Sternzeit: 1897 bis 1910 – Prof. Dr. Math. sucht junge Frau

Trotz des Erfolges von Auf zwei Planeten wird Laßwitz schnell wieder vergessen, was unter anderem daran liegt, dass seine späteren Romane Aspira und Sternentau kaum an das Niveau seines Erstlings heranreichen. Deutlicher als im Frühwerk treten nun die Schwächen des Autors zutage. Vom Katheder herab doziert er über Kant, Schiller und Fechner, während seine Figuren zusehends verknöchern. Das Spätwerk handelt von Aliens, die fließend Kant zitieren, Wolken, die über Vernunft philosophieren, und Pflanzen, deren Dialoge sich um Zellbiologie und, naja, Bienchen und Blümchen drehen:

“Um Verzeihung,” sprach der Waldmeister, “aber ich höre, dass der Efeu noch nicht geblüht hat. Da scheint es mir doch nicht schicklich, in Gegenwart und unter Teilnahme solcher Kinder über derartige Themata wie Blühen und Fruchttragen zu sprechen.”
(Aus: Sternentau)

Wie die sprechenden Kräuter aus Sternentau zeigen, ist Laßwitz‘ Spätwerk deutlich von Gustav Theodor Fechner geprägt. Der Naturphilosoph Fechner vertritt die These, Pflanzen hätten ein Bewusstsein und Sprache. Offenbar erkennt Laßwitz die innere Verwandtschaft zu Fechner, dessen Werk – ebenso wie sein eigenes – manchmal ernst gemeint, häufiger aber als Satire zu verstehen ist. Fechner behauptet etwa, Engel seien lebendige Planeten, denn: Engel sind vollkommen, die einzig perfekte Form ist eine Kugel, Planeten wiederum stürzen als Bälle durchs All – ergo müssen Engel lebende Planeten sein.

Postkarte mit Motiven aus Science-Ficiton-Erzählungen von Kurd Laßwitzmotiven

Postkarte aus dem Jahre 1900: Der Nordpol ist die letzte Terra incognita des 19. Jahrhunderts. Erst im Jahr 1909 wird er von Edwin Peary entdeckt. Auch der Roman “Auf zwei Plantent” beginnt mit einem mutigen Ballonflug an den Pol.

Im Alter wird Laßwitz der Biograf und Verleger von Gustav Theodor Fechners, zusätzlich zu seinem Lehrberuf und der Schriftstellerei. Der mehrfachen Belastung scheint er jedoch nicht gewachsen zu sein. Bekannte berichten von cholerischen Anfällen, er klagt häufig über Mut- und Kraftlosigkeit und zieht sich immer mehr ins Private zurück. Das Schreiben gibt Laßwitz allerdings nie ganz auf. Als echter Vereinsmeier verfasst er nun Gedichte, Reden und Vorlesungen für die zahllosen Klubs, denen er zeit seines Lebens angehört:

  • Dintenfaß (literarischer Schülerverein)
  • Mathematische Gesellschaft Breslau
  • Mathematische Gesellschaft Berlin
  • Freundeskreis der Sternwarte Gotha
  • Mittwochsgesellschaften (literarischer Verein in Gotha: Vorsitz)
  • Kant-Kommission (Ehrenmitglied)

Neben der ausgedehnten Vereinstätigkeit hilft Laßwitz vor allem ein Hoffnungsschimmer über die Strapazen der letzten Lebensjahre hinweg: die schwärmerische Beziehung zu Hanna Brier, einer Cousine zweiten Grades. Die junge Frau verehrt den “berühmten Onkel”, korrigiert dessen Manuskripte und steht Patin für die selbstbewusste, liebreizende und lebenskluge Hauptfigur des Romans Sternentau. Die innige Beziehung kommt jedoch nie über eine Brieffreundschaft hinaus:

Ich bin im tiefsten eins mit Dir;
So eins auf dieser Welt
Dass, gingest Du einmal von mir,
Mein Lebenswille fällt.
Ja, blieb der Körper dann auch dort,
Und lieb hast Du auch ihn,
Die Seele zöge mit Dir fort,
Sie kann ohn´ Dich nicht blühn.
(Gedicht von Hanna Brier an Kurd Laßwitz. Aus: Über Kurd Laßwitz)

Am 17.10.1910 stirbt Kurd Laßwitz mit 62 Jahren überraschend an einer Blinddarmentzündung. Wie kein anderer vereinte der Visionär die Tugenden und Untugenden des Nerds in sich: Er war ein Streber und Pedant – und zugleich ein singulärer Geist, auf dessen Werk ein ganzes literarisches Genre aufbaut. Unsere heutige Welt würde Laßwitz kaum überraschen. Er hatte sie vorausgedacht.


Den Roman Auf zwei Planeten können Sie als E-Book (PDF, EPUB, Kindle) hier kostenlos herunterladen.

Eine HTML-Version des Romans finden Sie außerdem auf der Seite DigBib.org.

Sie wollen mehr über Kurd Laßwitz und die deutsche Science-Fiction erfahren? Der Essay Die Erfindung des Nerds hat auf tell eine Debatte zur Geschichte der Science-Fiction-Literatur angeregt. Die komplette Diskussion zwischen Hania Siebenpfeiffer und Johannes Spengler lesen Sie im folgenden Beitrag:

Kurd Laßwitz und die Geschichte der Science Fiction in Deutschland

Beitragsbild:
Quelle: paleofuture.com
License: CC (Public Domain)
Porträt Laßwitz:
Quelle: Forschungsbibliothek Gotha
License: CC (Public Domain)
Serie Hildebrands Schokolade:
Quelle: paleofuture.com
License: CC (Public Domain)

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Von Johannes Spengler

Studiert Angewandte Literaturwissenschaft in Berlin und arbeitet als freier Autor.

8 Kommentare

  1. Hania Siebenpfeiffer 29. August 2016 um 14:30

    Ein paar Anmerkungen am Rande:
    Das Handzeichen von Spock hat Laßwitz nicht erfunden, sondern umgedeutet. Es handelt sich um einen jüdischen Segensgruss, der auf dem hebräischen Zeichen “Shin” beruht. Der Clou bei Laßwitz liegt darin, dass er die humanistischen Marsianer mit diesem Zeichen identifiziert, ein versteckter Kommentar gegen den grassierenden Antisemitismus des Wilhelminischen Kaiserreichs.
    Mehrere der im Artikel als Erfindungen von Laßwitz herausgehobenen technischen Neuerungen (Fertiggerichte, Wasserschuhe etc.) stammen ebenfalls nicht von Laßwitz, sondern wurden aus Romanen des 18. Jahrhunderts adaptiert und an die technischen Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrunderts angepasst. Auch hier liegt die Leistung weniger in der Antizipation als in der Aktualisierung und Popularisierung. Die wirklich beeindruckende naturwissenschaftliche Erfindung von Laßwitz ist vielmehr das abarische Feld, dessen Existenz und Nutzen Laßwitz auf Grundlage von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie vorweggenommen hat (die physikalische Realität abarischer Felder bzw. abarischer Punkte wurde erst in den 20er Jahren von Heisenberg berechnet).
    In Bezug auf die Gattung der deutschsprachigen Science-Fiction ist Laßwitz weder Pionier noch Erfinder. Dieses Verdienst gebührt einem Thüringer Astronom namens Eberard Christian Kindermann, der 1744 mit “Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt …” die erste deutschsprachige SF-Erzählung veröffentlichte, die keine fremdsprachliche Vorlage adaptierte. Und wenn man wirklich an die Anfänge der Gattung zurückgeht, stößt man auf Johannes Keplers 1593 entworfene und postum 1634 veröffentlichte Erzählung “Somnium sive astronomia lunaris”.
    Erzähltechnisch ist bei Laßwitz überaus bemerkenswert, wie er das Problem des Erstkontakts löst. Die Tatsache, dass sich die Marsianer in “Auf zwei Planeten” bereits auf der Erde befinden, der Erstkontakt damit nicht von der Menschheit ausgeht und im Weltraum oder einem anderen Planeten stattfindet, ist tatsächlich originell, denn so kann die dafür notwendige Technik des Weltraumsflugs als marsianische Technologie imagniert werden, die für die fiktive marsianische Kultur plausibel sein muss, nicht aber für die irdische. Laßwitz hat sich dadurch sehr elegant aus der erzähltechnischen und für die SF konstitutiven Notwendigkeit befreit, einen nach irdischen Maßstäben des späten 19. Jahrhunderts plausiblen Weltraumflug der Menschheit zum Mars zu entwerfen. Seine irdischen Entdecker müssen es nur bis zum Nordpol schaffen, dessen tatsächliche Entdeckung Ende des 19. Jahrhunderts unmittelbar bevorstand. Und dass sie dazu mit einem Heißluftballon unterwegs sind, ist im Jahre 1897 ein alter Hut.
    Schließlich überwiegen die Unterschiede zwischen Wells und Laßwitz die wenigen motivische Gemeinsamkeit wie die marsianische Invasion (die übrigens ebenfalls weder von Wells noch von Laßwitz erfunden wurde, sondern von Maupassant). Die Unterschiede zwischen Wells und Laßwitz fallen besonders auf, wenn man nicht nur die Inhalte der beiden Romane, sondern die Art des Erzählens und miteinander vergleicht. Im Gegensatz zu Wells, der eine Parabel auf das kolonialistische Großbriannien geschrieben hat, versucht Laßwitz mit allen zur Verfügung stehenden erzählerischen Mitteln seine fiktiven sozialen und technischen Neuerungen plausibel zu machen, indem er sie aus dem Wissen des späten 19. Jahrhunderts heraus entwickelt. Deswegen dienen die teilweise ausuferndernden Dialoge zwischen Marsianern und Menschen auch dazu, alle Erfindungen genau zu erklären und ihre Glaubwürdigkeit zu begründen. Bei Wells hingegen werden die SF-typischen Neuerungen wie die marsianischen Raumschiffe, Waffen, Kommunikationsformen etc. überhaupt nicht erklärt, sondern sind einfach gesetzt. Der Fiktionalitätsgrad in Wells “War of the Worlds” ist damit deutlich höher als in “Auf zwei Planeten”; die literarische Gaubwürdigkeit bei Wells entsprechend deutlich geringer.

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    1. Johannes Spengler 29. August 2016 um 23:05

      Hervorragend, das sind ausgezeichnete Hintergrundinfos. Dass sowohl das Handzeichen der Marsianer in Auf zwei Planeten als auch Spocks Handgruß auf eine jüdische Tradition zurückgehen, ist ein toller Hinweis. In dem Werk von Kurd Laßwitz gibt es immer wieder Momente, in denen er sich versteckt oder sehr offen gegen die Wilhelminische Gesellschaft äußert. In seinem Tagebuch schreibt er sogar: “Die innere Politik Bismarcks wird immer widerwärtiger und unerträglich. Ich bin wieder ganz auf Seite der Fortschrittsparteien getreten.” (Aus: Über Kurd Laßwitz)
      Was das Alleinstellungsmerkmal von Kurd Laßwitz betrifft: Sicherlich gibt es literarische Vorgänger und Vorbilder. Im Jahr 1865, also zur Schulzeit von Kurd Laßwitz, erscheint etwa der Roman “Von der Erde zum Mond” von Jules Verne. Und wie Sie in Ihrem Kommentar schreiben, kann die literaturgeschichtliche Linie noch viel weiter gezogen werden.
      Es ist trotzdem nicht ganz willkürlich, den Roman Auf zwei Planeten als einen Ausgangspunkt für die deutsche Science-Fiction-Literatur zu setzen. Die Leistung von Laßwitz ist, dass er den wissenschaftlichen Hintergrund und die technische Imagination mit einer gesellschaftlichen Vision verbunden hat. Die Technologie ist hier kein bloßes Vehikel, um die Erzählung auf anderen Planeten zu situieren. Auch soll der Roman nicht allein dazu dienen, wissenschaftliche Überlegungen zu popularisieren. Stattdessen nutzt Laßwitz die Mittel der Science-Fiction, um eine alternative Gesellschaft zu denken, um durchzuspielen, welche Konsequenzen es hätte, wenn diese Technologie zur Verfügung stünde.
      Die einzelnen Motive von Auf zwei Planeten mögen Teil der Populärkultur seiner Zeit gewesen sein. In dem Roman werden sie allerdings zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt. Laßwitz hat damit zweifellos Schule gemacht. Auf zwei Planeten war zu seiner Zeit durchaus ein Erfolg und fand viele Nachahmer, wurde sogar plagiiert und später von Schriftstellern wie Arno Schmidt als Inspirationsquelle genannt.
      War Kurd Laßwitz ein Erfinder? Sehr gute Frage. Die Vielfalt der technischen Innovationen, die er beschreibt, ist durchaus beeindruckend. In Auf zwei Planeten imaginiert Laßwitz eine ganze Fülle von Maschinen, darunter Raumschiffe, Raumstationen, Häuser, die auf Schienen fahren, Schränke, die Kleidung automatisch sortieren und reinigen, oder Rolltreppen. Die Liste ist sehr lang. Es stimmt, dass Laßwitz dabei bereits vorhandene Ideen aufgegriffen hat. Allerdings beschreibt er diese Ideen bis ins Detail, geradeso als wolle er dazu aufrufen, diese Technologie nachzubauen. In diesem Sinne ist er durchaus ein Erfinder. Denn Laßwitz hat sich nicht mit damit zufriedengegeben, eine Raumstation bloß zu nennen – er liefert die Blaupause gleich mit.
      Über die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit von Krieg der Welten und Auf zwei Planeten ist bereits viel geschrieben worden. Ausführlich gegenübergestellt werden die beiden Werke unter anderem in dem Aufsatz: The Martians Are Coming! War, Peace, Love, and Scientific Progress in H.G. Wells’s “The War of the Worlds” and Kurd Laßwitz´s “Auf zwei Planeten” von Ingo Cornils. Dass es erzähltechnische und inhaltliche Unterschiede zwischen den Werken gibt, steht außer Frage. Trotzdem haben sich Wells und Laßwitz mit derselben Frage beschäftigt: Wie könnte der erste Kontakt zwischen der Menschheit und den Marsianern verlaufen? Allerdings haben sie unter umgekehrten Vorzeichen geschrieben: Krieg der Welten ist eine Dystopie. In Auf zwei Planeten kippt die Utopie erst im Verlauf des Romans, um sich später in eine Dystopie zu verwandeln. Gerade im zweiten Teil von Auf zwei Planeten fallen die im Text genannten Ähnlichkeiten deutlich auf.
      Wie kann man erklären, dass zwei Autoren unabhängig voneinander dasselbe Szenario durchspielen? Es handelt sich hierbei nicht um einen bloßen Zufall der Literaturgeschichte. Wahrscheinlich wurden sowohl Laßwitz als auch H.G. Wells von der Entdeckung der sogenannten “Marskanäle” inspiriert, einer auffälligen Linienstruktur an der Oberfläche des Mars. Der Astronom Giovanni Schiaparelli hat diese Linien im Jahr 1877 erstmals beschrieben. Tatsächlich sind sie bloß eine optische Täuschung. Ende des 19. Jahrhunderts führten diese Marskanäle jedoch zu wilden Spekulationen darüber, ob der Mars bewohnt ist. Laßwitz und Wells haben dieses Phänomen aus der Populärkultur aufgegriffen.

  2. Hania Siebenpfeiffer 30. August 2016 um 17:50

    Eine ausführliche und in vielen Punkten stimmige Replik — vielen Dank dafür –, bei der jedoch ein Moment unberührt bliebt, nämlich die fehlenden Bezüge zur SF des 17. und mehr noch des 18. Jahrhunderts. Das ist ein generelles Manko der SF-Forschung/ SF-Kritik, egal ob in Deutschland (in den Kinderschuhen) oder in Frankreich (schon weiter gediehen) oder im angelsächsischen Raum (wie immer bei populären Greres auch hier Vorreiter): Die Kenntnisse der älteren SF-Literatur, also derjenigen Erzählungen und Romane, die vor 1800 verfasst wurden, ist heutzutage minimal, was dazu führt, dass Motive, Themen bis hin zu narrativen Strukturen als Erfindungen bzw. Innovationen von Autor/innen des 19. Jahrhunderts ausgegeben werden, die seit mehr als 100 Jahren bekannt waren. Im 19. Jahrhundert kannte man diese Texte noch. Laßwitz z.B. hatte Kindermann gelesen, er wusste also wie eine Blaupause zum Bau eines Luftschiffs in einen literarischen Text integriert werden kann. Er kannte auch Geiger, d.h. er wusste, wie der Besuch eines Marsianers auf der Erde gestaltet werden konnte (oder besser nicht gestaltet werden sollte) und er kannte natürlich die utopische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Auch die vermeintliche Koinzidenz bei Wells und Laßwitz ist nicht wirklich überraschend, denn Szenarien einer Kolonialisierung der Erde durch den Mars, des Mars durch die Erde oder auch gegenseitig wurde zwischen 1880 und 1910 in rund 25 tw. überaus erfolgreichen Romanen und Erzählungen durchgespielt (mehrere wurden später verfilmt). Ich will die Leistung von “Auf zwei Planeten” damit nicht schmälern, sie liegt nur nicht so sehr in der Erfindung von Neuem (auch wenn Laßwitz tatsächlich eine Vielzahl technischer Geräte antizipiert), sondern in der ästhetsichen, medialen und politischen Aktualisierung eines bereits etablierten Genres. Und das ist Laßwitz wirklich ausgesprochen gut gelungen.

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  3. “Auf zwei Planeten” von Kurd Laßwitz ist ohne Frage der bedeutendste deutsche Science-Fiction-Roman des Kaiserreichs, der erheblichen Einfluss auf die spätere deutschsprachige Science-Fiction genommen hat. Darüber hinaus halte ich auch die ständig gegen Laßwitz geäußerten Pejorative in literarischer Hinsicht (“geschwätzig”, “langatmig”, “klischeehaft”) für überzogen. Sprachlich ist der Roman angenehm ausgefeilt, und Laßwitz’ angeblich zu flachen Figuren sind weitaus detaillierter ausgefeilt als beispielsweise in Wells’ “Krieg der Welten”.
    Die Kommentare von Hania Siebenpfeiffer enthalten eine Menge interessanter Aspekte, sind meines Erachtens aber doch in einigen Punkten zu relativieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und vereinzelte Beispiele aus der utopischen bzw. fantastischen Literatur des 18. und 17. Jahrhunderts begründet noch kein zusammenhängendes, literarisches Genre. Die Versuche der Grenzziehung des Begriffs “Science-Fiction” sind fast so alt wie das Genre selbst, und die Meinungen darüber gehen bis heute stark auseinander. Der SF-Forscher Darko Suvin beispielsweise wollte den Genrebegriff in den 1970er-Jahren sogar bis hin zu den mythisch-sagenhaften Erzählungen der Antike ausweiten, worin ihm praktisch kaum jemand gefolgt ist.
    Ende des 19. Jahrhunderts jedoch begann das Genre der Science-Fiction, sich klar und deutlich auszuformen (auch wenn es erst Ende der 1920er-Jahre seine Benennung erhielt), wobei die Industrialisierung und die gewaltigen Erfolge der Wissenschaften und Ingenieurskünste einen erheblichen Einfluss ausgeübt haben. Und Laßwitz und Wells haben im Zuge dieser Entwicklung ganz erheblichen Einfluss ausgeübt, der innerhalb des Genres bis heute spürbar geblieben ist. Diese Leistung mit Hinweisen auf Kindermann oder Kepler zu relativieren, geht insofern am Kern der Sache völlig vorbei.
    Auch ist die Behauptung falsch, Guy de Maupassant hätte als erster eine Alien-Invasion erzählt — das waren in der Tat H. G. Wells und Kurd Laßwitz. In Maupassants Erzählung “L’Homme de Mars” (1889) erscheint zwar ein einzelner Marsianer auf der Erde und erzählt davon, wie (möglicherweise sein eigenes) kugelförmiges, geflügeltes Schiff voller Marsianer im Meer versunken sei, doch ist das alles andere als eine feindliche Invasion. Insofern ist es auch nichts mit angeblich 25 Marsromanen, die seit 1880 Laßwitz und Wells vorausgegangen seien und “Szenarien einer Kolonisierung der Erde durch den Mars” durchgespielt hätten. Das ist schlichtweg falsch. Es gab zahlreiche Marsromane, das stimmt — allerdings reisten in ihnen bis 1897 stets Menschen auf den Mars und nicht umgekehrt (von vereinzelten, zum Teil erwähnten Ausnahmen abgesehen).

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    1. Hania Siebenpfeiffer 10. Oktober 2017 um 11:15

      Da muss ich leider an mehreren Stellen wiedersprechen.

      Zunächst ist der Besuch aus dem All auf der Erde eine Erfindung des frühen 18. und nicht des späten 19. Jahrhunderts; erste Spekulationen darüber finden sich in naturphilosophischen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts bpsw. in Fontenelles “Entretiens sur la pluralité de mondes” oder in Huygens “Cosmotheoros”.

      Dann stammt die systematische Datierung in die Antike nicht von Darko Suvin, sondern von Pierre Versins, von dem Suvin sie aufgreift und diskutiert, wobei er selbst eine Datierung auf die Neuzeit favorisiert. Der einzige antike Text, der im Kontext von Gattungsanfängen auch bei Suvin ernsthafter diskutiert wird, sind Lukians “Verae historiae”/”Alethe diegemata”. Entsprechend liegt das Problem bei Suvins Gattungsdefinition nicht in der zeitlichen Datierung, sondern in einem umfassenden Anspruch, mit “cognitive estrangement” eine Großgattung definiert zu haben, die nur noch die Differenz SF und Non-SF kennt. Weder Versins Datierung in das 2. Jh. v. Chr. noch Suvins umfassende SF-Defintion sind in Deutschland sonderlich erfolgreich gewesen, was auch daran liegt, dass es im deutschsprachigen Raum kaum eine substantielle Forschung zur SF als Gattung der Frühen Neuzeit gibt; die Diskussionen sich im parawissenschaftlichen Raum von Fanzines und Literaturkritiken bewegen (eine rühmliche Ausnahme ist Roland Innerhofer).

      Schaut man – was in der Frühen Neuzeit auf Grund einer noch nicht ausgebildeten Nationalliteratur nicht anders zu machen ist – über den Tellerrand der deutschsprachigen Literatur auf das literarische Feld in Westeuropa zwischen 1600 und 1770, so finden sich rund 100 Erzählungen und Romane, die in motivischer, thematischer und narrativer Hinsicht zur SF zählen und zwar relativ unabhängig davon, ob man SF mit Marc Angenot semiotisch, mit Umberto Eco narratologisch, mit Damien Broderick motivisch oder mit meinen eigenen Publikationen wissenshistorisch definiert. Deswegen ist die Gattungsdatierung auf 1600 sowohl in der historisch wie in der systematisch arbeitenden aktuellen Literaturwissenschaft inzwischen relativ fraglos akzeptiert.

      Und als letztes der Hinweis, dass sich die Romane/Erzählungen zum literarischen Mars der klassischen Moderne bereits mit einer einfachen Suche im Katalog der Staatsbibliothek Berlin finden lassen. Sie sind nur die berühmte Spitze des Eisbergs; die unselbstständigen Publikationen, d.h. die Erzählungen und Fortsetzungsromane, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ausschließlich in Magazinen erschienen sind, sind noch nicht eingerechnet. Tatsächlich ist der Mars seit der Diskussion um die so genannten Marskanäle in den 1880er Jahren – nach ihrem ‘Entdecker’ auch Schiaparelli-Kanäle genannt – der am stärksten ‘bearbeitete’ Planet in der europäischen und us-amerikanischen Populärkultur; v.a. natürlich in der Literatur und im Film.

  4. Lutz Schridde 3. April 2020 um 8:39

    2020, April

    Darf ich mal fragen, welche SF-Autoren wie Lasswitz explizit Kantianer gewesen sind?
    Daneben habe ich die Frage, ob noch andere Autoren ihre Ausserirdischen explizit in eine bestimmte Umweltbeziehung setzten. Wells liess seine Invasoren an irdischer Umwelt biologisch scheitern.

    Hierzu moechte ich notieren, dass der Sohn eines tschechischen Einwanderers in den USA schon frueh die PANTROPIE in der SF vorstellte, das war Clifford D. Simak. Oft vermute ich, dass er Lasswitz gelesen hat oder von ihm gewusst hat, denn er war im Genre gut orientiert.
    Insoweit gewichte ich Kepler gerne als Pionier der kopernikanischen SF, der vielleicht Lasswitz als einziger Deutscher zustimmte. In den USA notiere ich Simak insbesondere mit seinem Roman “Ring around the sun” als kopernikanisch, mit besonderer Note, denn 1952 war kalter Krieg.

    (Mit besten Gruessen aus China, verzeihen Sie bitte, dass ich vielleicht verzoegert antworten werde.)

    Antworten

  5. Lutz Schridde 6. Februar 2021 um 6:25

    Nachtrag vom Februar 2021

    Keplers ‘Somnium’ wird von der Historikerin Ulinka Rublack in ihrem Buch “Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit” (EA 2015, deutsch 2018, auch inzwischen in Chinesisch) im biografischen Kontext dargestellt (Konzept der ‘micro-history’). Kepler starb an einer Erkrankung, die er sich auf dem Weg zu Wallenstein zugezogen hatte – er wollte ‘Somnium’ persönlich übergeben.

    Lasswitz’ Biografie fällt in die Zeit des Antimodernismus, wie auch die SF des Sinalco-Unternehmers und Lebensreformers Bilz (siehe zzt Wiederveröffentlichung von “Naturstaat”), und ich erlaube mir den Hinweis auf den von Zeit zu Zeit eskalierenden Populismus, mit dem seinerzeit Lasswitz’ Ansatz der Wissenschaftspublizistik kontrastiert. Gerade heute gibt es weitere Eskalationen, wie bedauerlich. Man kann sich freilich bei kultivierten Wissenschaftsblogs wie zB scilogs aufmuntern.

    In diesem Zusammenhang favorisiere ich nochmals die Frage nach ‘kopernikanischer’ SF, die ich im Kontext antimodernistischer Eskalation betrachte, die ihrerseits ins ältere Mittelalter zurückführt. Lasswitz stünde demnach in einer Tradition der ‘Subjektivierung’ von Zeit, die im 13. Jhdt. klerikal denunziert wurde.

    In der gegenwärtigen SF ist es das Terminator-Franchise, das daraus Profit schlägt und dieses uralte Thema der ‘Singularität’ (also die These der Unreife für die eigene Schöpfung) in ‘juveniles’ belässt. Neulich las ist L. Frank Baums Roman “The Master Key” (gewidmet seinem 15-jährigen Sohn) von 1901, wo dieses Thema noch ohne Genre “SF” funktionierte. In STAR TREK: Next Generation wird das Prinzip “Tapferkeit trotz mangelnder Erfahrung” recht ordentlich aufgefächert.

    Ich plädiere somit mindestens für ein ‘Subgenre’ in der SF, das als Leitthema die wissenschaftliche Ermündigung des Lesers hätte. Dieses Subgenre könnte man historisch betrachten und mit einem weiteren literarischen ‘Subgenre’ abgleichen, nämlich mit ‘Wissenschaftsgeschichtsschreibung’. Beide Subgenres differenzieren sich in ihren beiden Genres offenbar aus. Im kalten Krieg hatte Clifford D. Simak mit “Ring around the sun” vorgeführt, wie im ländlichen Hinterland historisches Interesse populär gewesen ist, dort im Roman erscheinen Leser von Geschichtsliteratur.

    Bis heute ist das gleichzeitige Interesse an beiden Genres bei einigen Lesern auch mit Betonung beider ‘Subgenres’ gleichzeitig lebendig.
    Die Leitfrage wäre: Sind wir reif für unsere eigene Geschichte?

    Mit Grüßen aus China. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich verzögert antworte.

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  6. Lutz Schridde 9. Dezember 2022 um 7:02

    Nachtrag zu ‘kopernikanischer Science Fiction’:
    Klaus Christian Koehnke, “Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitaetsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus”(Dissertation 1985, Freie Universitaet Berlin)Suhrkamp TB Wissenschaft 1087, FaM 1986.
    Diese akademische Arbeit hilft, die ‘kantianische’ Seite von Lasswitz im historischen Kontext zu betrachten. Meines Erachtens folgte Lasswitz dem damaligen Trend, die Kant-Rezeption dem damaligen Wissenschaftsgeist unterzuordnen statt umgekehrt. Ich bin hier kein Spezialist, doch soweit ich Koehnke nutzen kann, erscheint Lasswitz vorzugsweise als Wissenschaftspublizist ohne kopernikanische Pointe.
    Hingegen fuehrte mich eine tiefere Betrachtung der SF von Clifford D. Simak zu lokalen Internetseiten in Wisconsin (dort aufgewachsen) und zu seinem Arbeitsplatz in Minneapolis (auch die PEANUTS kommen von dort) zu dessen Wissenschaftspublizistik. Der kopernikanische Aspekt wanderte in dieser Region ueber die Transzendentalisten ein, das sind besondere Autoren wie Emerson oder Thoreau, die ihren damaligen republikanischen Sinn von Kant herleiteten. Bei http://www.gutenberg.org sind Originaltexte und historische Sekundaertexte dazu. Der Verleger August Derleth (Arkham House, Wisconsin) ist fuer die amerikanische SF und Regionalliteratur (“Walden 2”) ein markantes Beispiel, diesen Transzendentalismus mit SF zu verbinden, und ich gehe dem gerne nach. Simak und Derleth kannten sich natuerlich.
    Die kopernikanische Pointe bei Kant, wonach wir nicht das (gute) Zentrum im Universum sind und unsere Vernunft uns in genialen Einklang mit Natur bringen koennte, wenn wir nur wollten, ist bei den amerikanischen Transzendentalisten noch spuerbar, jedoch nicht bei Lasswitz. Dessen Gewinn fuer SF, sofern man danach sucht, ist das immense Beispiel, mit SF die Wissenschaft und Ingenieurskunst zu popularisieren. Mit Kant: ‘antizipative’ Literatur.
    So suche ich nun weiter nach transzendentalistischer Science Fiction, die sozusagen ‘Vernunft’ zu popularisieren haette. Ich moechte mit Blick auf August Derleth inzwischen annehmen, dass die Verbindung von Space Opera und Phantastik dazu taugen koennte (Simak hat seine Space Operas sukzessive kosmisch ausgestaltet, besonders den Gedanken einer Bruderschaft der kosmischen Intelligenzen). Derleth wandte sich Lovecraft zu und schrieb regionale Literatur ausserdem. Auf mich wirkt sein Beispiel bestaerkend, was die definite Betrachtung und Fragestellung betrifft.
    Lasswitz fuer einen Transzendentalisten wie Emerson oder Thoreau zu nehmen, halte ich nun fuer irrefuehrend. Stattdessen stelle ich ihn in meinem Regal lieber neben Arthur C. Clarke, also neben einen antikolonialen Wissenschaftsoptimisten. ‘Typisch deutsch’ waere vielleicht die belehrende Art gegenueber dem Leser – anders als Clarke.

    Lutz Schridde, China.
    Bitte verzeihen Sie langsame Antworten meinerseits.

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