Katja Petrowskaja wurde in Kiew geboren, studierte Literaturwissenschaften und Slawistik. Heute lebt sie als Journalistin und Autorin in Berlin. 2013 wurde sie für ihren Text Vielleicht Esther mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Es folgten die Veröffentlichung des gleichnamigen Romans bei Suhrkamp und weitere Auszeichnungen für ihr Werk.

Julia Krautstengel / Eva Schneider: Was bedeutet der Begriff Mehrsprachigkeit für dich?

Katja Petrowskaja: Mehrsprachig zu sein hat etwas mit einem Freiheitsgefühl zu tun und der Fähigkeit, ohne Probleme zwischen den Sprachen zu wechseln. Das kann ich über mich nicht sagen. Mein Deutsch ist nicht schlecht und mein Englisch ist vielleicht auch nicht ganz dramatisch, aber auch das Ukrainische spreche ich nicht fließend. Aber es gibt Menschen, die sich in fünf Sprachen richtig gut fühlen.

Du empfindest kein Freiheitsgefühl im Deutschen?

Selbst wenn ich einen Satz ohne Fehler sage, weiß ich nicht, dass er korrekt ist. Ich habe erst als Erwachsene Deutsch gelernt. Ich war nie an einer deutschen Schule, dadurch habe ich diese Sprachsicherheit nie bekommen.

Wie hast du Deutsch gelernt?

Ich lebe nun seit 17 Jahren in Berlin. Bevor ich nach Deutschland kam, hatte ich in Kiew ungefähr zehn Deutschstunden, dann noch Kurse in Moskau und am Goethe-Institut. Mein Deutsch ist also eher selbstgebastelt. Deshalb fühle ich mich unsicher auf Deutsch. Ich finde es aber gleichzeitig auch sehr schön, dass man Fehler macht und als Schriftstellerin trotzdem gefeiert wird.

Jede Sprache erzählt anders

Wann hast du angefangen, auf Deutsch zu schreiben und warum?

Es gab zwei Auslöser. Die Journalistin Sieglinde Geisel hat mich im Jahr 2002 auf dem Spielplatz angesprochen, und ich habe ihr von der goldenen sowjetischen Kindheit erzählt. Sie war so verblüfft, dass sie sagte, ich solle darüber auf Deutsch schreiben. Das war in meinem zweiten Jahr in Deutschland! Letztendlich veröffentlicht und umschreibt man die eigenen Verluste oder die eigenen Dramen – eigentlich klassischer Woody Allen.An diesem ersten Artikel auf Deutsch habe ich Monate gearbeitet. Ich hatte mich dazu entschieden, sofort auf Deutsch zu schreiben. Doch beim Schreiben ergaben sich zwei Probleme: Ich konnte kein Deutsch, und ich hatte davor nur akademisch gearbeitet. Wie auch immer, nach den vier Monaten erschien der erste Artikel von mir in der Neuen Zürcher Zeitung. Da habe ich verstanden, dass meine sowjetischen Geschichten hier in Deutschland interessant sind. Das ist ein bisschen wie beim Entwickeln von Fotos: Man legt das Fotopapier in Säure und plötzlich erkennt man etwas, was vorher nicht da war. So habe ich angefangen, kurze Artikel über sowjetische Phänomene zu schreiben – immer auf Deutsch. Ich fand diesen Wechsel spannend: Das Gleiche auf Russisch zu erzählen, erschien mir zwar auch interessant, aber es ist nicht dasselbe.

Und der zweite Auslöser…?

Der zweite Auslöser für mein Schreiben auf Deutsch war von komischer Natur – eine
Begegnung mit meinem Zahnarzt. Ich war nach der Geburt meines zweiten Kindes beim Zahnarzt, und er sagte, dass es wissenschaftlich betrachtet für meine Zähne zu spät sei. Und es deswegen für mich sehr viel kosten solle, das wieder hinzukriegen. Ich hatte immer super Zähne, nicht einmal eine Plombe. Ich wusste nicht, warum plötzlich alle Zähne kaputt sein sollten. Ich habe mich schrecklich gefühlt. Und so schrieb ich einen satirischen Text, der nur auf Deutsch möglich war: „Mein Leben mit dem Zahnarzt“. Das war mein erster Sketch. Damals habe ich dieses Genre für mich entdeckt.

Die Themen deiner ersten Veröffentlichungen auf Deutsch sind also sehr unterschiedlich.

Die Artikel über die sowjetische Kindheit oder über Schostakowitsch und Prokofjew
waren das eine, was auf Deutsch gut funktionierte. Geschichten wie die vom Zahnarztbesuch oder die Geschichte, wie ich mit 33 Jahren Fahrradfahren gelernt habe, sind anders zustande gekommen. Sie haben mit einem Erniedrigungsgefühl zu tun – alle konnten etwas, was ich nicht konnte. Und plötzlich entstanden auch diese Geschichten aus der deutschen Sprache heraus, weil ich ja in dieser Sprache funktioniert habe – oder eben nicht. Also, eigentlich hat dieses Nicht-Funktionieren in einer Sprache oder einer Gesellschaft dieses Genre in mir evoziert.

Jeder Text hat seine Sprache

Die Sprache bestimmte Thema und Genre mit…

Da habe ich verstanden, dass aus realen Erlebnissen etwas Fiktives erzeugt werden kann, das wahnsinnig lustig ist. Das hat auch etwas mit der deutschen Sprache zu tun. Letztendlich veröffentlicht und umschreibt man die eigenen Verluste oder die eigenen Dramen – eigentlich ein klassischer Woody Allen.

Wenn du Ideen hast, sind diese dann in einer bestimmten Sprache verortet? Zum Beispiel bei deinem Roman Vielleicht Esther, den du auf Deutsch geschrieben hast?

Mit Vielleicht Esther war es kompliziert. Ich habe zuerst angefangen, die Geschichte auf Russisch aufzuschreiben, weil sie mir auf Russisch erzählt wurde und ich auf Russisch Notizen gemacht hatte. Auch viele weitere Unterlagen waren auf Russisch, Schriften oder Dokumente. Aber mit der Zeit wollte der Text auf Deutsch sein. Das war nicht von Beginn an klar, es war ein Prozess.

Was hat der Ort, an dem du schreibst, mit der Entscheidung für eine Sprache zu tun?

Das ist genau mein Problem, ich weiß nicht recht, wo ich wohne. Ich suche nach diesem Ort. Man weiß nicht, ob es tatsächlich die Topografie ist oder die Sprache oder was auch immer, das einen bei der Entscheidung für eine Schriftsprache beeinflusst.

In Zukunft auf Russisch?

Was macht dieses Gefühl mit deinem Schreiben auf Deutsch?

Eine fremde Sprache ist wie ein freier Raum, es ist fiktiver. Vielleicht Esther ist ein Buch geworden, aber es ist zusammengenäht wie eine Patchworkdecke. Es hat sehr viel Mühe gekostet. Am Ende sieht man zwar das fertige Buch, man sieht aber nicht, dass vielleicht das ganze Leben lang daran gearbeitet wurde. Ich dachte, dass es nach dem Roman Vielleicht Esther für mich einfacher wird, auf Deutsch zu schreiben. Doch jetzt ist es so, dass die deutsche Sprache eher von mir abblättert. Ich glaube, das hat erstens mit dieser Über-Mühe zu tun, die ich beim Schreiben aufwenden muss und zweitens damit, dass die deutsche Sprache der Held dieses Buches war – und nun suche ich nach anderen Helden. Ich schreibe jetzt viel mehr auf Russisch. Das heißt, ich versuche es, aber ich habe auch kein richtiges Gefühl für die russische Sprache. Auf Russisch bin ich wilder, ich schreibe zum Beispiel ohne Narrativ. Ohne Punkt und Komma und ganz ohne Syntax, sehr lange Sätze. Ich dachte, man tobt sich auf Deutsch aus, in der anderen Sprache, aber eigentlich war es eher eine Reduktion.

Was entsteht da gerade auf Russisch?

Ich habe ein paar ganz kleine Geschichten geschrieben, auf Russisch, und es kam ein bisschen Englisch dazu. Eine fremde Sprache ist wie ein freier Raum, es ist fiktiver und man kennt das Gefühl, auf Englisch viel leichtsinniger zu sein, ohne diese schwere russische oder deutsche Last. Ich glaube, ich muss mich jetzt entscheiden, wo ich bin. Die Sachen, die ich auf Russisch geschrieben habe, haben etwas mit der Kindheit zu tun oder mit anderen Ländern, wo nicht Deutsch gesprochen wird. Das ist sehr komplex, aber es wird irgendwann eine Entscheidung für eine Sprache mit sich bringen – oder auch nicht!

Was bedeutet die Entscheidung für die eine oder andere Sprache?

Ich habe einfach auf meinen Rhythmus gehört. Es ist so eine kleine Entscheidung, ob du auf Deutsch oder Russisch schreibst. In manchen Momenten habe ich mich für das Deutsche entschieden und ich wusste, an diesem Text muss ich noch tausend Jahre arbeiten. Manchmal habe ich auch losgelassen und auf Russisch geschrieben. Natürlich ist das Deutsche zum jetzigen Zeitpunkt die pragmatischere Entscheidung, weil das alle von mir erwarten. Russisch ist jetzt viel mutiger: Auf Russisch zu schreiben würde für mich bedeuten, endlich wirklich zu schreiben.

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Beitragsbild: © Heike Steinweg
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Von Julia Krautstengel und Eva Schneider

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