Lyrik und Pop – das ist nicht erst seit dem Nobelpreis für Dylan eine beliebte Kombination. Rolf Dieter Brinkmann gehörte zu jenen, die in den 60er Jahren den Pop in die deutsche Literatur brachten, und er begriff rasch, wie schnell sich das Subversionspotenzial des Pop erschöpft. In seinem Gedichtband Westwärts 1 & 2, erschienen 1975 im Jahr seines Todes, dient ihm Pop nur noch als Anspielung. Eine antiklassische Attitüde: „Roll rüber, Beethoven!“, heißt es in einer Gedichtzeile.

Anselm Bühling zitiert auf tell Wisława Szymborska: „Eigentlich könnte jedes Gedicht / Augenblick heißen.“ Das gilt auch für die Poesie von Rolf Dieter Brinkmann. Sie fängt Momente ein, meist sind es die ganz gewöhnlichen Momente unseres Alltags, manchmal kalt und unbeteiligt, so wie der Seismograph einen Stoß aufzeichnet. Eine frisch gewaschene schwarze Strumpfhose in Trauer auf einem Wäschedraht im Januar, oder ein Sommerabend im August in einer Seitenstraße Kölns:

Einen jener klassischen
schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon
ganz verstaubt ist,

Beim Lesen meine ich die Hitze dieser Straße zu spüren.

Mein Lieblingsgedicht handelt vom Mond. Aus einer Alltagsszene, zwischen Matthias Claudius, der Deutschen Romantik und einem Strom von Assoziationen formt sich der Text, er fließt wie jenes beschworene Mondlicht dahin:

Mondlicht in einem Baugerüst
am Ende des 20. Jahrhunderts, einfach wie
Mondlicht in einer übriggebliebenen
Allee, schön wie ein langes Klaviersolo Lennie Tristanos,
ein Bücherregal mit noch nicht gelesenen

Büchern, kräftig wie ein Güterzug, flache Schatten,
Entzückungen: voller Mond im September über der
Seitenstraße in der Innenstadt abends 9 Uhr. Das Wort
Mondlicht erinnert mich u.a. an Mondlicht und

nachts im leeren Gang eines Schnellzuges am Fenster
zu stehen und hinauszublicken auf eine Landschaft,
über der das Mondlicht ausgebreitet ist, offen,
gewöhnlich und unsentimental wie eine dunkle

Tankstelle in der sonst menschenleeren Weite,
oder wie Sonntagnachmittag drei Uhr „hang on,
sloopy“ zu hören und auf einen leeren Park
Platz zu schauen, wo ein umgekippter emaillierter

Elektroherd liegt. Mondlicht erinnert mich an Kühe,
(…)

Lauter Szenen, die ineinander gleiten, und immer ist es das Wort Mondlicht, an das sich die Bilder binden, die dann weitertreiben und ins nächste Bild schwenken, fast filmisch. Mich fasziniert diese Dynamik –

„Mondlicht erinnert
mich nicht an Schlaftabletten, Mondlicht erinnert mich
nicht an Dialektik …“

In diesem Spiel erhält der Augenblick plötzlich etwas Fluides. Ein Rhythmus entspinnt sich.

Und mir ist egal, ob das Mondlicht paßt oder nicht,
das Mondlicht fällt in den Supermarkt, es macht

die Dinge einfach mehr weniger, und zu fragen,
nach wieviel Stößen kommst du unterm Mondlicht ist Schwachsinn
unterm Mondlicht, und es macht gar keinen Sinn, das Mondlicht
anders zu beschreiben als mit Mondlicht. Und wenn ich sage,

das Mondlicht ist eine Türklinke im Mondlicht, heißt das,
das Mondlicht ist schön wie Mondlicht; und es ist Zeit;
mit den Vorschriften aufzuhören.

Was für ein Bruch zum Ende! Schöner kann ein Gedicht die Regelpoetik nicht aushebeln.

Angaben zum Buch
Rolf Dieter Brinkmann
Westwärts 1 & 2
herausgegeben von Delf Schmidt und Maleen Brinkmann
Rowohlt Verlag 2005 • 336 Seiten • 29,90 Euro
ISBN: 978-3-498-00528-3
Bei Amazon oder buecher.de
3-498-00528-6
Bildnachweis:
Beitragsbild: © Lars Hartmann
Buchcover: Rowohlt Verlag
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Von Lars Hartmann

Bloggt auf Aisthesis, freier Autor beim Freitag

2 Kommentare

  1. In der Tat ein außerordentlich schönes Gedicht, welches es schafft, 57 Mal das Wort Mondlicht in 24*4+3 = 99 Zeilen unterzubringen, ohne je zu langweilen; mann will immer wissen, wie es weitergeht. Und es ist abwechslungsreich. Man erfährt Dinge aus dem Leben des integren Dichters, die uns beispielhaft leuchten können. Auf den Strukturabbruch im abschließenden Zweieinhalbzeiler hatte ich nicht gemerkt beim Lesen damals, danke dafür!

    Die Vorschriften am Ende würde ich gern darüberhinaus wörtlich verstehen, das zuvor von Brinkmann in diesem Gedicht Geschriebene meinend bzw. Getippte als auch von andern Romantikern zuvor übers Mondlicht Verfasstes und ihre Metaphern, denen am Ende bündig was wie “Das Mondlicht ist das Mondlicht ist das Mondlicht” entgegnet wird.

    In der Tat fallen die beiden verneinten Sätze, die Sie zitieren, heraus aus der Suada. Sie stehen singulär und mann muss ihnen vielleicht eine besondere Bedeutung zubilligen. Die Dialektik der Studentenbewegung hat Brinkmann verworfen gehabt und der Verzicht auf Schlaftabletten möchte vielleicht sein nächtliches Gedichtetippen rechtfertigen.

    “Mondlicht und Fahrräder, das mag chinesisch klingen,” meint er, nachdem er über jüngstvergangenes nächtliches Radeln auf der Universitätsstraße geschrieben hat. 1975 nahte die Große Proletarische Kulturrevolution (无产阶级文化大革命) ihrem Ende, ich erinnere Meldungen als Kind mit Personenfotos von der Verhaftung der Viererbande in der Tagesschau im Folgejahr. Suchte zuerst in der Verbindung von Mondlicht mit Fahrrädern das spezifisch Chinesische, ohne es zu finden. Einzeln wohl, Mondlicht wie im Gedicht 床前明月光 疑是地上霜 举头望明月 低头思故乡 von Li Bai (701 – 762) und die Fahrräder in den Siebzigern als chinesisches Massenverkehrsmittel, heute nicht mehr.

    In der Tat heißt es “in hundertdreißig Jahren” an einer Stelle in Brinkmanns Gedicht. Eine Jahreszahl, die erinnert vorkommt im Gedicht, ist 1946. Von 1975 her ist das 29 Jahre her. Wenn er dann auf das Mondlicht “in 130 Jahren” blickt, ist es prosodisch identisch. 2105 dieses Poems zu gedenken (lasset uns!), kann nicht völlig verkehrt sein.

    In der viertletzten Strophe bringt Brinkmann Sonnenblume und Mondlicht zusammen. These und Antithese verflüssigt er, anschaulich und konkret.

    (In der Tat soll mann keineswegs vom Gedicht her auf Verfassung des Verfassers schließen, aber kann nicht anders, kann es mir nicht anders vorstellen, als dass Brinkmann dieses nachts in seine mechanische Schreibmaschine getippt hat, seine schlafende Frau und den schlafenden Sohn vielleicht störend in den Nebenzimmern.)

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  2. Schöne Ergänzungen, danke.

    Ja, zu Brinkmann muß man wissen, daß er in der Tat von der Studentenbewegung nicht angetan war, – auch darauf mag sich die Zeile mit den Vorschriften beziehen; wir kennen es ebenfalls von der Gegenwart her. Hilfreich zu wissen auch, daß er ein großer Schimpfer sein konnte. Zu finden z.B. in „Rom Blicke“, da kann man ganz herrliche Sätze zu seinen Mitstipendiaten in der Villa Massimo lesen. Unter anderem zu Nicolas Born. Das alles wirkt zunächst ganz unmittelbar. Und was er in „Standphotos“ und noch viel wilder in „Schnitte“ notierte: eine Mischung aus Bricolage, Text und Bild montiert, und es erinnert bereits an die Punk-Ästhetik der Fan-Zines. Insofern ließ Brinkmann über das Montageprinzip und auch in seinem Interesse an Photographien der Pop nicht los – popular culture als Steinbruch. Vietnam, Porno, Sex, Film, Medien und die Kämpfe der Zeit. Aber ohne dabei Position zu beziehen. Brinkmanns Arbeit wurde dann aber insbesondere in „Westwärts 1 & 2“ vom Stilwillen getragen; er überließ sich nicht bloß mehr seinem Material, wie man es in den Montage-Bänden manchmal herauszuschauen, herauszulesen vermeint.

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