomas Steinfeld gehört Elena Ferrantes Neapel-Saga zur Trivialliteratur. Über Ferrantes Stil verliert Steinfeld in seiner Rezension mit dem Titel „Puppenspiel“ nur wenige Worte: Die Autorin schreibe „in einer flüssigen, unprätentiösen, aber zuweilen stark verdichteten Sprache“; später bezeichnet Steinfeld Ferrante als „eine nüchterne, zuweilen rücksichtslos analytische Erzählerin“. Der „scheinbar ungebrochene Realismus“ sei ein nostalgisches Projekt und nur „um den Preis einer sentimentalen Konstruktion zu haben“, so sein Fazit. Einmal abgesehen davon, dass sich mit Frauenfiguren offenbar ohnehin nur Triviales schreiben lässt: „Von Frauen also handeln diese Bücher“, bemerkt Steinfeld stirnrunzelnd. Man ersetze das Wort „Frauen“ durch „Männer“ und alles ist klar.

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben,

sagt Joan Didion, und sie ist nicht die Einzige, die im Erzählen ein elementares menschliches Bedürfnis sieht. Das Erzählen dient zum einen der Unterhaltung und zum anderen der Deutung. Wir bewältigen unseren Alltag, indem wir Geschichten daraus fügen, das ist die noble Aufgabe des Erzählens. Doch dienen nicht alle Geschichten dazu, uns einen Reim auf unser Leben zu machen. Zum einen gibt es triviale Geschichten. Zum anderen kann man eine Geschichte auf eine triviale Weise erzählen. Und schließlich kann das Bedürfnis nach Geschichten, wie jedes menschliche Bedürfnis, für merkantile Zwecke missbraucht werden: In der Werbung ist Storytelling derzeit das führende Schlagwort.

Doch folgt aus all dem, dass das Erzählen sich als Kunstform überlebt habe? „Make it new“, lautet Ezra Pounds berühmte Forderung für künstlerische Innovation. Adjektive schlagen Funken aus ihren Widersprüchen.Warum sollte diese Maxime für die Kunst des Erzählens nicht mehr gelten?

Gerade Elena Ferrante gehört zu den Autorinnen und Autoren, die das Erzählen erneuern. Sie bedient keine Erwartungen. Um dies zu erkennen, muss man ihre Sätze allerdings so genau lesen, wie sie geschrieben sind. Durch die Nüchternheit und Schärfe ihrer Sprache gelingt es ihr, auf dem Papier das zu erschaffen, was Flaubert „geschriebene Wirklichkeit“ nennt.

Woran kann man erkennen, dass Elena Ferrantes Prosa nicht trivial ist? Zum Beispiel an den Adjektiven:

diese verbitterte, hasserfüllte, gefügige Angst

Die Adjektive schlagen Funken aus ihren Widersprüchen. Denn vor Don Achille haben die Bewohner des Viertels in Neapel nicht einfach Angst. Es ist ein gemischtes, starkes Gefühl, das durch die Adjektive einen Resonanzraum erhält – und nachdem die beiden Mädchen “dem schrecklichen Don Achille” begegnet sind, zweifeln sie daran, ob diese komplexe Angst überhaupt gerechtfertigt ist.

Verstörend ist im Weiteren die subtile Art und Weise, wie Elena Ferrante von der selbstverständlichen familiären Gewalt erzählt, beispielsweise in einer Szene, in der die beiden Freundinnen Lila und Lenù zehn Jahre alt sind. In Lilas Wohnung im oberen Stock tobt ein wüster Familienstreit, von der Straße aus ruft Lenù verzweifelt nach ihrer Freundin, um sie herauszuholen.

Plötzlich verstummte das Geschrei, und Augenblicke später flog meine Freundin über meinen Kopf hinweg aus dem Fenster und landete hinter mir auf dem Asphalt.

Lila versucht aufzustehen, “mit einer fast belustigten Grimasse“:

„Mir ist nichts passiert.“
Doch sie blutete, sie hatte sich einen Arm gebrochen.

Elena Ferrante erzählt mit doppeltem Boden, und sie setzt sehr effektvolle Lücken. In diesem Raum wird der Leser aktiv, denn wenn Adjektive einander widersprechen, entscheiden wir, wie die Szene zu deuten ist, und wenn ein Mädchen einfach so aus dem Fenster fliegt, und sagt, es sei ihr nichts passiert, ergänzen wir, was passiert ist. Ist man auf diese Dinge einmal aufmerksam geworden, erlebt man eine Überraschung nach der anderen. Jeder Leser und jede Leserin wird etwas anderes entdecken.

Irrtum Nr. 2:

– In der Trivialliteratur sind die Bösen böse und die Guten gut.
– Wenn die Bösen böse und die Guten gut sind, muss es sich um Trivialliteratur handeln.

In seinem Essay „The Pleasures of Reading Stephen King” erkundet der Autor und Essayist Tim Parks das Grenzgebiet zwischen Kunst und Genre, mit sichtlichem Genuss. Stephen King ist ein schillerndes Beispiel für diese Untersuchung. Denn wer Kings Schreibratgeber Das Leben und das Schreiben gelesen hat, wird den erfolgreichsten Thrillerautor der Welt nicht mehr ohne Weiteres in die Genre-Schublade stecken.

Was ich mir am meisten wünsche, ist Resonanz, etwas, das für eine Weile im Kopf (und Herzen) des beständigen Lesers nachklingt, nachdem er das Buch zugeklappt und ins Regal gestellt hat.

Tim Parks benennt die verlässliche Scheidung in Gut und Böse in den Thrillern von Stephen King als wichtigstes Kennzeichen der Genre-Literatur:

Our hero will remain an indisputably good person; he will not let us down.

Wie gruselig die Thriller auf der Handlungsoberfläche auch sein mögen, auf einer tieferen Ebene werden die Leserinnen und Leser nicht um ihre Ruhe gebracht, im Gegenteil:

The reader closes the book feeling immensely reassured.

In der gnadenlosen Bestrafung des Bösewichts wird die Ordnung wiederhergestellt, und deshalb ist die Lektüre so befriedigend.

Diesem Prinzip gehorchen auch die Märchen. Sie gehen immer gut aus, und an der Verteilung von Gut und Böse lassen sie keinen Zweifel:

– Königssohn/Däumling/die sieben Zwerge = gut
– Hexe/ Drache/Stiefmutter = böse

Ein moralisch zweifelhafter Märchenheld würde die Regeln der Gattung ebenso verletzen wie eine mitfühlende Darstellung des Feindes. George Lucas: Die mythische Heldenreise war die Grundlage für Star WarsUnd doch sind Märchen keine Trivialliteratur. Ihre Symbolwelten halten sich seit Jahrhunderten lebendig und dienen jeder Generation aufs Neue als Nahrung für das eigene Leben.

Die mythische Heldenreise, wie Joseph Campbell sie in seinem Klassiker Der Held mit den tausend Gesichtern (The Hero With a Thousand Faces, 1946) analysiert, erweist sich als universell. Sowohl die Trivialliteratur als auch die Kunst nutzen dieses Erzählprinzip: Ohne Campbells Einsichten hätte er sich etwa die Weltraum-Saga Star Wars nicht ausdenken können, so George Lucas. Der Drehbuchautor und Script-Berater Christopher Vogler wiederum hat die von Campbell beschriebenen Stationen der Heldenreise erfolgreich angewendet, um Hollywood-Drehbücher auf ihre Publikumschancen hin zu überprüfen. Voglers Schreibratgeber Die Odyssee des Drehbuchschreibers (The Writer’s Journey. Mythic Structure for writers, 1998) ist ein Standardwerk für die erzählenden Künste.

Irrtum Nr. 3:

– Trivialliteratur dient einzig der Unterhaltung.
– Literatur, die sich relevanten Themen zuwendet, kann nicht trivial sein.

Thesenromane dürfen gesellschaftliche Relevanz für sich in Anspruch nehmen: Wer den Roman zur gerade aktuellen Debatte schreibt – Klimawandel, Hirnforschung, Flüchtlinge –, ist von vornherein legitimiert. Doch das ändert nichts daran, dass die literarischen Verfahrensweisen meistens trivial sind. So haben die Figuren in der Regel eine Funktion: Sie repräsentieren eine Meinung/Gesellschaftschicht/Weltsicht; ihr Schicksal illustriert einen Sachverhalt. Romane wie Richard Powers’ Das größere Glück, Ian McEwans Kindeswohl, Juli Zehs Unterleuten inszenieren mit Hilfe von typisiertem Personal eine aktuelle Debatte. Weil der Stoff sich beherrschen lässt, gehen solche Romane oft ohne Rest auf: Alles lässt sich erklären – und wird auch erklärt, damit sind sie näher bei der Soziologie als bei der Literatur. Im Gespräch einer Gesellschaft mit sich selbst haben solche Romane durchaus ihren Platz, sie stellen zeitgemäße Fragen, manchmal geben sie sogar Antworten. Man lernt etwas. Doch sie lassen sich erschöpfend lesen. Sie liegen an einer Kreuzung, auf der sich alle treffen – so die etymologische Bedeutung des Worts Trivialität.

Ästhetische Erfahrung findet jenseits des Lernens statt, wie Lukas Bärfuss es in einem Essay über Robert Walser beschreibt. Als Kind habe er nur Bücher gelesen, aus denen man etwas lernen konnte, so Bärfuss:

Ich verstand die Sprache als ein Mittel, um diesen Zweck zu erfüllen, und je besser der Dichter sein Mittel beherrschte, umso klarer vermittelte sich der Zweck.

Doch dann habe er Robert Walser gelesen – und nichts verstanden, denn bei Walser gibt es keinen Zweck. Als er dies nach der ersten Irritation akzeptiert hatte, so Bärfuss weiter, „hörte ich auf zu lernen und begann zu erleben“ (Hervorhebungen im Original).

Wer beim Lesen etwas erlebt, schafft sich seine eigene Welt und vollzieht damit einen kreativen Akt. Entscheidend hierfür ist die Sprache.

Ich hörte sie atmen, schnaufen, sah, wie sie trabte, galoppierte, tänzelte, fühlte sie schmeicheln und kratzen, sich zieren und winden.

So beschreibt Bärfuss seine Lese-Erfahrung mit Robert Walser.

Nicht die Thematik bewahrt die Literatur vor der Trivialität, sondern der Stil.

Kunst handelt nicht nur von etwas, sie ist etwas.

So drückt es Susan Sontag in ihrem Essay „Über Stil“ aus. Thesenromane handeln von etwas. Sie können Einsichten verschaffen, aber sie verwandeln uns beim Lesen nicht. Man kann sie konsumieren, ohne dabei selbst zum Akteur zu werden.

Irrtum Nr. 4:

– Trivialliteratur ist nicht avantgardistisch.
– Avantgardistische Literatur kann nicht trivial sein.

Schön wär’s. Natürlich hat auch die Avantgarde ihre Gemeinplätze und Klischees, ihre bewährten Rezepte und Tricks. Eine Zeile wie

Das. Ei. War. Noch. Weich.

signalisiert den Willen zur Avantgarde, zum Experiment. Allein, man bemerkt die Absicht und ist verstimmt. Flapsig gesagt: Nur weil man anders schreibt, als es im Duden steht, entsteht noch keine Kunst.

Irrtum Nr. 5:

– Trivialliteratur fordert den Leser nicht heraus.
– Literatur, die den Leser herausfordert, kann nicht trivial sein.

Es gibt Romane, bei denen man alle Hände damit zu tun hat, die Fäden zu entwirren und die Komplexität der Themen und des Figurengeflechts zu durchdringen, so etwa in Jonathan Franzens Unschuld oder in Daniel Kehlmanns F. Doch wenn man die Stränge einmal auseinanderklamüsert hat, merkt man, dass es wilder, kühner, anspruchsvoller aussieht, als es ist. Wenn am Ende nichts übrig bleibt, über das man sich wundert, findet man sich wieder auf einer Kreuzung. Hier treffen sich alle, die sich ein wenig angestrengt haben.

Fazit:

– Trivialliteratur ist, wenn in einem Buch alle das Gleiche lesen.
– Kunst ist, wenn jeder etwas Anderes liest.

Welche Eigenschaften muss ein Text haben, damit dieses Wunder geschieht? Ich komme auf ein Kriterium, von dem man besser die Finger lässt, wenn man von den Kollegen noch ernst genommen werden möchte.

Tiefe.

Die Tiefe eines Werks lässt sich nicht messen, sondern nur erleben, es ist wie ein Klang, der im Körper auf Resonanz stößt.

Es ist, als ziehe das Gedicht, das Gemälde, die Sonate rings um sich einen letzten Kreis, einen Raum für unverletzte Autonomie,

so George Steiner in Errata. Einen Klassiker definiert Steiner

als das, um welches herum dieser Raum beständig fruchtbar ist.

Dieses Kriterium des fruchtbaren Raums – der Tiefe – unterscheidet nicht zwischen Genres und Verfahrensweisen. Es gilt für Frau Holle und Ulysses, für einen komischen Roman wie Herr Lehmann und abgrundtief tragische Dorfprosa wie Die Mittellosen von Szilárd Borbély.

Wenn der Text zu jedem Leser anders spricht, wird der Leser verwandelt.
Der Leser wird verwandelt, wenn er etwas erlebt.
Der Leser erlebt etwas, wenn der Text Eigenleben hat.
Der Text hat Eigenleben, wenn mehr drin steht, als der Autor hineingeschrieben hat.

Ein Text ist trivial, wenn er kein Geheimnis hat.


Zitierte Literatur:

Stephen King: Das Leben und das Schreiben
Heyne Verlag 2011 · 384 Seiten · 10,99 Euro
ISBN: 978-3453435742
Bei Amazon oder buecher.de

Christopher Vogler: The Writer’s Journey
Michael Wiese Productions · 2007 · 300 Seiten · 23,99 Euro
ISBN: 978-1932907360
Bei Amazon oder buecher.de
(deutsche Ausgabe vergriffen)

Susan Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen.
Fischer Taschenbuch · 1982 · 384 Seiten · 9,95 Euro
ISBN: 978-3596264841
Bei Amazon oder buecher.de

Lukas Bärfuss: Stil und Moral. Essays.
Wallstein Verlag · 2015 · 253 Seiten · 19,90 Euro
ISBN: 978-3835316799
Bei Amazon oder buecher.de

George Steiner: Errata. Bilanz eines Lebens.
Hanser Verlag · 1999 · 224 Seiten · (vergriffen)

Beitragsbild:
Raffael: Die Engel der Sixtina (Ausschnitt aus Sixtinische Madonna)
Via Wikimedia
Gemeinfrei
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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

10 Kommentare

  1. Liebe Sieglinde:

    dass Umkehrschlüsse nicht zwangsläufig zur Wahrheit führen, sondern häufig eher ins Absurde, liegt für mich auf der Hand: Nicht jeder, der alkoholabhängig ist, kann komponieren wie Beethoven – um ein triviales Beispiel zu bemühen.

    Ein paar Gedanken zu deinen Ausführungen:

    1.
    Autoren, die “wieder erzählen können”, erhalten doch seit rund zweieinhalb Jahrzehnten von der Literaturkritik kräftigen Applaus. Man kann etwas in großen Bögen nacherzählen, das nicht nur dem Fachpublikum zugänglich ist und daher verkäuflich – ein Labsal für Rezensenten, die sich auf diese Weise auch einen Namen machen. Auch Elena Ferrante ist umjubelt worden. Thomas Steinfeld hat hingegen erkannt, dass es sich hier um eine Erzählkonstruktion des 19. Jahrhunderts handelt, aus dem ja auch die von dir zitierte Flaubertsche Maxime stammt. Dass Ferrantes Prosa keine Hochliteratur ist, kann man genau an einem Beispiel erkennen, das du nennst:

    “diese verbitterte, hasserfüllte, gefügige Angst”

    Ein Mensch kann verbittert, hasserfüllt und gefügig sein, aber Angst ist ein Gefühl, das schwerlich selbst Gefühle haben kann wie Verbitterung und Hass; auch gefügig kann Angst nur in personalisierter Form sein, also in trivialisierter Form, die von einer Autorin bewusst gewählt werden kann aufgrund einer künstlerischen Absicht. Doch darauf lässt sich hier nicht schließen; vielmehr wird deutlich, dass Elena Ferrante schlichtweg solche Stilfehler unterlaufen. Und die “effektvollen Lücken”, die du in ihrem Text bewunderst, finden sich in jedem gut gemachten Fernsehkrimi auf Tatort-Niveau.

    2.
    Stephen King hat mich als Schreibratgeber auch beeindruckt, wobei seine Romane bei mir keine schlaflosen Nächte hervorriefen, sondern eher gegen Schlaflosigkeit halfen. Aber das ist sicher kein maßgebliches Kriterium des Trivialen, wobei ich Kings Werk, wie die meisten der von dir erwähnten Titel von Ferrante, Zeh etc., der Unterhaltungsliteratur zuordnen würde, die eben zwischen dem Trivialen und der Hochliteratur steht. Theoretisch. Praktisch sind die Übergänge sicher fließend. Klaus Modick schreibt sinngemäß, dass er sich nach einigen avantgardistischen Projekten, die sich schlecht verkaufen ließen, für eine intelligente Art der Unterhaltung abseits des Trivialen entschieden habe, weil er nicht nur vom Leben schreiben, sondern auch vom Schreiben leben wolle.

    3.
    Die “Heldenreise”, die einem Drehbuchautor als Grundmuster für einen Unterhaltungsfilm dienen mag, wird ein gewitzter Interpret sicher sowohl in den Grimmschen Märchen als auch im “Ulysses” entdecken. Aber gerade “Ulysses” ist ein Beispiel dafür, dass Heldenreisen wie Märchen O-Ton-Literatur früherer Zeiten sind und daher formal und inhaltlich aktualisiert werden müssen, um eben nicht die Wiederholung der Wiederholung zu sein, wie sie sich in der Trivialliteratur findet, in der noch heute bitterarme Bauernmädchen als russische Großfürstinnen enttarnt werden.

    4.
    Jeder liest jeden Text auf seine eigene Weise, egal, ob man ihn trivial, unterhaltsam, avantgardistisch o.ä. nennt. Und wenn Literaturkritik homogen ist, dann liegt es daran, dass sie innerhalb ihrer Lektürekonventionen bleiben muss, da die Zeitung einem literarischen Laienpublikum verkauft wird, das die Bücher, um die es in den Kritiken geht, verstehen möchte.

    5.
    Tiefe … “das ist ein zu weites Feld.” Denn nicht nur liest jeder einen Text auf seine eigene Weise, sondern empfindet auch Tiefe auf seine eigene Weise. Was dem einen bedeutungsvoll erscheint, mag auf den anderen unnötig verrätselt und banal wirken.

    Soweit mit lieben Grüßen, Elke

    Antworten

  2. Ihrer Beschreibung des Künstlerischen in der Literatur stimme ich grundsätzlich zu. Ich befürchte allerdings die Konsequenz, dass die Literaturkritik unter Verwendung des Trivialen als des einzigen Gegenbegriffs zur Kunst ihre kritischen Segel streichen müsste, denn dann wäre so gut wie alles, was man auf den Rezensionstisch bekäme, vom Trivialen zumindest infiziert. Hinzu kommt die Erfahrung, dass der künstlerische Gehalt von Werken wie etwa der von Robert Walser erst nach einer gewissen Zeit wahrnehmbar wird, und zwar dann, wenn der Unterschied zu seinerzeit als irgendwie ähnlich empfundenen Texten erkennbar wird und sich die Form gegen den Stoff so durchgesetzt hat, dass das Werk „haltbar“ geworden ist.

    Im Folgenden – lediglich als Anregung – meine persönlichen (naturgemäß großen und groben) Schubladen, welche sich immer dann knarrend öffnen, wenn ich Literaturbesprechungen lese oder höre:

    1. Trivialliteratur: nach vorgegebenen Rezepten geschriebene Romane, deren einzige Botschaft ihr Schematismus ist. Findet man in Bahnhofsbuchhandlungen und wird fast nie im Feuilleton besprochen.

    2. Infotainment-Literatur: in der Regel Romane, welche „Themen“ bzw. „Inhalte“, die in der Welt außerhalb der Literatur (also der Welt der Medien) zu einem gewissen Zeitpunkt als „wichtig“ erachtet werden, in bekannte Romanschemata „umsetzen“. Dieses „Wichtige“ wird manchmal fälschlicher Weise als das über reine Unterhaltung Hinausgehende gedeutet. (Solche Romane führen Sie unter „Irrtum Nr. 3“ an.) Darunter findet man gelegentlich Werke, die als Romane außerordentlich gut sind (und zu Recht gelobt werden). Allerdings sind sie als Kunst uninteressant, und zwar nicht wegen des schriftstellerischen Könnens des Autors, sondern wegen der „Einwickelästhetik“ (Albrecht Fabri), der sich diese Romane unterwerfen (und zwar auch dann, wenn sie keine plakative „These“ vor sich her tragen). Auch der dicke Roman über Frauenunterdrückung in Weitwegistan gehört hierher – das Unkünstlerische ist nicht die Frauenunterdrückung, sondern das „Über“.

    3. Unterhaltungsliteratur: in der Regel Romane, die in erster Linie auf die Erzeugung kalkulierter Emotionen abzielen. Heutzutage finden sich darunter auch Werke nachweisbarer künstlerischer Qualität, die unter diesem Aspekt die Kategorie 2 (und 1 ohnehin) weit hinter sich lassen. Allerdings ist die Unterhaltungsliteratur dadurch definiert, dass sie Genreliteratur ist, d. h. sie muss sich an außerkünstlerische Gesetze halten. Dennoch sollte man bedenken, dass es eindeutige U-Literatur gibt, die von E-Literaten geschätzt und ausgebeutet wird (P. D. Wodehouse) und Schriftsteller mit künstlerischer Intention, die sich im Genre maskieren (Wolf Haas).

    4. Literatur aller Genres und Formen, die als E-Literatur wahrgenommen werden möchte und aus diesem Grunde gern jene Mittel verwendet, die von anspruchsvollen Lesern und dem gehobenen Feuilleton als entsprechende Signale erkannt werden (z. B. extrem verschachtelte und komplexe Romane mit tausenden literarischen Anspielungen). Siehe „Irrtum Nr. 5“ (gute Beispiele, ich würde noch C. Kracht nennen).

    5. Alle Literatur, in der sich vor allem die Subjektivität eines Künstlers ausdrückt. Literatur, die keine Zielgruppe im Sinne hat, sondern sich ihre Zielgruppe selbst schafft, zum Beispiel den Arno Schmidt-Leser. Wenn Peter Handke einen Krimi schriebe, würde auch dieser vor allem ein Werk von Peter Handke sein und keineswegs in Kategorie 3 landen.

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  3. Wenn Hochliteratur und Trivialliteratur die Gegensätze wären, bei denen man mathematisch sagen kann, hier endet das Hohe und darunter beginnt das Niedere, dann ist es für viele Diskutierende eine Quelle der Zerstreuung zu streiten, in welche Schublade ein Buch zu werfen sei. Zwei Sachen: Ein Buch kann doch auch beides sein, hoch und trivial, oder? Entweder in Teilen so, in Teilen so, oder sogar in einem einzigen Teil so und so. Für mich eignen sich Borchert, Böll und Hemingway für solche Betrachtungen. Das Zweite: Ich finde die Behauptung absurd, Ferrantes Erzählperspektive habe etwas gemeinsam mit der Flauberts und sei deshalb trivial, weil eine Imitation nicht hoch sein könne sondern als trivial eingeordnet werden müsse. Was ist mit Fontanes Klau der Bovary? Was ist mit Smiths Adaptation von Forsters Howards End? Ich beurteile Bücher so wie Musik nach ihrem Klang. Wenn für jemand wie Steinfeld Ferrant abgedroschen klingt, sein Ding. Für mich klang sie neu und der Klang, den ihre Figuren erzeugen, hat in mir eine Weile Resonanz gehabt.

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    1. Dem Begriff “Trash” haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen http://www.editiondaslabor.de/blog/2014/11/11/perlen-des-trash-%c2%b7-revisited/

  4. Was ist eigentlich das Gegenteil von trivial? Anspruchsvoll? Seriös? Oder einfach Kunst? Es gibt Fälle, wo man die Unterscheidung m. E. klar treffen kann. Spannend wird es natürlich dort, wo es sich überschneidet.
    Die Frage nach dem Epigonalen, ob Ferrante ein Flaubert-Abklatsch sei, entscheidet sich für mich daran, ob daraus etwas Neues entsteht. Manchmal ist eine Tradition ausgereizt. In der Musik beispielsweise war die Tonalität irgendwann vorbei, man konnte sich in A-Dur nicht mehr weiterentwickeln, das Gleiche gilt für viele Formen der Lyrik.
    Trivial wird es ja oft dann, wenn eine verbrauchte Form weiter benutzt wird, als wäre sie noch frisch. Gerade der trash hat ja oft eine ironische Brechung.

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    1. Ein weiterer Hinweis. Auf KUNO beschreibt Constanze Schmidt die Entfernung von Proust zu Pulp http://www.editiondaslabor.de/blog/2014/11/30/proust_and_pulp/

    2. Lassen wir Ferrante zur Seite, nehmen wir Lyrik. Ich kann nicht folgen, dass Traditionen ausgereizt werden können. Bob Dylans Like a rolling stone nimmt Country Musik auf, Seamus Heaney setzt auf Reime und Strophen. Heaneys Werke erfreuen mich, weil sie dichte Geflechte sind, bei denen Worte wie Ranken die Form fast zum Verschwinden bringen und sie damit zum Vorschein bringen.
      Für Ferrante heisst dass für mich: Ihre Form ist nicht traditioneller als die Vargas Llosas. Ihre Figur steht sowohl am Rand der Gesellschaft als auch mittendrin. Vargas Llosas Figuren sind häufiger entweder hier oder dort, so dass ich Ferrantes Erfindung komplexer finde.

  5. Jürgen Kielj 16. Juli 2020 um 11:27

    Es kommt darauf an, ob ein Text einen vorhandenen Werkzeugkasten mehr oder weniger virtuos anwendet, um ein Kundenbedürfnis zu befriedigen (Handwerk) oder darüber hinaus ein reflektiertes Verhältnis zu seinen Mitteln hat (Kunst). Es ist wie bei der Ausbildung von Spitzenmusikern: zunächst jahrelang das Handwerk erlernen und dann lernen, man selbst zu sein. Das kann sogar dazu führen, dass der betreffende Künstler seine eigene Virtuosität unterdrückt. Die hohe Kunst der Kritik besteht darin, nicht nur das gut Gemachte zu benennen, sondern darüber hinaus die Individualität (Subjektivität) zu entdecken. Reime, Gegenständlichkeit und Melodien machen Kunst nicht schlecht, solange sie im Werk als Ausdruck von Subjektivität erscheinen. Ein Beispiel: die (gegenständlichen) Bilder von Edward Hopper „wissen“, was die abstrakte Kunst ist.

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  6. Es gibt, so weit ich weiss, ein paar Texte, die überlegen, ob sich an Ferrantes Texten erkennen lässt, ob der Text einfach ist, weil die Autorin mit mehr nicht klar kommt, oder ob er einfach ist, weil die Autorin ihn so will. Für mich ist es so: Wenn die beschriebenen Gefühle komplex erfasst sind, mag die Sprache einfach oder nicht sein, es ist dann für mich ein größerer Gewinn zu lesen als die Fälle, in denen die Gefühle einfach sind und die Sprache elaboriert. Nachdem jetzt schon Hoppers Gegenständlichkeit als Beispiel genannt wird für einen Weg, der klassische Themen beibehält statt neue zu gestalten, möchte ich den Film hier als ähnliches Feld heranziehen. Für mich sind die Filme aus Hollywood seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten triviale Kunst. Sie wollen keine reflektierte Kunst sein und sind es auch nicht. So ähnlich sehe ich auch die Spiegelbestseller.

    Antworten

    1. Ich habe ja seinerzeit auf tell einen Page-99-Text zum ersten Band von Elena Ferrantes Saga geschrieben und bin zum Schluss gekommen, dass es ein hoch raffinierter Text ist.
      Später habe ich dann alle Bände gelesen, allerdings fand ich, dass der erste Band für sich steht: Die Kindheitsperspektive bietet erzählerische Möglichkeiten, die die späteren Bände nicht mehr ausloten. Der letzte Band erzählt teilweise aus großer Distanz, oberflächlich und pauschal. Es ist eben gerade das Hineinzoomen in den Moment, in das akute und doppelbödig erzählte Erleben, das diese Prosa auszeichnet (jedenfalls dort, wo Ferrante ihre Möglichkeiten ausschöpft).

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