La Oculta, die Verborgene – so heißt die Finca der Familie Ángel, verborgen, weil sie sich inmitten der kolumbianischen Berge befindet, abgeschirmt durch Wälder, erst seit kurzem mit dem Auto erreichbar. Hier treffen sich seit Jahrzehnten die Geschwister Pilar, Eva und Antonio mit ihrer Mutter Ana, um Familienfeste zu feiern.

Früh an einem düsteren Wintermorgen klingelte bei mir in New York das Telefon. So früh rufen bloß Betrunkene an, die sich verwählt haben, oder jemand aus der Familie, mit einer schlechten Nachricht.

Antonios Vorahnung wird bestätigt. Seine Mutter, von ihm liebevoll Anita genannt, ist mit fast neunzig Jahren gestorben, auf der Finca in den kolumbianischen Bergen, die seit Generationen im Besitz der Familie ist. Der aus Spanien eingewanderte, wohl aus einer jüdischen Familie stammende Urahn hatte sich im kolumbianischen Unabhängigkeitskrieg anfangs des 19. Jahrhunderts auf die Seite der Freiheitskämpfer geschlagen, diese mit zahlreichen Waren beliefert und als Gegenleistung ein unwirtliches Stück Land erhalten.

Finca in Kolumbien

Nun müssen die Geschwister entscheiden, was mit La Oculta geschehen soll. Jeder der drei hat eine andere Beziehung zum Familienanwesen. In Rückblenden erzählen sie aus wechselnder Perspektive Ereignisse, die sich zu einem Gesamtbild zusammensetzen und tiefe Einblicke in die Geschichte Kolumbiens eröffnen.

Meinen Schwestern ist das alles egal, aber mir war es wichtig zu wissen, wie La Oculta einst entstanden ist.

Antonio hat viel Zeit in die Rekonstruktion der Geschichte der Familie und des Anwesens gesteckt. Es ist eine Geschichte von Gründergeist und Aufbruchsstimmung, aber auch von Gewalt. Eva schildert die Bedrohungen, Anschläge und Gewalttaten etwa der rechten Paramilitärs, deren Opfer sie selbst einmal fast geworden war. Eines Nachts wurde sie auf La Oculta überfallen, sie entkam nur knapp, indem sie durch den See auf dem Familienanwesen tauchte.

Ein Lichtstrahl glitt über meine Schulter, woraufhin ich sofort wieder untertauchte. Im selben Augenblick war ein Schuss zu hören. Um meine Verfolger zu verwirren, wandte ich mich nach links. Ich musste mich beeilen, durfte keine Sekunde verlieren.

Man spürt in Abads Roman La Oculta den Einfluss William Faulkners, insbesondere dessen legendäres Werk Schall und Wahn, in dem die Geschichte der Familie Compson von vier Geschwistern erzählt wird, in ineinander verschlungenen Rückblenden, was wiederum die Beziehungen der Geschwister untereinander sichtbar werden lässt. Ebenso verhält es sich in Héctor Abads Roman. Die Handlung gibt nur den Ausschlag für eine viel größere Erzählung – die Geschichte der Familie Ángel und des Landes. Der Leser lernt die Akteure kennen und bekommt ein Gefühl von ihren Eigenheiten, ihrer Werte, ihrer Sicht auf die Dinge. Im Gegensatz zu Faulkner verleiht Abad den drei Stimmen allerdings zu wenig Persönlichkeit, zu wenig eigene Sprache, daher mangelt es den Figuren an Authentizität.

Doch der  wahre  Protagonist des Romans ist ohnehin keines der drei Geschwister, sondern La Oculta selbst. Die Finca ist ein Sinnbild für das gesamte Land Kolumbien. Die drei Ich-Erzähler nehmen uns in eine Geschichte mit, die immer tiefer wird. An ihr wird die Geschichte des Landes von der Einwanderung der Spanier über den Unabhängigkeitskrieg und die immer wieder aufflammenden bewaffneten Konflikte erzählt, bis in die Gegenwart der Drogenbarone, Guerilleros und Paramilitärs. Kolumbien gilt weltweit als das Land mit den meisten Binnenvertriebenen: Über fünf Millionen Menschen sind vor Gewalt und Verfolgung geflohen; ihre Zahl nimmt jedes Jahr um etwa 200.000 zu.

Auch der Autor Héctor Abad zählt zu den Geflohenen. Nach seinem Studium in Italien kehrte er 1987 nach Kolumbien zurück;  als jedoch sein Vater ermordet wurde, ein bekannter Arzt und Menschenrechtler, sah sich Abad noch im gleichen Jahr gezwungen, das Land wieder zu verlassen. Seit 1992 lebt er wieder in Kolumbien, als Romancier und Journalist.

Héctor Abad

Héctor Abad

La Oculta ist der dritte Roman von Héctor Abad, der auf Deutsch erschienen ist, ein vielschichtiges und bewegendes Buch, das den Leser so schnell nicht los lässt. Antonio erforscht die Familiengeschichte zurück bis zu den ersten Ahnen auf dem Kontinent, vielleicht weil ihn sein schlechtes Gewissen darüber plagt, dass er der Familie keinen Nachkommen schenkt. Eva verkörpert das moderne Kolumbien, während Pilar in alten Traditionen und einem tiefen Katholizismus verwurzelt ist. Mit jedem Kapitel, jedem Wechsel der Perspektive wird man stärker in die Handlung hineingesogen: Die drei Ich-Erzähler nehmen uns in eine Geschichte mit, die immer tiefer wird.

Im Mai und Juni 2016 ist der Autor auf Lesereise in Deutschland und der Schweiz unterwegs.

Angaben zum Buch
Héctor Abad
La Oculta
Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Verlag 2016 · 352 Seiten · 25,00 Euro
ISBN-13: 978-3946334002
Bei Amazon oder buecher.de
Buchcover La Oculta
Bilder:
Hector Abad, by Daniela Abad Lombana, 23. August 2010, Quelle: Wikimedia. License CC BY-SA 3.0
Finca in Kolumbien, Quelle: Pixabay. License: CC0 Public Domain

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Von Sandro Abbate

Arbeitet als freier Autor und Texter. Er betreibt unter anderem den Literaturblog novelero.de. Veröffentlichungen u.a. in Freitag, junge Welt, Fixpoetry.

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