David Graeber ist Anthropologe und überzeugter Anarchist. Vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise war sein Buch Debt: The first 5000 Years (2011) seinerzeit auf große Resonanz gestoßen: Frank Schirrmacher bezeichnete es als „eine Befreiung“, seine begeisterte Besprechung in der FAZ trug erheblich zum Erfolg der 2012 erschienenen deutschen Ausgabe bei.

In seinem neuen Buch erkundet David Graeber nun die Bürokratie aus anthropologischer Sicht. Am Montagabend hat er Bürokratie: Die Utopie der Regeln im Gespräch mit Philip Grassmann, dem stellvertretenden Chefredakteur des Freitag, im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann vorgestellt.

graeber_3

David Graeber im Kulturkaufhaus Dussmann

Der heutigen Linken fehle es an Bürokratiekritik, so Graeber in seinem Buch:

Was als „gemäßigte“ linke Lösung für soziale Probleme jeglicher Art präsentiert wird – radikale linke Lösungen sind fast überall von vornherein ausgeschlossen – stellt eine alptraumhafte Verbindung der schlimmsten Elemente der Bürokratie mit den schlimmsten Elementen des Kapitalismus dar. Es ist, als habe jemand versucht, die am wenigsten anziehende politische Position zu formulieren.

Die gemäßigte Linke komme immer wieder in die Lage, unpopuläre „bürokratische“ Maßnahmen zu verfechten. Die neoliberale Rechte trete dagegen mit der Parole der „Deregulierung“ erfolgreich als Bürokratiekritiker auf. Dass die bürokratischen Kontrollmechanismen in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben, ist unbestritten. Paradoxerweise ist dies jedoch – so Graebers Pointe – nicht auf überbordende Staatsapparate zurückzuführen, sondern gerade auf den Abbau von Marktregulierungen in weiten Teilen der Welt:

„Das Eherne Gesetz des Liberalismus besagt: Jede Marktreform, jede Regierungsinitiative, die den Amtsschimmel bändigen und die Marktkräfte fördern will, resultiert in der Zunahme von Vorschriften, Verwaltungsarbeit und der vom Staat beschäftigten Bürokraten.“

Im Gespräch wies Graeber darauf hin, dass etwa in Russland die Gesamtzahl der Beamten seit 1991 um 25 Prozent gestiegen sei, in der Folge der marktliberalen Reformen nach dem Ende der Sowjetunion. Hinzu kämen noch einmal 500.000 zusätzliche Angestellte in Unternehmen, die ebenfalls mit Verwaltungsarbeit beschäftigt seien.

Staatliche und private Gewalt lassen sich dabei immer schwerer unterscheiden. Graeber untersucht diese Entwicklung in seinem Buch unter drei Aspekten:

  • Bürokratie und Gewalt
  • Bürokratie und Technologie
  • Bürokratie und Rationalität / Wert

Dass Graeber auf eine „Fundamentalkritik der Bürokratie“ (Philip Grassmann) abzielt, verwischt allerdings die Argumentation. Oft fehlt ein klarer Bezugsrahmen, denn Graeber operiert mit Beispielen aus verschiedenen Ländern und historischen Epochen, und es wird nicht immer deutlich, wie diese sich zueinander verhalten. So eröffnen sich weite Interpretationsspielräume.

Das zeigte sich bei der Präsentation unter anderem daran, dass Philip Grassmann in seiner deutschen Zusammenfassung des auf Englisch geführten Gesprächs immer wieder ein „in den USA“ einfließen ließ. Dadurch verlagerte sich der Schwerpunkt von Graebers unspezifisch geha9783608947526ltenen Ausführungen: Sie wurden als eine Kritik präsentiert, die zuallererst auf das US-amerikanische System zielt.

Im Detail bleibt das Buch überwiegend auf der anekdotischen Ebene. Sachaussagen, Zahlen und statistische Angaben werden oft ohne klar nachvollziehbare Quelle angeführt. Sie sind daher weniger Belege als vielmehr Beispiele und Illustrationen für eine anregende Erzählung, die allerdings nicht immer in sich schlüssig ist. Nichts geschieht aus Zufall: Die gesellschaftliche Entwicklung wird von den Interessen der Mächtigen vorangetrieben – das ist die Rationalität, die, laut David Graebers Narrativ, hinter allem steht.

Dieses Erklärungsprinzip leuchtet manchmal mehr ein – und manchmal weniger. Im Gespräch beklagt Graeber, dass es immer noch keine „Heilung für Krebs“ und keine fliegenden Autos gebe, dafür aber Prozac und virtuelle Realität. Solche Aussagen sind auf breiter Ebene zustimmungsfähig, doch nicht etwa, weil sie eine neue Einsicht vermitteln, sondern weil sie ein vorgegebenes Wahrnehmungsschema bestätigen.

Angaben zum Buch
David Graeber
Bürokratie: Die Utopie der Regeln
Aus dem Amerikanischen von Hans Freundl und Henning Dedekind
Klett-Cotta 2016 • 329 Seiten • 32,10 Euro
ISBN: 978-3-608-94752-6
Bei Amazon oder buecher.de
Bilder:
Headerbild (Fassade Deutsche Bank): Thomas Wolf, www.foto-tw.de (CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Foto David Graeber: Anselm Bühling
Coverbild: Klett-Cotta

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

3 Kommentare

  1. Falls ich die Kritik verstehe, ist sie methodisch ausgerichtet. Vorgeworfen wird vor allem ein mangelhafter Empirismus? Als Fundamentalkritik wäre jedoch keine empirische Studie relevant, sondern eine theoretische. In theoretischen Arbeiten sind das Anführen von Beispielen durchaus üblich, zumindest im englischsprachigen Raum. Dass es sich letztlich um ein anekdotenhaftes Sachbuch handeln soll, keineswegs um eine Theorie, könnte eventuell mit der Ausrichtung auf ein breites Publikum zusammenhängen. Vielleicht ist der Spagat zwischen fachlich relevanter Theorie und der Ausrichtung nicht ganz gelungen? Graeber behandelt Bürokratie meines Wissens global, derartiges ließe sich empirisch ohnehin nicht bewältigen, zumindest nicht in einem Buch.

    Antworten

  2. Ich kann v. a. nicht erkennen (aus Beschreibung und Kritik), worin die “anthropologische” Perspektive bestehen soll?

    Antworten

    1. Anselm Bühling 4. Mai 2016 um 19:22

      Ja, ich hätte es besser bei der Feststellung belassen sollen, dass Graeber Anthropologe ist. Denn es handelt sich ganz sicher nicht um ein wissenschaftliches Buch, eher um einen (sehr langen) Langessay.

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert