In ihrem fünften Roman Was alles war nimmt die in Hamburg lebende Schriftstellerin Annette Mingels (*1971) Abschied vom Liebesegoismus ihrer Generation. Die Familie wird nicht mehr als kleinste kriminelle Vereinigung erfahren, sondern als ein Ort der Utopie, an dem sich die elementaren Dinge des Lebens ereignen: Geburt und Tod, Liebe und Abschied und der Zusammenprall von Autonomieanspruch und sozialer Verantwortung.

Annette Mingels (©Hendrik Lüders)

Michael Braun: In einem Interview von 2005 haben Sie erklärt: „Das Autobiografische ist bei mir absolut minim.“ In Ihrem neuen Roman „Was alles war“ gibt es nun eine starke autobiografische Unterströmung mit dem Thema Adoption. Wie ist es dazu gekommen?
Annette Mingels: Das stimmt. Ich habe bisher tatsächlich nie über mein eigenes Leben geschrieben. Aber das Thema Adoption ist für mich als Autorin ein verlockender Stoff. Ein Stoff, der unter gewissen Umständen dramatische Konstellationen mit sich bringt. Der Roman wäre sicher nicht entstanden ohne den Vorläufer-Text, einen persönlichen Essay, den ich 2007 zu diesem Thema geschrieben habe. Anlass für den damaligen Text war, dass mich die Art, in der das Thema Adoption in den Medien behandelt wird, zunehmend störte. Stets nach dem Klischeebild: Die Adoptierte tritt als Erwachsene einer fremden Frau gegenüber, ihrer biologischen Mutter, und spürt dann den Ruf des Blutes. Das kam mir fragwürdig vor. Ich bin damals mit der Geschichte meiner Adoption zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen und war gespannt, wie meine Eltern reagieren. Zu meiner Überraschung wussten sie diesen Schritt zu schätzen. Es war ein Thema, über das wir zuhause kaum sprachen, aus gegenseitiger Rücksichtnahme, glaube ich. Und diese Rücksichtnahme war in beiden Fällen nicht nötig. Für mich war die Adoption nie eine traumatische Angelegenheit. Der andere Punkt war: Ich hatte meine leibliche Mutter kurz zuvor getroffen, und es war so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich hatte keineswegs dieses Gefühl, nun angekommen zu sein und da zu sein, wo ich hingehöre. Es war eine fremde Frau, die nette Seiten hatte, aber vor allen Dingen auch anstrengende. Und bei der ich dachte: Gut, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, weil sie als Mutter nicht geeignet gewesen wäre. Sie war extrem auf sich selbst fokussiert und konnte davon auch gar nicht abrücken.

Der Roman setzt ein mit der Begegnung der Heldin Susanna mit ihrer leiblichen Mutter und bewegt sich dann thematisch in unterschiedlichste Richtungen. Hat sich das Roman-Konzept in all den Jahren der Arbeit an dem Buch verändert?
Ich folge in meinem Schreiben keinem strengen Bauplan. Ich fange mit dem ersten Satz an, dem ersten Bild, und weiß dann erstmal nicht, in welche Richtung es weitergeht. Bei diesem Buch wusste ich schon, welche Themen integriert werden sollen: Das Thema Adoption, die Vatersuche, das Verhältnis Eltern und Kinder. Die Dinge, die im Buch passieren, geschehen alle im Kosmos Familie: Der Familie, die sich mit Henryk, Susa und den Kindern neu bildet, und jener, der Susa entstammt. Zwischen den rund fünfzehn Personen geschehen Dinge, die nie den ganzen Raum beanspruchen: Da gibt es Tod und Geburt in direkter Nachbarschaft, Streit und Liebe, auch ganz alltägliche Probleme, alltägliches Glück. Für mich ist dieses Buch organischer als meine vorherigen. Es brauchte länger, um zu wachsen – was bestimmt auch damit zu tun hat, dass ich mittlerweile drei Kinder und dadurch weniger Zeit habe.

Die Verlagsankündigung beschreibt „Was alles war“ als einen Familienroman. Aber es ist auch ein Roman über die letzten Dinge und über die Dialektik von Werden und Vergehen, über Leben und Tod. Die Etikettierung „Familienroman“ ist fast schon eine Verkleinerung des Buches.
Ich habe mir das Buch beim Autofahren als Hörbuch angehört – gelesen von der Schauspielerin Ulrike Tscharre – und habe es dann auch selbst noch deutlicher als einen Roman über Werden und Vergehen empfunden. Aber das ist ja letztlich auch etwas, was Familie auszeichnet: Diese Dialektik des (An-)Kommens und (Weg-)Gehens, der Freude und der Trauer. Familie ist ja kein statisches Gebilde, sondern eingebettet in eine Chronologie. Meine Eltern werden, wenn alles richtig läuft, vor mir sterben und ich werde, wenn alles richtig läuft, vor meinen Kindern sterben. Wenn Kinder kommen, wird einem diese Chronologie ganz wichtig. Eine gute Familie ist geprägt von Liebe, sie ist aber auch geprägt von Abschied. Wenn man selbst ein Kind bekommt, ist das von Beginn an eine zwiespältige Freude, der immer auch die Angst um das Kind eigen ist. Dieses Zwiespältige von Freude und Trauer, von Liebe und Abschied, ist im Familienkonzept drin.

Wenn man den Roman „Was alles war“ mit den Konstellationen Ihrer früheren Bücher vergleicht, hat sich einiges geändert. Die Figuren etwa im Roman „Die Liebe der Matrosen“ (2005) beziehen ihr Selbstgefühl oft aus der Flüchtigkeit von Affären. Der neue Roman liefert dazu einen Gegenentwurf: ein Bekenntnis zur Verlässlichkeit und Stabilität der Familie, zu einer Liebesethik der Verantwortung.
Das liegt daran, dass die Romanfiguren diesmal älter sind als die früheren Romanhelden, sie sind in einem anderen Lebensstadium. Wenn mich meine Freunde fragen, wovon meine Bücher handeln, sage ich gerne im Scherz: Früher ging es mehr um Sex – und heute viel weniger. Woran mag das wohl liegen? Andere Werte stehen jetzt im Mittelpunkt. Allerdings waren diese Werte auch für die früheren Romanfiguren präsent, auch da gab es die Suche nach etwas, das hält – und sich als haltbar erweist, auch wenn man dann nicht fähig ist, es zu bewahren. Die Figuren in Romantiker, meinem Geschichtenband von 2007, waren ja auch auf der Suche nach etwas, das ihnen Stabilität und Nähe und Loyalität und Zuverlässigkeit gibt, aber selber lösten sie es selten ein. Die Figuren meines neuen Romans sind nun welche, die sich ganz unromantisch in die Familie begeben und mit der Familie abplagen. Es ist ja nicht die reine Freude, diese ganzen Verbindlichkeiten, die da entstehen: diese Kämpfe mit dem Partner und die Auseinandersetzungen mit den Kindern und den Eltern. Und trotzdem wollen sie an der Familie festhalten und geben nicht gleich beim ersten Stimmungsumschwung auf.

Mir sprang der starke Satz von Cosmo ins Auge, dem Halbbruder der Hauptfigur Susanna: Der Egoismus sei die einzige Konstante der Evolution. Mir scheint, der Roman „Was alles war“ strebt danach, diesen Satz zu widerlegen.
Cosmo formuliert das im Roman in polemischer Zuspitzung. Es geht an dieser Stelle darum, dass Susa sich von ihrer leiblichen Mutter abgrenzt. Die leibliche Mutter ist offenbar eine egozentrische Person, die Verantwortung für andere ablehnt, und die, wenn sie dann doch welche übernimmt, wie für ihren Sohn Samuel, nicht gut damit klarkommt. Gleichzeitig wollte ich es mir nicht so einfach machen und Susa als die Gute und ihre leibliche Mutter Viola als die Böse darstellen. Cosmo ergänzt ja seinen Satz über den Egoismus: „Was übrigens auch für die gilt, die Kinder haben.“ Weil man Kinder nicht bekommt, um für andere etwas Gutes zu tun, sondern auch als eine Art von Selbsterfüllung. Wenn aber jeder in der Familie nur auf seinen Vorteil schaut, dann hält diese Familie höchstwahrscheinlich nicht. Das ist auch das Problem, das Henryk und Susa miteinander haben. Wenn Kinder hinzukommen, muss man die individuellen Ansprüche zurücknehmen, muss seine Zeit aufteilen, die eigenen und die Bedürfnisse der anderen irgendwie zusammen bringen. Ich habe den Satz von Cosmo nicht so programmatisch gesehen, aber ich glaube schon, dass eine Familie, die gelingt, den Cosmo-Satz vom Egoismus widerlegt.

Bildnachweise:
Beitragsbild: Von Eric Ward, via flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0
Porträt Annette Mingels: ©Hendrik Lüders
Buchcover: Knaus-Verlag
Angaben zum Buch
Annette Mingels
Was alles war
Roman
Knaus Verlag 2017 · 288 Seiten · 19,99 Euro
ISBN: 978-3813507553
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Von Michael Braun

Literaturkritiker (NZZ, DLF u.a.), lebt in Heidelberg. Foto: Britta Roski

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