Mit welchen Konservativen würden wir uns gern bei einem Glas Wein unterhalten? Das war die Ausgangsfrage für unsere kleine “Hall of Fame” des Konservatismus, mit der wir unsere Reihe zum Konservatismus fortführen.
Woran erkennt man „Konservative im besten Sinn des Worts“? Am dialektischen Denken: Sie erneuern, was sie bewahren wollen.

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Zu Lebzeiten wurde Hannah Arendt kaum je als Konservative wahrgenommen, denn ihre konkreten Inhalte waren häufig links bzw. wirkten auf den ersten Blick doch so.

Hannah Arendt war gegen:
  • das restaurative Deutschland Adenauers und dessen Persilscheine für die Täter
  • die rassistischen Gesetze in den Südstaaten der USA
  • Richard Nixon
  • den Vietnamkrieg
  • Menachem Begin
Sie hatte Sympathien für:
  • Rosa Luxemburg und räterepublikanische Ansätze
  • zivilen Ungehorsam
  • die 68er (nun ja: für deren gemäßigten Teil)

Als Daniel Cohn-Bendit, der Sohn enger Freunde, 1968 in Frankreich in Schwierigkeiten zu geraten schien – ihm drohte Ausweisung oder Schlimmeres –, bot Hannah Arendt ihm Geld an. Auch zu einigen Schriftstellern der Gruppe 47 – Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson – hatte sie ein herzliches, zugleich kritisches Verhältnis.

Das alles ist richtig und wir müssen es im Hinterkopf behalten. Das Faszinierende an Hannah Arendt ist aber, dass sie all diese Positionen aus einer konservativen Grundhaltung heraus entwickelt hat.

Das lässt sich an ihren Antworten auf drei Theoreme zeigen, die für die Linke im 20. Jahrhundert zentral waren.

1. „Das Private ist politisch und das Politische privat.“

Unfug!, so Hannah Arendt. Nichts ist in ihren Augen problematischer als diese Gleichsetzung. Das Private, das Intime, die Ausschließlichkeit, das alles hat privat zu bleiben. Mit Politik, mit dem Raum für Freiheit, mit dem Beginn von etwas Neuem haben private Vorlieben nicht das Geringste zu tun, und sie dürfen damit auch nichts zu tun haben. Es sei „ein Verhängnis“, die Liebe an den politischen Verhandlungstisch zu holen, so Arendt im Gespräch mit Günter Gaus.

Weder im Bereich des Privaten noch im Bereich des Gesellschaftlichen darf man Antidiskriminierung gesetzlich erzwingen. Gleichheit gibt es allein im Bereich des Politischen, dort allerdings ist sie zentral. Um diesen Aspekt, den Hannah Arendt vor allem in ihrem Aufsatz „Little Rock“ erläutert, macht die heutige Arendt-Rezeption einen großen Bogen. Arendt gesteht Rassisten und Antisemiten das Recht auf ihre private Meinung anstandslos zu, das liest man heute mit Befremden. Aber sie gesteht es ihnen eben nur als private Meinung zu.

2. „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen.“

Falsch, auf fatale Weise falsch!, so Arendt. Die Gewalt kommt aus den Gewehrläufen, aber nicht die Macht. Macht und Gewalt sind kategorial getrennt. Macht setze eine Gegenseitigkeit voraus, also Kommunikation, Gewalt werde einseitig ausgeübt. Macht beruht auf Zustimmung, und diese Zustimmung „ist niemals bedingungslos“ (MG).

3. „Gesellschaft ist der Grundbegriff, an dem sich alle politische Aktion auszurichten hat. Es  geht um kritische Gesellschaftsanalyse und um Gesellschaftsveränderung!“

Nein!, so Arendt. Natürlich bestreitet sie den massiven Einfluss nicht, den die Gesellschaft, gerade die Massengesellschaft, auf den Einzelnen ausübt. Die überbordende Macht der diffusen „Gesellschaftlichkeit“ deutet sie in der Tat sogar als wesentliches Moment der Moderne, in der alle traditionellen Zusammenhänge zerrissen sind. Gesellschaftliche Strömungen jedoch 1:1 als Kompass zu verwenden, heiße, dem Konformismus – „ein typisches Merkmal jeder Gesellschaft“ (VA) – Tür und Tor zu öffnen. Dies habe 1933 zu jener Gleichschaltung geführt, die ja überwiegend eine Selbstgleichschaltung gewesen sei: „Diese Gleichschaltung war keine von der Angst genährte Heuchelei, sondern der sehr früh an den Tag gelegte Eifer, ja nicht den Zug der Geschichte zu verpassen.“ (PV) Menschliche Freiheit, hier steht Arendt gegen alle progressiven Gesellschaftstheorien des 20. Jahrhunderts, vollziehe sich nicht im gesellschaftlichen Raum, sondern allein in der Sphäre der Politik. Im Politischen, und nur dort, fänden sich Menschen als Gleiche zusammen, um etwas Neues zu beginnen.

Der Verlust des Ariadnefadens

Hannah Arendt, und das macht sie als Konservative für die Postmoderne so anschlussfähig, hat übrigens mitnichten empfohlen, einfach irgendetwas ‚Gewachsenes‘ künstlich zu revitalisieren (sozusagen die ‚alte Zucht und Ordnung‘ als Korsettstange zu verwenden, wie es so viele Konservative tun, neulich Ulrich Greiner). Sie wusste, dass wer die Moderne vollzogen hat, „wirklich allein ist“. Orientierung kann einem, wenn man „ohne Geländer denkt“ (DF), tatsächlich nur noch ein Beharren auf grundsätzlichen moralischen Standards geben.

Denn Arendt weiß natürlich, dass wir (in Rilkes Worten) in der Moderne „nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt“. Auch sie betrauert den zerrissenen Ariadnefaden. Aber sie weiß, dass dieser Verlust endgültig ist. Und sie weiß, dass wir in Teufels Küche kommen, wenn wir auf die Moderne mit Konzepten reagieren, die die alte Wohlgeordnetheit künstlich wiederherstellen möchten, etwa per Volksgemeinschaft.

Urteilsschärfe

Sie war immun gegen allen völkischen Tinnef, nicht nur wegen ihrer Erfahrung als Jüdin in einer antisemitischen Gesellschaft, ihrer Erfahrung als „Paria“ (bekanntlich Arendts eigenes Wort), sondern vor allem wegen ihrer Urteilsschärfe. So schrieb sie 1947 (!) an Karl Jaspers:

„Woran mir liegen würde (…) wäre eine solche Änderung der Zustände, daß jeder frei wählen kann, wo er seine politische Verantwortlichkeit auszuüben gedenkt und in welchen kulturellen Zusammenhängen er sich am wohlsten fühlt. Damit endlich die Ahnenforschung hüben und drüben ein Ende hat. (…) Wenn ein Deutscher sagt, er möchte lieber Italiener sein oder vice versa und danach handelt, warum denn nicht?“

KJ, Arendt im Brief an Jaspers, 2. Juni 1947

Mit dieser Einsicht hat sie allen konservativen Ansätzen eine Absage erteilt, Sinn in irgendeiner Form ‚organisch‘ (rassisch, ethnisch, kulturell) zu begründen. Und so verstanden war sie dann doch links: eine linke Konservative.


Zitierte Schriften von Hannah Arendt:
  • Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 1982 ( VA)
  • Little Rock, in: Hannah Arendt, In der Gegenwart, Übungen im politischen Denken II. München 2000 (LR)
  • Persönliche Verantwortung in der Diktatur, in: Hannah Arendt, Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze, herausgegeben von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin 1991 (PV)
  • Macht und Gewalt, in: Hannah Arendt, In der Gegenwart (s.o.) (MG)
  • Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, in: Hannah Arendt, Ich will verstehen – Selbstauskünfte zu Leben und Werk. München 1996 (DF)
  • Briefwechsel mit Karl Jaspers, München 1991  (KJ)
Beitragsbild:
Ausschnitt aus Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt

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Von Hartmut Finkeldey

Jobber, Autor, Kolumnist

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